Seit dem 2. Oktober 2009 zeigt das Bürgerkomitee Leipzig im ehemaligen Kinosaal der Stasi in der "Runden Ecke" die Ausstellung "Leipzig auf dem Weg zur Friedlichen Revolution". Eine Ausstellung, gespickt mit Fotos, Dokumenten, Plakaten. Eine Ausstellung, die den Besucher erschlagen kann mit ihrer Materialfülle. Unmöglich, das auch nur in ein Buch pressen zu wollen.

Zwei Bücher sind’s geworden. Und jeder Band ist noch gewichtig und großformatig. 800 Seiten, die selbst eine Ausstellung sind. Und mehr. Denn was das Bürgerkomitee in der Kinosaal-Ausstellung zusammengetragen hat, ist im Grunde eine Beinahe-Komplett-Dokumentation dessen, was zwischen dem Herbst 1988 und dem Tag der deutschen Wiedervereinigung im Herbst 1990 geschah, öffentlich zu lesen war oder nur in den geheimen Schriftwechseln der Mächtigen.

In den meisten Rückblenden wird die Friedliche Revolution, die die DDR zum Einsturz brachte, meist nur auf zwei Daten reduziert: den 9. Oktober 1989, als 70.000 mutige Demonstranten in Leipzig die bewaffnete Staatsmacht in die Defensive brachten, und den 9. November, als ein Versprecher von Günther Schabowski zeigte, auf welchen Fundamenten eigentlich die “Mauer” stand. Das war der Tag, an dem die Bewohner der DDR ihre Staatsmächtigen nicht mehr ernst nahmen. Endgültig nicht mehr ernst nahmen.

Das ist nichts Neues in der Geschichte: Immer wieder verspielen Regierende das Vertrauen der Regierten. In der Regel hat das eine Vorgeschichte. Und die ist natürlich auch, was den Herbst 1989 betrifft, länger als nur ein Jahr oder zwei. Dass alles 1987 und 1988 anfing, auf eine große Entscheidung zuzulaufen, belegen gleich die ersten Dokumente, die nicht in Leipzig entstanden sind, aber unbedingt dazugehören: die sowjetische Zeitschrift “Sputnik” Nummer 10/1988, die in der DDR nicht mehr vertrieben werden durfte, weil hier erstmals Stalins Rolle am Vorabend des 2. Weltkrieges beleuchtet wurde. Teil einer Artikelserie, die – im Zeichen der von Michail Gorbatschow vorangetriebenen “Glasnost” – endlich öffentlich aufarbeitete, was auch in der Sowjetunion nach dem kurzen Tauwetter der 1950er Jahre nicht mehr möglich war.
Die DDR hatte die unrühmliche Rolle Stalins genauso schnell wieder mit dem Mantel des Schweigens bedeckt. Aber wie kann eine Gesellschaft ehrlich mit sich sein, die über ihre eigene Geschichte ein eisernes Schweigen verhängt? Schon ein Jahr vorher, als die Bürger der DDR erstaunt erfuhren, was Gorbatschow mit seinen Reformen in der Sowjetunion erreichen wollte, hatte sich der Chefideologe der SED, Kurt Hager, im “Stern”-Interview zu dem gnadenlos dummen Satz hinreißen lassen: “Würden Sie, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?”

Das kochte alles hoch. 1989 dann öffentlich, auch wenn anfangs fast alles im Schutzraum der Kirche stattfinden musste, was heute einige Vorzeige-Revolutionäre immer wieder mal zu der Behauptung inspiriert, die Friedliche Revolution sei von der Kirche ausgegangen. Doch die beiden dicken Bände zeigen auch für Leipzig exemplarisch: Es waren einige mutige Pfarrer und Gemeinden in der DDR, die begriffen, dass auch Kirche eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe hat, und die danach handelten. Angefangen mit der deutlichen Parteinahme gegen die atomare Hochrüstung in beiden deutschen Staaten bis hin zur deutlichen Stellungnahme gegen die Militarisierung der Schule. Alles ab Anfang der 1980er Jahre. Und in Leipzig eng verknüpft mit der Person des Pfarrers Christoph Wonneberger, der auch die Friedensgebete in der Nikolaikirche initiierte.

Eben jene Friedensgebete, die sich im Lauf der 1980er Jahre zu einer gesellschaftlichen Diskursplattform entwickelten, auf der alle Probleme der DDR angesprochen wurden und wo zunehmend kritische Basisgruppen Gehör fanden, die eben nicht aus den christlichen Gemeinden kamen, aber ohne diesen Schutzraum Kirche keinen Schutz gehabt hätten. Denn Kirchenräume genossen – anders als etwa Privaträume – noch einen gewissen Schutz vor staatlichen Zugriffen.
Dass das den staatlichen Stellen dennoch ein Dorn im Auge war, ist logisch. Und der Druck auf die Kirchenverantwortlichen wuchs mit der Zeit, führte auch 1988 zu einem heftigen Dissens zwischen den kirchlichen Akteuren. Da war so mancher geneigt, dem Druck von außen nachzugeben und die Montagsgebete wieder ganz den christlichen Themen zu widmen. Doch der Effekt war, dass die bis dahin in der Nikolaikirche geborgenen Proteste sich auf einmal auf den Nikolaikirchhof verlagerten – und damit in die Öffentlichkeit.

