Als Verleger mag er selbst das kleine Format: schmale, handliche Bücher, in denen Autoren wieder mit Sprache spielen und arbeiten. In denen sie Sprache als brauchbares und reichhaltiges Material betrachten. Das ist etwas anderes als das, was für gewöhnlich moderne Sprach-Experimentierer machen. Denn es setzt Belesenheit voraus. Und Bertram Reinecke ist selbst ein Belesener.
Der 37-Jährige hat auch fleißig studiert – Germanistik, Philosophie und Psychologie an der Universität Greifswald, bevor er zum Studium am Deutschen Literaturinstitut nach Leipzig kam. Zwei Gedichtbände hat er schon veröffentlicht. 2009 gründete er mit Tim Voß den Verlag Reinecke & Voß, den er mittlerweile allein betreibt.
Nun hat er für seinen dritten Gedichtband einen anderen ungewöhnlichen Verlag gewählt, der aus der Not der modernen Literatur eine Tugend macht: den vom Schweizer Urs Engeler gegründeten Verlag Roughbooks, der sich gar nicht erst auf die Schlacht mit Stapeltiteln, Bestsellerlisten, Marketingkampagnen und Bestellkontingenten einlässt. Die Vielfalt der modernen Veröffentlichungswege ist nicht nur ein Problem, sie ist auch eine Chance. Und so verkündet die Website auch gleich unüberlesbar: “Die herkömmlichen Wege des Buchhandels funktionieren nicht mehr. Daher gibt es jetzt die roughbooks-Poesie im Digitaldruck und Direktvertrieb.”
21 anspruchsvolle Titel liegen bei Roughbooks mittlerweile vor. Bertram Reineckes “Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst” ist die Nummer 19. Der Titel trägt eine doppelte Botschaft. Einmal ist es der namentliche Verweis auf ein historisches Sprachlehrbuch. In einer kleinen Textserie montiert Reinecke Phrasen aus dem Lehrbuch aneinander, mit dem einst junge Menschen nicht nur Hochdeutsch lernten, sondern auch eine Welt von Sitten, Weltsichten und Vorurteilen kennen lernten. Denn selbst wenn sich Lehrbuchautoren Mühe geben: Sie kommen nicht aus ihrer Haut. Selbst die einfachsten Aussagesätze verraten ihren Ursprung. “Welchen Besen hat der Bediente?” – “Er hat den seinigen.” Ganz verräterisch sind die Besitzanzeigen. Manche dieser kurzen Texte lesen sich in der Raffung, die Reinecke vornimmt, wie die Suche der Polizei nach einem ganz gewieften Dieb.Um Dieberei geht es auch in anderen Texten. Denn nichts war ja in den letzten Jahren der Faulen-Kredite-Blase so hochaktuell wie die holländische Tulpenkrise von 1637/1638, die Reinecke im Stil eines Sonetts von Andreas Gryphius verarbeitet: “O Teur erworben Gut!” Womit man schon mittendrin ist in Reineckes Art, mit den Themen der Gegenwart umzugehen: Er collagiert. Das tun auch andere Dichter. Manche variieren dann auch, persiflieren, imitieren, zitieren, schreiben Hommagen oder nutzen einfach die Stilmittel ihrer Vorbilder, und zwar so, dass der Leser es merkt. Denn darum geht es: Man akzeptiert den Lesenden als Gleichgesinnten und traut ihm zu, die Wurzeln der Gedichte zu kennen und wiederzuerkennen.
