Was bleibt von einem Menschenleben? - Papier zumeist. Ein paar Einträge in Melderegistern. Vielleicht ein paar Briefe an Verwandte. Ein paar Beurteilungen und Stellungnahmen, wenn derjenige eine etwas wichtigere Rolle in Verbänden, Vereinen, Parteien spielte. Ergibt das ein Bild? - Im Fall von Jan Jolles sogar ein dickes Buch. Aber: Wer war Jan Jolles?

Walter Thys, der 2000 den viel beachteten Band mit Briefen und Dokumenten über den Sprachwissenschaftler André Jolles herausgegeben hat, stolperte bei seiner akribischen Quellensuche natürlich auch über den Sohn des Niederländers, der nach dem 1. Weltkrieg Professor für flämische sowie niederländische Sprache und Literatur an der Universität Leipzig geworden war. Jolles hat innerhalb der Literaturwissenschaft noch heute einen Ruf. 1930 erschien sein Hauptwerk “Einfache Formen”, in dem er eine Typologie mündlicher Erzählformen wie Mythen, Sagen, Legenden, Märchen, Rätsel, Sprüche, Witz erläutert. Immerhin die Materie, mit der Menschen ihre gesellschaftlichen Erzählungen weben.

Ansonsten war André Jolles ein eher unnahbarer Mensch, wie denn auch seine Kinder erfahren mussten, halb Bohémien, halb Karrierist. Im 1. Weltkrieg – obwohl Niederländer – meldete er sich freiwillig zur Armee, wurde damit eingebürgert und handelte sich logischerweise in seinem Herkunftsland Ärger ein: 1924 scheiterte eine Bewerbung an der Universität Leiden, weil man dort “Ausländer” nicht auf den Niederlandistik-Lehrstuhl berufen wollte. Aber auch mit dem Nachbarland Belgien hatte er es sich verscherzt – als Offizier der deutschen Besatzungstruppen hatte er 1916 die Professur für Archäologie und Kunstgeschichte an der Universität Gent übernommen.

“Am 1. Mai 1933 trat er der NSDAP bei, wodurch er sich Freunden und seinen Kindern aus der ersten Ehe entfremdet”, schreibt die Wikipedia zum nächsten kritischen Kapitel im Leben des Mannes. “So war Jeltje mit einem jüdischen Ingenieur verheiratet; Jan Andries war als Kommunist gezwungen, ins Exil zu gehen. 1937 trat Jolles dem SD bei …” Ein Abschnitt, der gleich mehrere Fehler aufweist. Hier hat der Wikipedia-Autor einfach geschrieben, wie er dachte, dass es richtig zusammenpasst.Denn die Entfremdung von den Kindern aus seiner ersten Ehe passierte schon 1916, als Jolles nach Gent ging und seine erste Ehefrau Mathilde Jolles-Mönckeberg mit den fünf Kindern nach Hamburg zog. Was natürlich ein Stichwort für Hamburg-Freunde ist: Denn Johann Georg Mönckeberg war einer der beliebtesten Hamburger Bürgermeister, 1909 – ein Jahr nach seinem Tod – wurde die Mönckebergstraße nach ihm benannt. Und Mathilde war eine seiner fünf Töchter.

So wie Walter Thys in seinem André-Jolles-Band über 1.400 Briefe des Leipziger Professors sammelte, so ist auch sein Buch über den 1906 geborenen Sohn Jan Andries eine Dokumentensammlung. Womit man beim zweiten Fehler im Wikipedia-Zitat wäre: Jan Jolles verließ Deutschland schon 1924. Er ging nicht wegen der NS-Diktatur ins Exil, sondern freiwillig, möglicherweise tatsächlich mit der Absicht, von Anfang an in einer kommunistischen Partei Südamerikas Karriere zu machen.

Sein Leben ist deutlich schlechter dokumentiert als das seines Vaters. Es gibt große Lücken in den überlieferten Briefen. Und besonders schlecht dokumentiert ist – traurigerweise – seine Leipziger Zeit. Denn 1918 wechselt Jan gemeinsam mit seiner drei Jahre älteren Schwester Jeltje in den Haushalt des Vaters in Leipzig. Ein paar Zitate aus Briefen der Mutter deuten durchaus darauf hin, dass André Jolles alles andere war als ein fürsorgender Vater. Jan besuchte zwar das Gymnasium, ging aber vorzeitig ab, um auf eigene Faust einen handwerklichen Beruf zu lernen. Am Ende machte er eine Buchbinderausbildung, wo er – wie seine Mutter später rekapituliert – mit nicht gerade vertrauenswürdigen Elementen in Berührung kam. Vielleicht auch mit der Leipziger KPD.

Hier würde es eigentlich spannend werden, denn als Jan Jolles 1924 nach Amsterdam aufbricht, scheint seine Begeisterung für die seltsame Welt der Kommunisten schon ausgeprägt gewesen zu sein. Was so gesehen erst einmal nichts Außergewöhnliches ist für die Zeit – auch wenn es für den Sohn eines bürgerlichen Intellektuellen durchaus ein ungewöhnlicher Weg war.