Die beiden Bände bestechen durch ihre Fülle von Briefen, Aushängen, Anweisungen, Befehlen, Lageberichten. Kirchliche Papiere werden neben die gleichzeitigen Protokolle der Staatsmacht gesetzt, der Leser bekommt auch das zu sehen, was in den üblichen Chroniken zur “Friedlichen Revolution” sonst nur beiläufig erwähnt wird: die Handlungsanweisungen der Stasi, die Geheim-Schreiben der SED-Führungen in Leipzig und Berlin. Denn spätestens 1989 war das, was da Montag für Montag in Leipzig geschah, auch ein Thema für Erich Honecker.

Immer öfter wurde der staatliche Versuch, das Gären unter der Decke zu halten, durch öffentliche Aktionen unterlaufen: von der Luxemburg-Liebknecht-Demo im Januar über die Montagsdemonstration zur Frühjahrsmesse 1989 bis hin zur groß angelegten Bürgerkontrolle der Kommunalwahlen im Mai, mit denen der Wahlbetrug der Funktionäre erstmals nachgewiesen werden konnte. Es folgte im Juni der Pleißemarsch, dicht gefolgt vom Straßenmusikfestival und dem Kirchentag. Und dann war auch schon August und Ungarn machte seine Grenze auf.

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Selbst 23 Jahre später liest sich das schwindelerregend. Die Monate vor dem 9. Oktober waren vollgepackt mit Ereignissen, die allesamt die notwendige Veränderung in sich trugen. Nur wusste niemand, wie schnell sie kommen würde und was sie bewirken würde. Denn gleichzeitig sendete die Staatsführung deutliche Zeichen aus, dass sie gegen Proteste mit härtesten Mitteln reagieren würde. Nachdem Gorbatschow 1988 noch einmal deutlich gemacht hatte, dass für ihn die Breshnew-Doktrin nicht mehr gelte und die “sozialistischen Bruderländer” souveräne Staaten seien, die ihre Angelegenheiten selbst regeln könnten, suchte Honecker demonstrativ die Nähe zu den Hardlinern im sozialistischen Block – zeichnete den rumänischen Diktator Ceausescu mit dem Karl-Marx-Orden aus. Als die Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking blutig niedergeschlagen wurden, wurde das in den Parteizeitungen der DDR gefeiert und wenig später fuhr Egon Krenz demonstrativ zum Besuch nach China.

Der ganze erste Band belegt in seiner Materialfülle, wie komplex die Entwicklung war, die sich bis zum Oktober 1989 aufheizte. Auch gezielt aufgeheizt wurde. Die zuständigen Funktionäre folgten bis zuletzt den alten Handlungsmustern, die in den Demonstranten in Leipzig, Plauen, Arnstadt, Dresden usw. nur ferngesteuerte Aufwiegler sahen. Die internen Papiere sprechen ihre eigene Sprache. Und selbst als man Wasserwerfer, gepanzerte Schützenwagen und die bis dahin öffentlich nie gesehene Polizeischutzausrüstung aus den Lagern holte, schienen die Lageverantwortlichen nicht einmal zu ahnen, was da eigentlich ins Rutschen geraten war.

Und dass all die martialische Aufrüstung am Ende nicht verhindern würde, was da ins Freie drängte. Der Leser darf hier sogar die enge Verquickung zwischen Stasi, SED-Bezirksverwaltung und Polizei nachlesen. Bei den vielen abgebildeten Dokumenten braucht man da freilich die Lupe. Aber das Wichtigste steht in etwas größeren Erläuterungen am Rand. Zum Beispiel das für den 2. Oktober 1989 nachlesbare “Kein Pardon”, das der Leipziger Stasi-Chef Manfred Hummitzsch als Anweisung des für die Einsatzleitung zuständigen 2. Sekretärs der SED-Bezirksleitung Helmut Hackenberg (“Hacki”) nach einem Telefonat notierte.

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Die Friedliche
Revolution in Leipzig
Tobias Hollitzer; Sven Sachenbacher, Leipziger Uni-Verlag 2012, 39,90 Euro

Zehn Kapitel umfasst allein dieser Halbband, jedes mit einer kurzen Einleitung versehen. Er endet praktisch am Vorabend des 9. Oktober, als die mit Gewalt niedergeknüppelten Demonstrationen im Umfeld des 7. Oktober schon für eine Anspannung im ganzen Land gesorgt hatten. Und nicht nur in Leipzig fragten sich die Bürger: Was passiert nun am Montag?

Mehr dazu morgen an dieser Stelle.
Tobias Hollitzer; Sven Sachenbacher “Die Friedliche Revolution in Leipzig”, Leipziger Uni-Verlag 2012, 39,90 Euro

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