Das Gedächtnis einer Gesellschaft ist löcherig. Und grobgerastert. "Skandal!" schreit die offiziöse Republik, wenn ein naiver Piraten-Kandidat den Aufstieg seiner Partei mit dem der NSDAP vergleicht. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht ein Prominenter tief in die braune Suppe greift. Als bestünde Deutschlands Geschichte nur aus 12 besudelten Jahren. Die Weimarer Republik scheint Lichtjahre entfernt. Und mit ihr ihre Protagonisten, zu denen auch der Leipziger Bruno Vogel gehört.

Ist natürlich die Frage: Kann man das den Kurzdenkern der Gegenwart anlasten? Dieses Schmalspurige, Platte, Eindimensionale? Kann es sein, dass auch die von einigen Großmedien gepflegte Hitlerei dazu führt, dass selbst die Enkel und Urenkel wie geblendet sind vom Größenwahn der Nationalisten?

Kann wohl sein.

Das ist nicht neu. Das ist gepflegt. Seit über 60 Jahren. Während man nach 1945 westwärts eifrigst dabei war, die alten Kameraden weiß zu waschen, finanziell zu versorgen und in staatlichen Ämtern neu zu befördern, war das geistige Leben der Weimarer Republik den Machthabern im Osten auf andere Weise suspekt. Man tat sich schwer mit diesem undogmatischen Denken, das Demokratie und Meinungsfreiheit ernst nahm und sich von Parteibonzen nichts sagen ließ.

Entsprechend verschlungen waren die Wege, mit denen Herausgeber auch in der DDR versuchen mussten, die Autoren ihrer Wahl neu zu veröffentlichen. Und in Leipzig bemühte sich einer besonders hartnäckig und einfallsreich: Wolfgang U. Schütte. Er sorgte dafür, dass einige Auswahlbände mit durchaus nicht parteilicher Literatur der Weimarer Republik erscheinen konnten. Er brachte Slang und Lene Voigt wieder in die Verlagskataloge. Und er arbeitete sich nicht nur durch die Archive der Deutschen Bücherei, sondern nahm, so weit es gelang, auch Kontakt zu den Autoren auf. Auch zu Bruno Vogel, der damals in London lebte.

Raimund Wolfert, der mit “Nirgendwo daheim” die erste umfassende und quellenkritische Biografie zu Bruno Vogel vorgelegt hat, kritisiert Wolfgang U. Schütte zwar mehrfach – aber ohne die Vorarbeit des Leipzigers hätte ihm ein Großteil des Materials für die Biografie schlichtweg gefehlt. Denn auf den Nachlass Bruno Vogels, der sich bei Drucklegung des Buches noch in London befand, hat auch er keinen Zugriff bekommen.Dabei gehört der 1898 geborene Bruno Vogel zu den wichtigsten Leipziger Autoren der 1920er Jahre. Mit Hans Bauer, der die Satire-Zeitschrift “Der Drache” herausgab, war er befreundet. Für Furore sorgte 1924 sein Anti-Kriegs-Roman “Es lebe der Krieg!”, vier bzw. fünf Jahre vor den beiden heute noch berühmten Antikriegsromanen “Krieg” von Ludwig Renn und “Im Westen nichts Neues” von Erich Maria Remarque erschienen. Ein Buch, das sofort zum Skandal wurde – nicht nur der Anprangerung des Soldatenelends im Krieg wegen, sondern auch wegen der unverbrämten Schützengrabensprache und der Thematisierung der Männerliebe.

Was Vogel und seinem Verleger Arthur Wolf (Verlag Die Wölfe) 1925 einen der Aufsehen erregenden Prozesse einbrachte, mit denen konservative Kräfte versuchten, Meinungsfreiheit unter dem Deckmäntelchen der Moral und ähnlichem zu unterbinden – später mit dem “Weltbühne-Prozess” noch viel markanter durchexerziert. Gegen Vogels “Es lebe der Krieg!” wurden die Paragraphen zur Gotteslästerung und zur Verbreitung unzüchtiger Schriften in Anwendung gebracht. Während die Anklage wegen Gotteslästerung fallen gelassen wurde, half auch der Beistand von 49 bekannten Intellektuellen – von Thomas Mann bis Siegfried Jacobsohn – nicht, das Urteil gegen das Buch zu verhindern.

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Für Vogel war diese Geschichte wohl prägend. Mehrfach macht sich Raimund Wolfert gerade bei der Schilderung der späten Lebensphase des Emigranten Gedanken darüber, warum Vogels schriftstellerische Arbeit praktisch mit seinem Gang ins Schweizer Exil 1931 abbrach. War es die persönliche Sensibilität Vogels, der mit seiner Homosexualität auch deutliche Abweisung im eigenen Elternhaus erfahren hatte? War es seine berechtigte Angst vor den Sanktionen der Nazis, die erst 1933 an die Macht kamen? Oder war es gar seine Enttäuschung darüber, dass alles aufklärerische Schreiben nicht geholfen hat, den Aufstieg der Nazis zu verhindern? War es die Armut im norwegischen und später südafrikanischen Exil?

Oder war es die von Vogel selbst mehrfach betonte Unfähigkeit, seine Arbeiten selbst zu verkaufen? – Viele Vielleichts. Aber die Akribie, mit der Wolfert das Leben des Leipzigers rekonstruiert, der sich in den frühen 1920er Jahren auch gegen die politische Diskriminierung der Homosexuellen engagierte, lässt die Konturen eines Mannes erahnen, der seine Sensibilität wohl auch hinter bissigem Sprachwitz und geistiger Brillanz verbarg. Zeitgenossen wussten wohl seinen trockenen Humor zu schätzen. Und auch hinter dem Pessimismus und dem Lamento seiner Briefe scheint sich ein Mann zu verbergen, der trotzdem – bei aller lebenslangen Armut – immer lebenspraktisch und weltoffen war.

