Die deutsche Schule kennt Klaus H. Sindern von innen. Mehr als 30 Jahre lang war der heute 68-Jährige Lehrer und Seminarausbilder in Bielefeld. Könnte man ja sagen: Was geht uns das an? Das ist doch irgendwo im Nordzipfel von Nordrhein-Westfalen. In Sachsen sind wir doch viel besser! Und anders. Und sowieso. Wer in Sachsen derzeit Lehrer ist, weiß, dass das ein Trug ist.

Seit 22 Jahren hat der Freistaat dieselbe Art Schule. Etwas dunkler eingefärbt in den Farben von Bayern und Baden-Württemberg. Die Malaise ist dieselbe. Sie hat mit politischen Scheuklappen zu tun. Aber auch mit bürokratischer Sturheit und der Angst davor, Bildung tatsächlich als Bildung zu verstehen.

Schon in seinem 2009 erschienenen Buch “Tamagotchi Schule. Warum Schule nicht gelingen kann” analysierte Sindern, wie deutsche Schule funktioniert – und warum sie tatsächlich nicht funktioniert. Das neue Büchlein “Bilde dich!” erschien pünktlich zur Buchmesse, streng in Grau gefasst mit leuchtender weißer Schrift. Es sieht aus wie die diversen Aufrufe-Büchlein, die seit einiger Zeit in deutschen Verlagen erscheinen. Es begann vor einem Jahr mit dem Bändchen “Empört euch!” von Stephane Hessel. Der Ullstein Verlag ließ dem wenig später noch den Hessel-Band “Engagiert euch!” folgen.Vielleicht leben wir tatsächlich schon in Zeiten, in denen man die Mitmenschen mit simplen, klaren Aufrufen daran erinnern muss, dass ihr Schicksal und das ihres Landes in ihren eigenen Händen liegen, dass nichts und niemand für sie die Verantwortung übernehmen und “alles gut” machen kann. Im Gegenteil. Die Freiräume, die der Bürger den Regierenden (und der grauen Lobby-Meute im Schatten) überlässt, die werden von in der Regel kriminellen Elementen weidlich ausgenutzt. Die moderne Gesellschaft braucht den mündigen Bürger. Und mündig wird der Bürger erst, wenn er aufgeklärt und gebildet ist.

Und da ist man mitten in der deutschen Schule und all ihren gewachsenen Missverständnissen. Denn irgendwo zwischen den Reformansätzen im Zeichen des Humanismus und den heutigen PISA-Tests ist etwas Wesentliches verloren gegangen. Nicht ohne Grund zitiert Sindern in seinem Plädoyer einen gewissen Konfuzius, der schon vor 2.000 Jahren recht sinnfällig erklärte, was passiert, wenn man den Dingen die falschen Begriffe zuweist und dann folgerichtig das Falsche tut und das Richtige nicht getan wird. Die falsche Zuweisung steckt in den Worten Bildung und Ausbildung. Und Sindern zitiert, um seinem Leser klar zu machen, worum es geht, sogar Goethes “Wilhelm Meister”, den klassischen deutschen “Bildungsroman”. Und Bildung ist etwas anderes als Ausbildung.

Und die schlichte Wahrheit ist: Schule in Deutschland bildet niemanden, sie bildet nur aus. Die Dominanz des unnützen Fakten- und Formelwissens, die vielen Kindern die Schule verleidet, hat mit diesem Missverständnis zu tun.

Der auch für Eltern zu Dilemma wird: Wie kann man Kindern guten Gewissens in die Schule schicken, wenn man weiß, dass der gelernte Wissensballast für Leben und Beruf so unnütz ist wie das Gebrabbel einer Talkshow? – Nur: Es herrscht ja Schulpflicht in Deutschland. Jedes Kind muss dieses Schulsystem durchlaufen und einen benoteten Abschluss erlangen, möglichst den höchsten. Danach wird es später bei seinen Berufsbewerbungen gewichtet. Es zählt nicht, was ein Mensch tatsächlich kann, wie befähigt er ist, Dinge zu begreifen und zu tun. Ja überhaupt zu verstehen, worum es geht. Die politischen und wirtschaftlichen Skandale der jüngeren Zeit haben ja nicht damit zu tun, dass die Gestrauchelten vielleicht mal einen kleinen “Freundschaftsdienst” annahmen oder ein bisschen “schummelten” bei ihrem Titelerwerb. Der Skandal ist eigentlich, dass sie fachlich überhaupt nicht für ihren Job geeignet waren und das trotz Schul- und Studienabschluss. Denn mit einem solchen ist man zwar irgendwie ausgebildet, oft genug leider auch eingebildet. Aber gebildet ist man dann nicht unbedingt.

