Wer viel liest, hat immer eine Heimat. Egal, wie das Wetter draußen ist und die politische Stimmung. Egal auch, ob Ebbe in der Börse ist und der Bankautomat die Scheckkarte einzieht. Was soll's. In einer Jackentasche findet sich bestimmt ein handlicher Band Albert Camus. "Der Mensch in der Revolte". Da darf man träumen, bis die Reifen quietschen.

Michael Schweßinger ist so ein Träumer. Seit er den Leipziger Westen so akribisch erforscht hat, als wäre es der Urwald von Afrika, hat sich einiges geändert. Zumindest in seiner Haltung zu den Eingeborenen. Nun lebt er ja schon seit ein paar Jahren unter ihnen, kennt sie – und ist ihnen doch weiterhin fremd. Die Gründe sind klar: Sie sind es sich ja selbst. Manche Beziehung entsteht erst, wenn man genug Promille intus hat. Da kann es schon passieren, dass man mit Selina im Bett landet, sich dieser menschlichen Wärme freut und doch weiß: Wenn man wieder nüchtern ist, ist auch die Liebe vorbei.

Träume hat er noch. “Ich bin, das gestehe ich freimütig, ein Kind der Städte”, beginnt Schweßinger die erste seiner fünf Apokalypsen. Der Satz ist schon Zitat, wie so Vieles, was seinem Protagonisten beim Leben und Streunen in der Stadt so durch den Kopf geht. Einige der Bücher, aus denen er freimütig zitiert, hat Schweßinger am Ende dieses schmalen Buches noch einmal aufgelistet. Oben genannter Camus gehört dazu, Rilke, Pessoa, Thoreau.

Nicht zu vergessen das Alte Testament. Wer fünf Offenbarungen schreibt, zitiert ja doppelt, sieht sich als Fatalisten und als Endzeitbeschwörer. Die Zitate gehen weiter. Denn auch das Genre der (Groß-)Stadtapokalypsen ist ja nicht neu. Gleich zu Beginn zitiert Schweßinger den expressionistischen Dichter Ernst Wilhelm Lotz. Ein apokalyptisches Bild des Lotz-Freundes Ludwig Meidner ziert den Umschlag. Er hätte auch van Hoddis, Benn oder Heym zitieren können. Der Schritt ist winzig. Denn die Weltuntergangs-Stimmung, die den deutschen Expressionismus prägte, endete ja nicht mit dem 1. Weltkrieg, in dem Lotz gleich in den ersten Kriegstagen starb.Fast zwangsläufig konnte Kurt Pinthus seine bis heute legendäre Auswahl deutscher expressionistischer Lyrik 1919 “Menschheitsdämmerung” nennen. Übrigens seinerzeit gespickt mit 14 Porträtzeichnungen der wichtigsten Autoren von Ludwig Meidner. Natürlich ist auch Lotz in diesem Band vertreten.

Und wer die bisherigen Schweßinger-Bücher gelesen hat, weiß, dass auch er seine Stadt mit diesem etwas irren Blick betrachtet. Was im Leipziger Westen durchaus möglich ist, der noch längst nicht in der Wohlgefälligkeit des Südens, der Mitte oder des grünen Nordens angekommen ist. In Lindenau konnte man auf jeden Fall noch vor Kurzem all diese abgebrannten Gestalten sehen, die wie müde Geister vor den Kaufhallen hingen und warteten. Vielleicht auf den Weltuntergang, vielleicht auch einfach, bis es wieder Zeit wurde, in der Dunkelheit zu verschwinden. Natürlich gibt es sie noch, diese traurigen Seemänner der Straße. Heimatlose eigentlich. Sie sind meist gemeint, wenn die braven Bürger der Stadt nach Alkoholverbot auf Straßen und Plätzen rufen. Sie wollen das nicht sehen.Da säuft man doch besser im Verborgenen. Oder gleich mit all seinen schweren Gedanken da, wo man untergekommen ist. Immer wissend, dass das Geld durch die Finger rinnt und sowieso nicht reicht, um große Sprünge zu machen. Die Freuden sind entsprechend klein, die Ängste umso dauerhafter. Da werden die Tage zäh und die Haut wird dünner. Eine kleine Szene am Geldautomaten wird zum aggressiven Moment. Das liegt dann dicht beieinander – neben dem Frust, dem man entfliehen will, die große Freude aufs Wegfahren, einfach so – mit dem nächsten Zug. Der Hauptbahnhof ist wie ein Hafen. Die Züge fahren in unbekannte Fernen. Nur wird man ohne Fahrkarte nicht mitgenommen.

Dafür hat man im Discounter die Wahl zwischen den Billigangeboten, für die das letzte Geld in der Tasche noch reicht. Ist in der Schlange an der Kasse unter Seinesgleichen. Der eine ist schon etwas tiefer auf der Treppe des Lebens und legt die Hochprozentigen aufs Fließband, der andere ist noch im Stadium des Selbstbetrugs und begnügt sich mit Bier.

Man entdeckt die ganze dunkle Palette der Dinge wieder, mit der sich Schweßinger auch in seinen vorherigen Büchern beschäftigt hat. Auch jetzt webt er sie ein in die Beschreibung dieses Lebens am Abgrund, der auch ein Abgrund der Lieblosigkeit ist. Das “Ich drück dich” der Freundin, das sie per Mobiltelefon sendet, ist nichts als Phrase. Die Welt bleibt leer. Denn Alternative scheint nur zu sein – wenn man all die lärmenden Plakatwände betrachtet – ein Leben in “durchgestylten Lebensentwürfen”. Ein vorgefertigtes Leben also. Und das eigene? Wo bleibt das?

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Alles wird zur Massenware. “Wo der Mensch nur noch Ressource, vergisst man des Einzelnen schnell …” Ein Satz aus Apokalypse Nr. V, der noch einmal den Forscher ins Spiel bringt, der hinter den Erlebnissen und Erfahrungen in der Halbwelt der Vorstadt die Ursachen erkennt. Die Gestrandeten sind ja nicht freiwillig an Land gegangen. Sie sind selbst Produkte einer Gesellschaft, die alles in Ware verwandelt. Auch Glück, Liebe und Freundschaft.

Hätte eigentlich nur noch die Erwähnung dieser gigantischen Betrugsmaschinen gefehlt, die sich “social media” nennen und den Betrogenen suggerieren, sie könnten mit einem Druck auf den Button “Mag ich” Freundschaften einkaufen in Masse und ohne Müh. Freundschaft als Billigware. – Kein Wunder, dass Schweßingers nächtlicher Stadtgänger am Verzweifeln ist. – Wären da nicht die Bücher. “Wir bemühen in einsamen Nächten die Gedanken unserer Vorfahren herbei, lesen uns fest in Passagen voller Erhabenheit und Menschenliebe. Im Morgengrauen schließen wir die Bücher wie einen Traum, der zwischen den Tagesnachrichten schnell zerrinnt.” Und die sind – der Leser kann ja zurückblättern – auch wieder nichts als Massenwaren, Massenbespaßung mitten aus den aufregendsten Kriegen des Tages …

Michael Schweßinger “Stadtapokalypsen I-V”, Edition PaperOne, Leipzig 2012, 3,95 Euro

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