Mitteldeutschland befindet sich mitten in der Luther-Dekade. 2012 ist das Jahr der Musik. 2017 jährt sich Luthers Thesenanschlag zum 500. Mal. Und die Evangelische Verlagsanstalt hat ein Heft-Projekt gestartet, das im Mai 2011 mit Nürnberg startete und den Verlag auf Jahre beschäftigen wird: Orte der Reformation. Das wichtigste Heft liegt jetzt mit "Wittenberg" vor.
Über 90 Seiten, auf denen die kleine Stadt “am Rande der Welt” vorgestellt wird, in der Kurfürst Friedrich der Weise 1502 eine Universität gründete, weil den Ernestinern durch die Leipziger Teilung 1485 der Zugriff auf eine eigene Universität – nämlich die Leipziger – genommen war. Und das in einer Zeit, die man im Nachhinein nur als Präludium der Aufklärung bezeichnen kann. Ein ganzer Kontinent erwachte, technische Neuerungen und Erfindungen veränderten das Leben, der gutenbergsche Buchdruck veränderte auch die Medienwelt. Revolutionär, wie es mancher Historiker ausdrückte, bevor die heutige Welt in die Internet-Faszination verfiel.
Wer die modernen Entwicklungen mitmachen wollte, besorgte sich das hochgebildete Personal. Und Friedrich III. war nicht nur weise (weil er kriegerische Lösungen verachtete wie kein anderer Fürst in seiner Zeit – und die Fürsten der Gegenwart könnten von ihm wohl auch eine Menge lernen), er war auch vorausschauend und schuf mit der Wittenberger Universität eine Einrichtung, die sich binnen weniger Jahre zur rührigsten und gefragtesten Universität im deutschsprachigen Raum entwickelt. Da sah auch die Leipziger Universität ein paar Generationen lang blass aus. Und es gibt ein paar Texte in diesem Heft, die durchblicken lassen, dass es eigentlich fast zwangsläufig war, dass die Reformation von dieser Universität ausging.Martin Luther ist nur die Persönlichkeit, die diese Entwicklung in Gang setzte und das Format ausfüllte, das einer brauchte, in diesem historischen Moment die erstarrten alten Denkgebäude zu stürzen. Denn darum ging es, auch wenn die Geschichte – auch in diesem Heft – so gern auf den Glauben reduziert wird und es auch zwei freundliche Beiträge zur christlichen Ökumene gibt. Die eigentliche Ökumene, die Luther und seine Freunde in Wittenberg begründet haben, ist nicht die Ökumene des Glaubens, sondern die des freien Denkens.
Der Geniestreich Luthers war ja nicht, dass er über die Ablass-Methoden des Papstes herzog. Sein Geniestreich war, dass er die komplette kirchliche Hierarchie in Frage stellte und den Glauben wieder zu dem machte, was er auch im ursprünglichen paulinischen Christentum war: eine persönliche Beziehung jedes Gläubigen zu Gott. Dass das Folgen hat – Luther erfuhr es ja selbst. Und er sorgte selbst dafür, dass das Folgen hatte. Nicht nur mit Predigten von der Kanzel, sondern mit Bergen von Streitschriften, die Wittenberg zu seinen Lebzeiten zur wichtigsten Buchdruckerstadt Mitteldeutschlands machten.
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Es gibt ein kleines, leidenschaftliches Statement von Friedrich Schorlemer zu diesem Luther, der eine durchaus zwiespältige Persönlichkeit sein konnte. “Da steht er vor uns, der Antisemit, Fürstenknecht und Katholikenfresser und gleichzeitig begnadete Poet, der scharfsinnige Publizist und der warmherzige Prediger. Mich faszinieren seine geradlinige Widersprüchlichkeit, sein Gottesringen und seine Glaubensgewissheit”, sagt der Mann, der 1983 die Aufsehen erregende Aktion “Schwerter zu Pflugscharen” beim Kirchentag in Wittenberg mit initiierte.