Denn bilden kann man sich nur selbst. Das Ziel von Bildung ist das ganz alte, das einst Immanuel Kant formulierte: “Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.” Ein Satz, den jeder Schüler einmal vorgesetzt bekommt. Aber begreifen werden ihn nach den Vorgaben der Lehrpläne die wenigsten. Auch nicht, dass es eine Aufgabe ist für jeden einzelnen – nämlich aus dem schulischen Korsett auszubrechen, das leider ein rein auf Faktenwissen programmiertes Eintrichtern ist. Und ein Betrug. Denn um gute Noten zu erlangen, werden die meisten Schüler gezwungen, zu betrügen, sich Wissenshappen anzueignen, die in Testaten und Prüfungen abgefragt werden – und danach vergessen werden können. Weil sie niemand braucht.Wer sich nicht anpasst, nicht tut, was abverlangt wird, der scheitert im deutschen Schulsystem. Das ist die Tragik. Und das ist das Erschreckende, wenn man mit Sindern zum Ur-Irrtum zurückgeht. Die deutschen Schulen bilden Trickser, Betrüger und Angepasste aus, die schnell verinnerlichen, dass es nicht darauf ankommt, Dinge zu verstehen, komplexe Sachverhalte zu begreifen, sich die Fähigkeit zum Selberdenken anzueignen, sondern darum, eine Antenne dafür zu entwickeln, was der “Lehrplan” am Ende tatsächlich verlangt, damit man eine möglichst gute Note bekommt.

Selten, dass ein Lehrer oder eine Lehrerin tatsächlich die Kraft und die Zeit finden, Kinder fürs Lernen zu begeistern. Die meisten resignieren in ihrem Beruf, selbst überfordert mit den Lerneinheiten, die sie den Kindern fristgerecht beibringen sollen. Die Zeit für das Eigentliche, die Förderung selbstbewusster, kluger Persönlichkeiten, fehlt. Oft genug hat man das flaue Gefühl: Genau das soll auch gar nicht passieren.

Kinder lernen dann irgendwie, mit diesem System und seinen Schubladenerwartungen umzugehen. Und die meisten machen nach der Schule einfach so weiter – und werden niemals das, was sich Kant & Co. einst gewünscht haben: gebildete Bürger einer aufgeklärten Gesellschaft.

“Mach dich selbst auf den Weg”, ist Sinderns Botschaft. Eine sehr persönliche. Denn viele Menschen vergessen auf dieser Anpassungstour, dass es eigentlich ihr Leben ist. Und dass sie Verantwortung für sich, ihre Nächsten und diese Welt tragen, dass der oberflächliche “Spaß” das Wichtigste übertüncht: die Freude am Lernen, Entdecken und sich selber bilden. Bilden kann sich nur jeder Einzelne selbst. “Der gebildete Mensch versteht sich als Teil der Gesellschaft, in der er lebt, als Teil der Natur, die ihn umgibt, als Teil der Welt und ihrer Vielfalt, als Teil eines Universums in seiner Unendlichkeit.”

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Bilde dich!
Klaus H Sindern, tologo Verlag 2012, 3,99 Euro

Und wer das alles weiß, der weiß auch, was getan werden kann und was zu tun ist. Der lässt sich mit den “Sachzwängen” und “Unausweichlichkeiten” der Basta-Menschen nicht abspeisen. Der Weg dahin ist nicht einfach, aber aufregend und bereichernd. Und das Ergebnis ist für die Eingebildeten wahrscheinlich hochgradig beängstigend. Sie reagieren mit Angst und manchmal auch mit martialischer Drohkulisse und stempeln das Beunruhigende dann gern ab – mal als “Wutbürger”, mal als “Ruhestörer”. Denn sie wissen auch, dass ihr Immer-weiter-so mit wirklich gebildeten Bürgern nicht funktionieren würde.

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