Das erfährt man normalerweise weder im Unterricht noch im Studium. Ein ordentliches Buch, das einmal die landläufigsten Techniken versammelt, mit denen Dichter andere Dichter durch Anverwandlung ehren, gibt es auch noch nicht. Es gibt auch genug Autoren, die sogar sehr bemüht sind, ihre Herkunft und ihre Quellen zu verschleiern. Reinecke aber macht die Enthüllung der Quelle und das Spiel mit dem vorhandenen Textmaterial zur Methode. Das zwingt logischerweise zur Strenge. Wer Gryphius zitiert, muss sich seine Sprachhaltung aneignen. Bei Dante wird es etwas schwieriger, denn seine “Göttliche Komödie” liegt ja in verschiedenen, alle sehr zeitgeprägten deutschen Übersetzungen vor. Aber Reinecke nutzt auch das, um dem Leser Futter zum Lesen zu bieten: Das ist einer der wenigen Gedichtbände, die ein etwas umfassenderes Anmerkungsbündel haben. In diesem hier wird, wo der Text es selbst nicht verrät, die Quellenlage erläutert.Und in Sachen Dante bezieht sich Reinecke zwar auf Karl Steckfuß, collagiert aber trotzdem fröhlich drauf los. Man merkt’s nur nicht gleich. Denn eine gute Collage verrät auch die Machart des Meisters. Und Dante hat, um den strengen Versnormen seiner Zeit zu genügen, auch viel gestische Luft in seine Strophen geblasen. Dass die Verse trotzdem miteinander funktionieren, ist schon famos. Und man fühlt sich an so manchen Gedichtband erinnert, den man von berühmten Leuten las – und die Erleichterung, wenn man das Buch endlich “durch” hatte.
Wenn Reinecke dann freilich die Dichter des 17. Jahrhunderts – Simon Dach etwa – zum technischen Muster nimmt, um ein moderneres Thema und das Motiv eines heutigen Dichters zu verarbeiten, wird spürbar, wie komplex Sprachmaterial tatsächlich funktioniert und wie stark es mit dem Gestus der Epoche (hier des deutschen Barock) verquickt ist. Was zumindest bei den großen deutschen Barockdichtern bis heute eine nicht geringe Faszination ausmacht. Schon eins der nächsten Gedichte im Stil der Christiana Mariana von Ziegler zeigt, wie sehr nur ein Jahrhundert später der Stil über den Inhalt dominierte. Die Zieglerin, Tochter des Leipziger Bürgermeisters Romanus, wird zwar zur Aufklärung gezählt. Doch gerade in der Lyrik konnten sich die deutschen Dichter in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht dazu durchringen, wieder wesentlich zu werden, wie es Lessing forderte. Man tändelt und disputiert und reimt mehr über Dichterey, als dass man dichtet.
Was Reinecke in fröhlicher Variation persifliert, bis hin zum Schäfergetändel der Zeit: “Ob gleich die, so er liebt, ihn nur mit Worten speist”.
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Spätere Texte im Band sind geradeso Zitat-Collagen gleich von mehreren Dichtern – von Eichendorff bis Däubler, von Brentano bis Fontane. In einem Text eignet er sich den Dada-Gestus mit einem Lutherzitat an. Und in den “Prolegomena zu einer künftigen Metaphysik des Gehens” (in der es tatsächlich um die vielfältigen Weisen des Gehens geht) darf der Leser dann wohl selbst auf die Suche gehen, mit welchen berühmten und nicht ganz so berühmten Versatzstücken der Dichter sich durch die Materie arbeitet. Es wird gegoethet und gehölderlint und selbst Majakowskis “Wolke in Hosen” fehlt nicht. Mit den “Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik” ist man dann eh schon bei Kant, der sich in diesem Fall mit Adorno und seiner Behauptung “Es gibt kein richtiges Leben im falschen” / “Es gibt kein richtige Gehen im Falschen” vertragen muss.
Das letzte Wort aber hat Hölderlin: “Aber bös sind die Pfade …”
Wer seine Entdeckerfreude mit Reineckes Texten ausleben will, sollte zumindest das Wichtigste aus dem haltbaren Teil deutscher Lyrik kennen, irgendwann mal kennen gelernt oder sich freiwillig erobert haben. Und auch bereit sein, den Collagisten mit heiligstem Material bauen, variieren und auch konterkarieren zu sehen. Was – ehrlich gesagt – erholsam ist, wenn man zu viele Gedichtbände der moderne Wortlosigkeit gelesen hat. Man weiß dann wieder: Es gibt die Alten noch. Und ihre Sprache lebt.
Bertram Reinecke “Sleutel voor de hoogduitsche Spraakkunst”, Roughbook, Leipzig, Berlin und Solothurn 2012, 8,50 Euro
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