Am 28. April kann man die fünf jungen Herren der in Berlin verorteten "Lesedüne" in Leipzig in der Moritzbastei erleben. Einer wird den Kennern der Lesebühnen-Szene bekannt sein: der Leipziger Julius Fischer, der jüngst erst bekannte, er wolle wie seine Katze riechen. Aber das Reisen gehört zum Leben eines Lesebühnen-Autors. Sie hätten sich auch Wanderdüne nennen können.

Denn begonnen hat die Geschichte der “Lesedüne” 2006 in diversen Strandbars. Manchmal braucht es eine Weile, bis eine Lesebühne eine dauerhafte Heimspielstätte findet. Die letzten Stationen der Lesedünenwanderungen heißen “Kiki Blofeld”, “Edelweiss” und “Monarch”. Die fünf jungen Herren – Marc-Uwe Kling, Sebastian Lehmann, Maik Martischinkowsky, Kolja Reichert und benannter Julius Fischer – sind die Philosophen unter den aktuellen Lesebühnenakteuren. Nicht dass sie mehr nachgrübelten als die anderen. Das nicht. Aber sie vermeiden den Spaß, wo es geht, zielen weniger auf Pointen und fröhliche Unterhaltung. Dazu ist das Leben zu ernst. Das heutige sowieso. Und das eines reisenden Autors erst recht.

Das Leben auf offener Bühne ist prekär. Und es ist kein Zufall, dass in den meisten Textsammlungen der diversen Lesebühnen auch die üblichen Texte zu Arbeitsamt, Jobcenter und den entsprechenden Vorladungen beim Arbeits(nicht)vermittler gehören. Gleich der erste Text von Maik Martschinkowsky ist so ein glaubwürdig erzählter Besuch im Amt der Absurditäten und die Begegnung mit einem völlig unbeleckten Sachbearbeiter, den er eher beiläufig in ein durchaus sokratisches Gespräch verwickelt. Was den natürlich überfordert.Die absurde heutige Welt gibt genug Stoff zum Nachdenken. Und das Ergebnis ist oft genug ein beängstigendes. Etwa wenn sich Kolja Reichert Gedanken über die heute mancherorts viel gepriesene neue Existenzweise von Probanden Gedanken macht, frei nach dem ebenso landläufigen Motto “Jeder kann ein Star sein”. “In der Post-Arbeitsgesellschaft ist das nicht das schlechteste Job-Angebot”, schreibt Reichert. Man muss nur damit rechnen, dass einem alsbald diverse Körperfunktionen ausfallen, die Betreuer die Dosierung ein bisschen zu hoch wählen und die Nachwirkungen ein bisschen heikel sind. Aber was soll’s?

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Sebastian Lehmann arbeitet sich akribisch durch diverse Jugendkulturen, die irgendwie an Tiefe vermissen lassen. Aber wozu brauchen Kulturen Tiefe, wenn sie nur gut vermarktbar sind? – Diese Linie kann man durch den ganzen Band mit den Texten dieser fünf Unangepassten verfolgen. Sie nutzen die schöne heile Welt der leeren Werbung, um ihr einen Hintersinn zu geben. Etwa wenn Julius Fischer zeigt, wie wenig es an Verrenkung bedarf, um ein echter Outdoor-Autor zu werden, um all diese schönen Spielzeuge der Freiluft-Touristen zu bewerben.

Die reine Welt der modernen Konserven-Stars wird genauso zum Textmaterial wie die absurde Welt des Flugzeugreisens, der Kofferbomben-Angst oder der medialen Hysterie um Künstler, die sich anders als stromlinienförmig korrekt zu Wort melden. Stünde Marc-Uwe Klings ironisches Selbstinterview “Ein geistiger Terror-Brandstifter” in diesem Buch nicht auf Seite 130 zu lesen, man hätte fast denken können, er hätte es als Persiflage auf die derzeitige Anti-Grass-Hysterie geschrieben.Aber nicht nur mediale Debatten in Deutschland sind hysterisch. Die Politik ist’s ja auch. Man nehme nur die amtliche Gier nach der perfekten Überwachung, die den Ostdeutschen so verdammt vertraut ist und in Maik Martschinkowskys “Plauschangriff” zur gemütlichen Plauderei mit dem Überwachungsmikrofon wird. Wenn die zwischenmenschlichen Beziehungen sowieso auf der Strecke bleiben, kann man auch gleich mit der Überwachungstechnik in innige Beziehung treten. Und auch die Kopier-Hysterie der Patent-Verwerter nehmen die Jungs aufs Korn. Oder tobt sich hier der Illustrator Alexander Klein aus, der “Die Entstehung der Arten” auf 14 Seiten als einen historischen Wettlauf im Kopieren darstellt, bis das “Paste” in einem irreversiblen Systemabsturz endet?

Wenn es so ist: Es fällt nicht aus dem Rahmen. Auch die babylonischen Kriege, die Marc-Uwe Kling zuvor bedichtet, sind ja nichts als schlechte Kopien von schlechten Kopien – nur mit immer stärkerer Feuerkraft. Und dass Sebastian Lehmanns Versuch, sich kostenlos in einer schwedischen Kleiderboutique einzudecken, in einer Begegnung mit dem von Michel Foucault analysierten System von “Überwachen und Strafen” endet, überrascht schon nicht mehr. Hier sitzen nicht nur fünf junge Herren auf der Bühne, die ein bisschen vor sich hinphilosophieren und zu Allerwelts-Gemeinplätzchen finden. Sie haben sich mit Platon & Co. tatsächlich beschäftigt. Und sie finden – zuweilen genügt dazu nur ein völlig abgedrehter Morgen – den Irrwitz, den sich manche Philosophen in Systeme packten, in der Post-Post-Wirklichkeit der Gegenwart auf Schritt und Tritt wieder.

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Über Wachen und Schlafen
Lesedüne, Verlag Voland & Quist 2012, 14,90 Euro

Also kein Buch für Leute, die sowieso schon Angst haben vor dem Moment, an dem sie gezwungen sein würden, über ihr Leben in einer zur Kopier-Schablone verkommenen Welt nachzudenken. Günter Grass hätte bestimmt seine Freude an diesem Buch. Und Michel Foucault, wenn er heute noch lebte, ganz bestimmt auch. Nur sollte man bei den Lesungen der “Lesedüne” wohl lieber Milchkaffee bestellen und kein alkoholisches Getränk, sonst könnte es passieren, man begegnet einem renitenten, knallroten Känguru.

www.leseduene.blogspot.de

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