Er schreibt und schreibt und schreibt. Kinderbücher, Gedichtbände, Theaterstücke, Romane. Praktisch jedes Jahr ein Buch seit 1990, seit ihm niemand mehr vorschreiben kann, was er und wo er es veröffentlichen darf. Dabei ist der Leipziger Schriftsteller Gunter Preuß mittlerweile 71. Aber im Herzen jung geblieben. Da lässt ihn was nicht los.

In DDR-Zeiten gehörte er zu den Leipziger Autoren, die immer wieder aneckten. Nicht mal mit großen frechen Büchern. Das war nie sein Stil. Doch wie wenige andere nahm er das ernst, was im Land als Forderung an die Schriftsteller immer wieder erhoben wurde: Schreibt über die Wirklichkeit des Landes, seid parteilich … – Ein böses Wort. Andere verwechseln das immer mit parteiisch. Und hängen ihr Mäntelchen in den Wind.

Und ihren Geist in die Futterkrippe. Preuß nahm lieber seinen Mumm zusammen und sagte: Nö. Mit mir nicht. Er protestierte gegen die Ausbürgerung Biermanns, stimmte mit Werner Heiduczek gegen den Ausschluss von Erich Loest aus dem Leipziger Schriftstellerverband. Er nahm dieses seltsame Land und seine Erwartungen ernst. Das reichte schon zum Anecken. Er nahm es auch dann noch ernst, als es andere schon eiligst im Sperrmüllcontainer entsorgt hatten.

Vielleicht wird das für manchen Leser einmal richtig spannend, wenn man so langsam die Nase voll hat von all den Widerstandskämpfern, die sie alle waren in der DDR. Waren sie aber nicht. Sie sind in Pionierlager gefahren und in FDGB-Heime, sie haben auf Parteiversammlungen Schnaps getrunken und am 1. Mai den Genossen zugewinkt, sie haben Arbeiter- und Kampflieder gezwitschert beim Schulappell und mit Stolz ihr Pioniertuch getragen. Und sie haben all die Bücher, die ihnen als tolle DDR-Literatur angedreht werden sollten, nie gelesen. Außer die, über die getuschelt wurde, weil sie irgendwie anders waren. “Julia” von Gunter Preuß zum Beispiel.
Und dieses Buch, das er jetzt im Lychatz Verlag vorgelegt hat, liest sich irgendwie, als hätte er es damals gleich nach “Julia” (1976) geschrieben, so dicht ist die Atmosphäre, so detailgenau ist die Beschreibung des Pionierferienlagers auf Rügen, dicht neben einem Stützpunkt der Grenztruppen gelegen. Selbst die Konstellation der beiden Vorbild-Gestalten im Lager stammt aus dem Repertoire der Pawel-Kortschagin-DDR: der kämpferische Pionierleiter, den die Jugendlichen nur Ali nennen, weil er einmal ein DDR-Boxstar war, und der ausgelaugte starrsinnige alte Lehrer Standke, der im Lager noch stramme Disziplin durchsetzen will.

Der Held selbst ist eine Type wie Preuß selbst – ein wenig so, wie er sich in “Und wenn ich sterben sollte …” schildert – ein bisschen idealistisch und gutgläubig, sehr verunsichert, weil er sich in der Gruppe von Jugendlichen aus dem Städtchen Lerchau (“irgendwo zwischen Leipzig und Halle”) noch fremd fühlt. Denn der 13-jährige Boris hat eine Vorgeschichte, von der er nur die Hälfte weiß – die von seinem Vater, der eines Tages in den Westen ging. Doch das Bild seiner Mutter ist verschwunden.

Und am Ende ist es Standke, der ihm diesen Teil der Geschichte erzählt. Mitten in der Nacht, weil Boris aus vielen Gründen nicht schlafen kann. Einer davon heißt Ulli, eigentlich die Idealfigur einer jungen Frau, die die Dinge anpackt. Unter anderem auch die Sache mit der Liebe. Streckenweise knistert die Geschichte und erinnert – wohl gar nicht zufällig – an die Knisterstimmung im legendären DDR-Jugendfilm “Sieben Sommersprossen” (1978). Was auch hier wie eine hinreißende Liebesgeschichte zu werden scheint – bis Boris klar wird, dass er mit Kalinke nicht nur einen Nebenbuhler hat.

Dass die Geschichte so gut nicht ausgehen wird, wird spätestens klar, wenn Preuß die nächtliche Szenerie des Lagerplatzes malt, auf der sich der vom Husten geplagte Standke und der schlaflose Boris treffen: Auf einen Pfahl ist eine gewaltige Muschel gesteckt, die im Mondlicht wie ein Schädel aussieht.

Unübersehbar, dass Preuß hier motivisch mit dem 1985 in der DDR veröffentlichten “Herr der Fliegen” von William Golding spielt, der in der DDR garantiert nie verlegt worden wäre, hätte er 1983 nicht den Literaturnobelpreis bekommen.

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Er spielt auch mit anderen literarischen Motiven, die der Geschichte eine ganz besonders dichte Atmosphäre von Fernweh und (verhindertem) Abenteuer geben – der seltsame Kolkrabe, den Ali in einem Käfig mitschleppt, könnte auch in “Die Schatzinsel” mitspielen und Boris’ neuer Freund, der von Fresssucht geplagte Malisch, ist von den Beschreibungen der Südseereisen des Captain James Cook geradezu getrieben.

Er ist es auch, der in der Nacht den plärrenden Lautsprecher außer Gefecht setzt, der das Lager jeden Morgen mit Pionierliedern beschallt. Am Ende sitzen weder Boris noch Malisch im Zug, der die Jugendlichen wieder nach Hause bringt. Zwei Jugendliche werden aus der Ostsee gefischt. Einer von ihnen lebt nicht mehr.

Und der Leser darf noch ein bisschen grübeln über die Frage: Wer erzählt die Geschichte nun eigentlich? Lothar Womacka alias Ali, der Jahre später als Talente-Scout für Profi-Boxställe arbeitet und in einem Nachtrag versucht, das Ganze für sich zu erklären? Auch er hatte die Ereignisse im Ferienlager mit einer eigenen literarischen Vorlage bereichert. Seine Leit-Geschichte war Hemingways “Der alte Mann und das Meer”. Devise: Nur nicht aufgeben. Wer aufgibt, hat schon verloren.

Die literarischen Anklänge sind dabei wie Spiegel für all die Verunsicherungen, die Boris durch die Geschichte und durch diesen teilweise bedrückenden und übermächtigen Sommer treiben.

Und da Preuß wohl fürchtet, dass heutige und spätere Leser mit all den Seltsamkeiten des DDR-Lebens nicht mehr viel anfangen können, hat er ein Glossar drangehängt, das erklärt, was Pionierlager, Campingbeutel und Republikflucht mal waren.

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