Der Titel ist sperrig, das Thema komplex. Diskutant sowieso. So, wie es sich für einen Bericht aus der Forschung gehört. Denn das Thema Kindesmissbrauch ist ja nicht nur eins für Polizei, Justiz und hysterische Medien. Es betrifft die grauen Stellen in der Wahrnehmung unserer Gesellschaft, die so gut und anständig oft nicht ist, wie sie sich in Sonntagsreden darstellt.
Und die Grenzen zu den “Monstern” und “Kinderschändern” sind so klar nicht, wie es so manche Empörungs-Kampagne darstellt. Auch nicht die Grenzen zu anderen Deliktfeldern wie Gewalt gegen Kinder, sexuelle Gewalt gegen Erwachsene usw. Es war schlicht logisch, dass ein Leipziger Betreuungsprojekt, das am Kinderschutz-Zentrum Leipzig angesiedelt war und sich mit der Prävention von Rückfällen bei Kindesmisshandlern beschäftigt, später auch auf andere Gewalt- und Sexualstraftäter erweitert wurde.
Das Besondere an dieser therapeutischen Betreuung, die als Modellprojekt von der Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften der HTWK Leipzig gesteuert wurde, war: Es betreute verurteilte Sexualstraftäter auch schon Monate vor der Entlassung aus der Haft. Was den Therapeuten die Möglichkeit gab, die teilweise beschämenden Umstände und Ursachen der Tat schon vor dem nicht wirklich konfliktlosen Weg in die Freiheit im geschützten Raum aufzuarbeiten. Danach sind die Freiräume für diese Aufarbeitung meist nicht mehr gegeben.Monster sind die zumeist männlichen Täter in der Regel nicht. Viele sind Ersttäter. Die Persönlichkeitsstörungen, unter denen sie leiden, haben mit “hirnbiologischer oder hormoneller ‘Abartigkeit'”, wie einige Medien die Ursachen der Taten deuten, nichts zu tun, betont Torsten Klemm im Nachwort, nachdem die Abläufe, Ergebnisse und Erfolge der beiden Leipziger Modellprojekte recht detailliert ausgewertet wurden. “Daß Mißbrauch wie auch die Mehrzahl sonstiger krimineller Handlungen mißverstanden wird, wenn man sie als Symptom einer Krankheit interpretiert, gerät auch bei Professionellen immer häufiger in Vergessenheit”, schreibt er. Mit den Professionellen sind hier die Therapeuten gemeint, die durch einige mediale Kampagnen der jüngeren Zeit deutlich in die Defensive gedrängt wurden und nun teilweise auch die von diversen Politikern und Journalisten geforderte Wegsperrung “für immer” unterstützen. Und das, obwohl der deutsche Strafvollzug nicht das Wegsperren als Hauptaufgabe hat, sondern die Resozialisation der Täter.
Auch dazu haben die übergreifenden Betreuungsansätze in Leipzig wichtige Erkenntnisse gebracht. Denn das Problem der üblichen Resozialisierungen ist: Sie finden lediglich während der Haft statt. Beim Verlassen der Strafanstalt werden die Betroffenen zwar teilweise bei der Suche nach einer Wohnung und einer Arbeit unterstützt. Doch die therapeutische Betreuung endet meist am Gefängnistor. Sie sind in ihrem persönlichen Leben wieder ganz auf sich gestellt – und kehren dann oft genug in ihre alten Lebenskreise und Verhaltensmuster zurück.
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Dabei gehen auch die Erfolge, die sie zuvor in therapeutischen Programmen als Persönlichkeitsstärken aufgebaut haben, wieder verloren. Denn darum geht es am Ende. Um die persönlichen Ressourcen, die die Klienten in der Therapie aufbauen konnten. Dinge, die man in einer auf Leistung getrimmten Gesellschaft schlicht bei allen voraussetzt, die “Erfolg” haben wollen. Willensstärke, Geduld, emotionale Kontrolle, Konfliktstärke, Konfliktlösungsbereitschaft, Selbstachtung usw. All die Eigenschaften, die es Menschen erst ermöglichen, Partnerschaften einzugehen und Konflikte auszuhalten, sich in Regeln zu fügen und selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen, Mitmenschen zu respektieren und auch eigene Wünsche, Erwartungen, Gefühle den Möglichkeiten anzupassen und zu kanalisieren.