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Aber da hier die nötigen Dokumente fehlen, bleibt das größte Warum über diesem Leben bis zuletzt unbeantwortet. Auch die Texte, die Jan Jolles selber schrieb, erklären diesen Werdegang nicht. Überdauert hat das Fragment eines Romans, das später seine Mutter aus dem Portugiesischen übersetzte, und in dem der ganze Lebenszwiespalt von Jan Jolles sichtbar wird zwischen der romantischen Schwärmerei eines Sohnes aus bürgerlichem Hause und dem genauso romantischen Heroismus des stalinschen Funktionärs-Kommunismus.

Thys ist sich sicher, dass mit der Wiederentdeckung von Jan Jolles auch eine nicht unbedeutende Führungsgestalt der südamerikanischen Linken-Bewegung gewürdigt wird. Immerhin war Jolles in verschiedenen Führungsfunktionen südamerikanischer KPs zu finden, war auch 1934/1935 augenscheinlich mit eingebunden in die Vorbereitung des Putsches, der den Kommunisten Luis Carlos Prestes in Argentinien an die Macht bringen sollte.

In Deutschland bekannt ist Prestes’ Ehefrau Olga Benario Prestes, die nach Scheitern des Putsches gemeinsam mit ihrem Ehemann verhaftet wurde. Doch während Prestes in Argentinien blieb und überlebte, wurde Olga Benario an Deutschland ausgeliefert und starb im KZ.

Immer wieder begegnet man in diesem Band Protokollen, in denen auch die diversen Intrigen zwischen einzelnen KP-Akteuren und auch die Versuche Moskaus, die Vorgänge in Lateinamerika fernzusteuern, sichtbar werden. Nach seiner Verhaftung 1931 und der Verschiffung nach Deutschland 1933, droht Jolles zwar die Verhaftung durch die Nazis. Aber denen scheint der KP-Mann aus Südamerika in diesem Moment noch ziemlich schnuppe, so dass Jolles – mit gefälschtem spanischen Pass – nach Moskau weiterreisen kann, wo er sich neue Instruktionen besorgt.Die in Moskauer Archiven gefundenen Protokolle zeigen aber auch, wie die Funktionäre einander misstrauten, wie das krankhafte stalinsche Wittern von Feinden und Kollaborateuren all diese Weltrevolutionäre schon damals in eine Paranoia der Angst, der Selbstbezichtigung und der strikten Botmäßigkeit trieb. Mit dem Abstand der Jahrzehnte ein durchaus irritierender Vorgang, wie sich einer da trotzdem als “Soldat der Weltrevolution” begreifen konnte. Das setzte sich selbst bis ins Privatleben des jungen Funktionärs fort, der augenscheinlich immer dann, wenn seine kommunistische Funktionärs- und Rednerarbeit bekannt wurde, seine Arbeit und sein Auskommen verlor und eigentlich sein Leben lang darbte.

1927 heiratete er Maria Banegas Herrera, hatte zwei Söhne mit ihr und schwärmte in Briefen davon, dass von Liebe zwar keine Rede sein könne, dass sie aber ein toller Kamerad sei. Als er sie 1934 wegen einer neuen Liebe verließ, war mit dem Kameraden-Schmus augenscheinlich Schluss. Er verließ sie einfach, kümmerte sich auch nicht mehr um seine Söhne.

1942 starb er – genauso arm wie all die Jahre zuvor – nach einer Magen- und Darmoperation. Gerade die Texte aus der Hinterlassenschaft seiner Mutter zeigen, wie zerrissen sein Leben war und wie stark seine Anhänglichkeit an seine Mutter zeitlebens blieb. Sie übersetzte nicht nur das Fragment seines Romans, in dem er zumindest versucht, sein Leben als Funktionär zu heroisieren. Sie schrieb auch durchaus ergreifende Erinnerungen an ihren Sohn, mit denen sie ihren Enkeln den verstorbenen Vater lebendig erhalten wollte.

Walter Thys hat – gerade durch den Kontakt zu Jans Nachkommen – viele Texte sammeln können, die von ihm ein Bild zeichnen, wie es Lexika und Parteiarchive nicht zeichnen können. Gerade die Fülle dieses Materials macht deutlich, wo tatsächlich Fragen offen bleiben mussten. Denn natürlich berichtete Jan in seinen Briefen an Mutter und Schwester nicht über seine Parteiarbeit. Wie wichtig war er tatsächlich im Moskauer Ränkespiel in Südamerika?

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Vom Wandervogel zum
“Compañero”

Walter Thys, Mitteldeutscher Leipziger Uni-Verlag 2012, 34,00 Euro

Oder wäre sein Leben nicht eher der Stoff für einen mitreißenden Roman von Isabel Allende, in dem sich das alles mischt: die Revolutions-Romantik mit der (falschen) Liebe, dem armen aber intensiven Leben in den Armenvierteln der Großstädte, der Liebe zur Literatur und der gebildeten Persönlichkeit des Helden, der mitten in einigen der politischen Brennpunkte des Kontinents auftaucht – und trotzdem aus dem Spiel genommen wird, wenn es ernst wird.

Es liest sich genau so. Müsste sich eigentlich nur noch eine begnadete Autorin finden, die aus diesem Stoff wirklich einen Roman machen könnte. Der ist dann zwar nicht logisch und endet auch nicht mit einem Happyend in irgendeiner politischen Version. Aber es wäre ein Roman über ein richtiges Leben – mit seinen Irrtümern, Träumen und Fehlstellen.

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