Mit “Alf” legte er 1929 einen homoerotischen Roman vor, der heute zu den Klassikern des Genres gehört – und genau dieselben Schwierigkeiten erfuhr, für Autor und Verleger einträglich zu werden. Was in diesem Fall auch daran lag, dass sich namhafte Verlage, in deren Programm er eigentlich gehört hätte, mit überfüllten Katalogen herausredeten. Und die mutigen Kleinverleger, die sich ab den 1970er Jahren des Buches annahmen, waren überfordert. Nicht, weil es sich möglicherweise nicht verkauft hätte – auch Hans Mayer wusste die Authentizität des Textes zu schätzen. Aber wer für publizistische Nischen wie eben die Leser homoerotischer Literatur produziert, der hat immer ein Problem, seine Kosten zu decken. Der schafft meist die nötigen Auflagenhöhen nicht, um auch nur die Druckkosten wieder einzuholen.Womit eigentlich das Grundproblem benannt ist, gegen das Bruno Vogel auch in seinen Briefen und einigen Pressebeiträgen polemisierte: die Gettoisierung von Autoren, indem man sie einer gesellschaftlich abgeschotteten Minderheit zuweist. Wie weit das für Vogel ging, zeigt die Schilderung seiner Zeit in Südafrika, das er genau in jener Zeit erlebte, als es sich die Apartheid-Bewegung immer mehr radikalisierte bis das Land – aus Vogels Sicht – fast faschistoide Züge annahm.

Die Bücher, an denen er nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb (die er teilweise als Angehöriger der südafrikanischen Armee erlebte), waren Bücher gegen Rassendiskriminierung – ein Band Kurzgeschichten unter dem Titel “Slegs vir Blankes” (“Whites only”) und ein Roman über die Begegnung eines jungen Schwarzen mit einem älteren Weißen unter dem Arbeitstitel “Mashango”. Beide Bücher sind bis heute nicht erschienen. Nur einige Kurzgeschichten aus “Slegs vir Blankes” erblickten das Licht der Öffentlichkeit und zeigten Bruno Vogel genauso engagiert und persönlich betroffen wie einst in seinen homoerotischen Geschichten. Doch selbst in den 1970er und 1980er Jahren scheint der (westliche) Buchmarkt noch nicht bereit gewesen zu sein für diese Bücher.

Deutlich wird in vielen Reaktionen, dass Vogel keineswegs bereit war, sich als Gallionsfigur der Homosexuellenbefreiung einspannen zu lassen. Immer wieder kommt seine “Inkompatibilität” zum Vorschein, die auch seine jeweils kurzen Zeiten als Angestellter beendete. Doch das Wenige, was über sein Leben in London aufscheint, zeigt keinen verbitterten, weltunfähigen Mann. Im Gegenteil. Wer ihm begegnete, war augenscheinlich von seinem Witz, seinem lebendigen Geist und auch seiner Fähigkeit zum Flirten angetan. Was natürlich das Fehlen von wichtigem Quellenmaterial umso augenfälliger macht.

Wolfert konnte nur versuchen, Vogels Freundschaften und die möglichen Partnerschaften in seinen verschiedenen Lebensphasen zu rekonstruieren. Auch über die Gründe, die zum Bruch mit alten Weggefährten führten, kann er nur spekulieren. Dass er einige Fakten, die Wolfgang U. Schütte bei seinen Recherchen in den 1970er Jahren nicht abklären konnte, gerade rückt, sollte eigentlich selbstverständlich sein. Wer den Quellenanhang aufschlägt, sieht, dass Schüttes Vorarbeit ein wesentlicher Grundpfeiler für Wolferts Arbeit war. Der nun freilich als Erster wirklich die Arbeit investierte, ein komplexes Lebensbild zu zeichnen von einem Schriftsteller, der auch von einschlägigen Lexika immer wieder unterschlagen wird.

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Nirgendwo daheim
Raimund Wolfert, Leipziger Uni-Verlag 2012, 29,00 Euro

Das Buch bereichert unübersehbar die Sicht auf das literarische Leben in Leipzig in den 1920er Jahren, gibt einem Autor wieder Gesicht, dem Freiheit immer wichtiger war als die Zugehörigkeit zu irgendeinem Verein. Auch das Angebot des Leipziger Oberbürgermeisters Erich Zeigner, nach dem Krieg in seine Heimatstadt zurückzukehren, schlug er aus. Er war – so wie es Wolfert dann zum Titel machte – “nirgenwo daheim”. Auch nicht in London, wo er ab den 1950er Jahren lebte. Die wenigen Briefzitate, die Wolfert bringt, lassen ahnen, was für ein ironischer und respektloser Autor er sein konnte. In diesem Tonfall eigentlich eher eine Type wie Karl Kraus. Mit dem ihn noch etwas anderes vereint: seine teilweise tschechischen Wurzeln. Vom Titelbild schaut er den Betrachter denn auch mit einem verschmitzten Lächeln wie Josef Schwejk an.

So ein bisschen scheint er tatsächlich ein Leipziger Schwejk gewesen zu sein – einer, der am Nikolaigymnasium sein Abitur gemacht hat, mit Ach und Krach. Notabitur nannte man das damals. Und dann ging’s Hals über Kopf in den Krieg, denselben, den auch Josef Schwejk erlebte. Die Geschichte von “Nie wieder Krieg!” wurde weiter oben ja schon erzählt.

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