Jedes Bändchen ist ein kleines Wagstück, das Bertram Reinecke vorlegt. Dringt es durch? Erreicht es wenigstens die Lesergruppe, die sich mit industrieller Fertignahrung nicht zufrieden gibt? Die auch mal den Spaß an Sprache zu genießen weiß und für Neu- und Wieder-Entdeckungen offen ist? - Miron Bialoszewski ist so eine Wiederentdeckung.
Für den deutschen Buchmarkt ist der polnische Lyriker auch so etwas wie eine Entdeckung überhaupt. Auf dem deutschsprachigen Markt ist bislang eigentlich nur sein Buch “Nur das was war. Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand” präsent – oder auch wieder nicht. Es ist vergriffen. Aber so hat man eine Verortung. Denn während des Warschauer Aufstands war der 1922 geborene Dichter jung. Jung war er auch noch in den 1950-er Jahren, die nur dann altbacken, grimmig und farblos aussehen, wenn man sich auf die Ladenschwengel der Politik konzentriert. Dabei war es das Jahrzehnt, in dem europaweit experimentiert wurde. Dort, wo es die neuen Ordnungsmenschen zuließen: in der Kunst, auf der Bühne, in der Literatur.
Und das Faszinierende dabei: Es geschah europaweit gleichzeitig. Trotz “Eisernen Vorhangs”. Trotz Sprachbarrieren. Leute wie Hans Magnus Enzensberger waren energisch dabei, dieses Novum auch publizistisch sichtbar zu machen und eine europäische Literatur- und Diskurszeitschrift auf die Beine zu stellen. Damals noch recht westeuropäisch gedacht. Aber auch eine Publikation wie “Sinn und Form” in der DDR war in größeren Dimensionen gedacht. Und sie hatte unter Peter Huchel 1949 bis 1962 auch diese Dimension – bis ihn die Nomenklatura 1962 zum Rücktritt zwang.Die 1950-er Jahre waren auch im Osten Jahre der Experimente, der Hoffnung darauf, dass die großmäuligen Versprechen der Politik nach 1945 auch eingelöst wurden. Wurden sie bekanntlich nicht. Nicht in Ost und nicht in West. Ein europäischer Diskurs war so nie gewollt. Da und dort berührten sich die Welten trotzdem, kamen die Autoren in Kontakt, tauschten sich aus, nahmen wahr, dass man auch jenseits der Grenzen das Neue wagte. Und 1956 war es auch Miron Bialoszewski noch möglich, in Polen seinen ersten Gedichtband zu veröffentlichen: “Obroty rzeczy” (“Die Kreise der Dinge”, 1956), das Buch, das sich der österreichische Dichter Gerhard Rühm bei seinem Warschau-Aufenthalt 1956 besorgen konnte. Rühm gehört zur gar nicht so kleinen Garde deutschsprachiger Autoren, die man der “Konkreten Poesie” zurechnet.
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Das ist eine Lyriktradition, die sich auf das beziehen durfte, was in den 1920-er Jahren in der deutschsprachigen Lyrik möglich war. Sie durfte mit Recht auf August Stramm, Kurt Schwitters, Gertrude Stein, Carl Einstein und Paul Scheerbart verweisen. Die Kollegen, mit denen Rühm sich eines Geistes wusste, waren Hans Carl Artmann, Eugen Gomringer (dessen Tochter Nora heute zu den gefeierten Lyriktalenten in deutscher Sprache gehört), Helmut Heißenbüttel sowie Ernst Jandl, um nur die bekanntesten Namen zu nennen.
Und wenn dann ein Rühm in Warschau staunt, dass ein Miron Bialoszewski dort wirken darf (nicht kann, sondern darf), dann ist das ein Fingerzeig. In einem kleinen Nachwort in diesem Auswahlbändchen erzählt er davon. 1961 kam von Miron Bialoszewski noch “Mylne wzruszenia” (“Irrige Rührungen”, 1961), und das war’s dann im Wesentlichen auch. Dann verlor auch Polen diesen leichten Atem der Freiheit. Und als Bialoszewski 1983 starb, war er selbst eigentlich schon Legende. Auch wenn seine Gedichte bis heute in Polen beliebt sind.