Wer durch Wittenberg spaziert – vom Schloss bis zur Luthereiche, der kann all die Orte besichtigen und bewundern, an denen sich ab 1508, als Luther ins “schwarze Kloster” zog, das herauskristallisierte, was als Reformation den ganzen Kontinent erschüttern sollte. Die meisten Orte sind erhalten und reihen sich wie Perlen auf einer Schnur – so dicht, dass man das Klima ahnt, den Schmelztiegel, in dem das alles sich formte, bevor der zornige Professor Luther überhaupt seine 95 Thesen drucken ließ, in Briefumschläge steckte und auch an die Kirchentüren von Wittenberg nageln ließ, damit die Leute anfingen, darüber zu diskutieren. Ganz wissenschaftlich. Es waren keine Glaubensthesen, sondern wissenschaftliche Thesen, die allesamt danach fragten, ob der Papst all das darf, was er da tut, was ihn dazu berechtigt und was bitteschön ganz persönliche Sache des Gläubigen zu sein hatte.Thesen mit Folgen bis in die Liturgie hinein. Thesen aber auch, die all das auslösten, was sich in den zwei Folgejahrhunderten als Aufklärung formte. Und nicht ohne Grund holte Friedrich der Weise auch Lucas Cranach als seinen Hofmaler nach Wittenberg. Auch das wird mehrfach in diesem Heft thematisiert: Die Reformation wirkte nicht nur mit Worten, sie wirkte auch mit Musik (auch deshalb ist 2012 das Dekadenjahr der reformatorischen Musik) und durch Bilder. Es sind Cranachs eindrucksvolle Porträts selbstbewusster Bürger, die – neben den Bildern Dürers – bis heute unser Bild vom Renaissance-Menschen in Deutschland prägen. Darunter etliche Bilder von Luther, mit dem Cranach eng befreundet war.
Deswegen ist es umso beeindruckender, dass die Wittenberger auch den Cranach-Hof wieder hergestellt haben, nachdem er in DDR-Zeiten fast völlig verfiel. Wer die Stadtkirche St. Marien besucht, begegnet Cranach sowieso. Neben Luther steht sein Freund Melanchthon auf dem Markt und vor Luthers einstigem Wohnhaus steht Katharina von Bora forschen Schrittes im Hof und drückt so wohl am deutlichsten aus, was da im 16. Jahrhundert in Wittenberg geschah, wie eine ganze Welt von hier aus in Bewegung gesetzt wurde. Und so beiläufig erfährt der Leser auch, wieviel Angst die katholischen Fürsten zu Luthers Lebzeiten vor diesem wortgewaltigen Mann hatten: Erst nach Luthers Tod 1546 traute sich Kaiser Karl V., gegen den Schmalkaldischen Bund zu Felde zu ziehen, um die Etablierung des Protestantismus rückgängig zu machen. Oder zumindest aufzuhalten. Den Schmalkaldischen Bund konnte er besiegen – die Freiheit des Denkens, die in Wittenberg ihre Geburt erlebte, nicht.
Und wer sehen will, wo das begann, der ist in Wittenberg genau richtig. Das Heft macht ihn mit den wichtigsten Gebäuden, Personen und Zusammenhängen vertraut. Und natürlich mit ein paar Folgen wie dem berühmten Pflugschar-Schmieden von 1983, das übrigens auch mit einer der 95 Thesen von 1517 zu tun hat. Nämlich der 92., die man auch den Anzugträgern der NATO von heute ins Stammbuch schreiben darf: “Darum weg mit allen jenen Propheten, die den Christen predigen: ‘Friede, Friede’, und ist doch kein Friede.”
Stephan Dorgerloh, Stefan Rhein, Johannes Schilling “Orte der Reformation: Wittenberg”, Evangelische Verlagsanstalt 2012, 9,90 Euro
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