Klar, könnte man ja jetzt einwenden: Das können doch ja etliche all der gierigen Zocker und Betrüger auch nicht, die in den letzten Jahren das Kapital der Gesellschaft veruntreut haben. – Deswegen sitzen ja auch ein paar wenige von ihnen hinter Schloss und Riegel. Meist wegen Delikten, die man – im Vergleich zu Kindesmissbrauch – eher als “Gentleman-Delikte” betrachtet: Betrug, Veruntreuung, Missbrauch von Insider-Wissen … Auch wenn die Motive dahinter denen ähneln, die andere Leute zum Diebstahl verleiten, zum Raubüberfall oder zur Gewaltanwendung gegen andere Menschen. Gier, Habgier, Neid – gekoppelt mit sozialer Rücksichtlosigkeit oder, was wohl auch schon einige psychologische Gutachten ergaben: sozialer Inkompetenz.
Die großen Ganoven in Nadelstreifen unterscheiden sich in der Regel wenig von den kleinen Tätern, die ihre Unfähigkeit, mit erwachsenen Partnern Beziehungen einzugehen, in Übergriffen auf wehrlose Menschen abreagieren. Manchmal sind sie auch identisch. Denn es sind eben nicht nur die sozial schwachen Männer, die in ihrer eigenen Herkunftsfamilie Ablehnung und Gewalt erlebt haben, und die das nun selbst an anderen Schwachen – oft in der eigenen familiären Umgebung – wieder ausleben. Es sind – und man fühlt sich gleich an die Vorgänge um das Leipziger Kinderbordell “Jasmin” erinnert – genauso oft die scheinbar gesellschaftlich Arrivierten, Studierten und Besserverdienenden, von denen auch einige in den Leipziger Modellprojekten betreut wurden.Auch hier decken oft die Personen aus dem familiären Umfeld den Täter, kaschieren das Geschehene, denn es ist auch und gerade in diesen “besseren Kreisen” beschämend. Man spricht nicht drüber. Und der klassische Ansatz, den Missbrauch Minderjähriger als eine krankhafte Erscheinung zu betrachten, hat dieses Schweigen noch unterstützt: Der Täter wurde therapiert, oft sogar geradezu im Galopp gehalten mit einer stringenten und streng überwachten Therapie – das Umfeld aber wurde komplett ausgeblendet.
Doch wirkliche Chancen auf Veränderung hat der Therapierte nur, wenn auch sein Umfeld sich verändert, wenn die Veränderungen dort akzeptiert und begleitet werden. Der Therapierte muss keine Höchstleistung als “Geheilter” vollbringen, sondern findet auch in seinem Umfeld Stärkung für die persönlichen Ressourcen – und er kommt aus der Isolation heraus.
Dass viele Erscheinungsformen der Kriminalität tatsächlich die Kehrseite einer auf Erfolg, Leistung und Perfektion getrimmten Welt sind, wird auch bei den Missbrauchsfällen gegenüber Minderjährigen sichtbar. Es ist eben auch oft der überarbeitete, völlig aus sozialen Grundgefügen herausgerissene Büromensch, der nach viel zu vielen Stunden im einsamen Büro ein Ventil für seine Phantasien oder Nöte sucht.
Dabei zeigt sich so ganz beiläufig, dass das gesellschaftliche Auseinanderdriften eine wesentliche Ursache für viele Erscheinungsformen der Kriminalität ist. Für die zunehmende Entsolidarisierung und menschliche Vereinsamung zwangsläufig auch. Eine solche Gesellschaft von isolierten Teilgruppen tut sich mit Integration und Reintegration logischerweise schwer. “Die da” gehören ja nicht mehr dazu, die sind in Sünde gefallen, gehören “für immer weggesperrt”. Klemm: “Wer die Menschenwürde ernst nimmt, muß sich die Frage stellen, wie Straftäter ihre Chance der Resozialisation tatsächlich verwirklichen können und welche Unterstützung sie im Einzelfall benötigen.”
Sekundärprävention von
Kindesmisshandlung
Torsten Klemm, Leipziger Literaturverlag 2012, 24,95 Euro
Das betrifft eben nicht nur die Missbrauchs-Täter. Es betrifft alle, die mit dem Gesetz in Konflikt kamen. Sie alle brauchen – während und nach der Strafverbüßung – begleitende Unterstützung auch im persönlichen Umfeld, brauchen jedes Maß Hilfe, die ihnen die Stärkung der notwendigen persönlichen Ressourcen ermöglicht. Eine Gesellschaft mit Persönlichkeiten, die über diese sozialen und persönlichen Ressourcen verfügen, ist weniger kriminell als die, die wir haben und in der jeder nur an sich denkt. Eine entsolidarisierte Gesellschaft macht Kriminalität in hohem Maße zum Dauerzustand.
Auch das lernt man so beiläufig beim Lesen dieser weiten Teils eher trockenen Lektüre.
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