Eine Schwierigkeit für den Ruhm außerhalb der Landesgrenzen spricht Rühm an: die Sprachbarriere. Die in Deutschland in Bezug auf Polen auch immer mit einer Aufmerksamkeitsbarriere verbunden war. Während der westliche Buchmarkt sich am anglo-amerikanischen orientierte und dem Osten zumeist eher ein Achselzucken gönnte, feierte man in der DDR zwar gern Völkerfreundschaft, doch was da in Polen gedruckt wurde, war den Wärtern des richtigen Weges zumeist viel zu suspekt.Viel hat sich daran nach 1989 nicht geändert. Heute zählt fast nur noch die Rendite. Da sucht man auch die Bändchen mit den namhaften Autoren der Konkreten Poesie aus Deutschland fast vergeblich in den Buchläden. Dass Bialoszewski jetzt mit diesem kleinen Auswahlbändchen spät dennoch ankommt hierzulande, ist der Wroc?awer Dichterin und Übersetzerin Dagmara Kraus zu verdanken. Und wer mit dem Ende des Büchleins beginnt, bekommt so eine Ahnung, wie komplex hier die Arbeit des Übersetzens war. Zu drei Gedichten von Miron Bialoszewski hat Betram Reinecke nämlich ein paar junge deutsche Lyriker gebeten, eine Nachdichtung zu versuchen. Einige hat er auch selbst probiert. Die Titel der Gedichte kann man gar nicht herschreiben – außer auf polnisch. Denn das Spiel mit den Worten, ihren Anklängen, Verwandlungsmöglichkeiten beginnt Miron Bialoszewski schon im Titel. Die Worte werden vieldeutig, beginnen sich, kaum dass man sie gefasst zu haben scheint, zu verwandeln.
Dabei werden aus Eindrücken und Szenen, wie man sie auch sonst in der Lyrik findet, unverhoffte Ausbrüche. Der Text verändert schnurstracks die Richtung. Mal hebt er ab und aus einem Schiffsausflug wird ein ironischer Verweis auf die gesehene Idylle mit Wolken. Aus einer flapsigen Äußerung, die den Dichter eben noch gekränkt haben muss (“ich bin / ich bin dumm”) wird ein kleiner philosophische Balletttanz mit der fröhlichen Erkenntnis, dass man ja doch so ist, wie man ist – und dass man damit durchaus mit sich in Reinen sein kann.
Das kommt alles leicht daher, wie hingetänzelt. Hier schnappt sich einer die Bilder, Eindrücke und Phrasen, spielt ein bisschen damit herum, scheucht den Leser durch drei, vier Abirrungen, Fort-Schweife und um kleine tückische Ecken – und siehe da: Das Ding entpuppt sich als fröhlicher Spaß, als listige Demontage des Ach-so-Sicheren. Hier nutzt einer die Möglichkeiten der Sprache, um aus den starren Rastern herauszukommen, sich das Leben neu anzupassen. Man lese nur das burschikose Gedicht vom “Schnäbi”. Und wer mit den Worten und ihrer Substanz derart innig umgeht, dem kann’s natürlich auch passieren, dass er in die Worte hinfällt und nicht wieder rauskommt (“Ich kann nicht schreiben”).
Wir Seesterne
Miron Bialoszewski; Dagmara Kraus, Reinecke & Voß Verlag 2012, 12,00 Euro
“Da ist jeder Satz eine Aufgabe. Dieses Aufbrechen, Klittern, Neuschaffen von Sprache”, zitiert der Verlag die Lyrikerin und Übersetzerin Esther Kinsky, “dieser unglaubliche, aus allem Gesehenen, Gehörten, Gelesenen erschriebene Kosmos aus Worten …” Und das auf polnisch. Da wird auch jede Übersetzung zu einem Kosmos. Und die Nachdichtungen am Ende des Büchleins zeigen, wie schon ein anderer Charakter des Übersetzers dazu führt, dass ein ganz anderer Text draus wird. Genauso verspielt, kompakt und irritierend wie wohl der Ausgangstext. Und trotzdem. Man merkt, wie da einer sich schinden wollte und musste mit seiner Sprache. Mirons Martyrium. Oder “Mirtyrium”, wie es Dagmara Kraus übersetzt. “kannstunichtsmitworten / ein wankelnder Wastu …” Aber da muss einer als Dichter erst mal hinkommen, an diese Stelle, wo die Sprache selbst anfängt zu Keuchen, weil sie den Wünschen des Schreibers nichts mehr entgegenzusetzen hat.
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