Paul-Henri Campbell ist ein Weltenwanderer, ein Grenzüberschreiter. Nicht nur, weil er in zwei Sprachen schreibt, englisch und deutsch. In Boston geboren, lebt er in Leipzig. Er hat schon einen zweisprachigen Gedichtband veröffentlicht, dies ist sein zweiter. Und der beschäftigt sich mit einem der größten Mythen des 20. Jahrhunderts.
Es ist der Beginn der Weltraumfahrt, das goldene Zeitalter des Rennens zum Mond, das Mitte des Jahrhunderts auch die US-amerikanische Science Fiction befeuerte. Das Feuer ist erloschen. Der technische Optimismus ist einem düsteren Fatalismus gewichen. Selbst der alte Dualismus ist verschwunden zwischen den Russen und den Amerikanern, der Mythos der Supermächte ist angekratzt. Und 51 Jahre nach Juri Gagarins Weltraumflug wirkt das, was den Fortschrittsglauben eines ganzen Jahrhunderts befeuert, schon längst nostalgisch, wie eine Legende aus einem vergangenen Zeitalter.
Was nicht unbedingt an der Legende liegt. Mit dem Space Shuttle hatten ja auch die US-Amerikaner ein Fahrzeug, das für ein neues Kapitel in der Erforschung des Weltalls stand. Bis 1986 die “Challenger” kurz nach dem Start explodierte. Die gigantische Explosionswolke überstrahlte auch nachhaltig den Glanz des ruhmreichsten Kapitels der amerikanischen Raumfahrt: die Apollo-Missionen zum Mond. Bis heute war – außer den amerikanischen Astronauten – noch kein Mensch aus einer anderen Nation auf dem Erdtrabanten.Die Geschichte der Raumfahrt ist zu einer Geschichte aus Legenden geworden. Völlig offen die Frage, ob die Amerikaner jemals wieder anschließen können an die Zeit ihrer großen Erkundungsprogramme, oder ob eher Chinesen und Japaner jetzt die Führungsrolle bei der Weltraumerkundung einnehmen.
Paul-Henri Campbell macht mit den großen Zeiten der Raumfahrt das, was man eigentlich nach einem so langen Zeitraum fast erwarten könnte: Er besingt sie. Vom Sputnik-Schock, mit dem 1957 die Sowjetunion nicht nur zeigte, dass sie das Zeug dazu hatte, mit den US-Amerikanern den Wettstreit im Erdorbit aufzunehmen, sondern auch, dass von nun an die amerikanische Landmasse jederzeit von sowjetischen Raketen erreicht werden konnte, bis zum Hubble Space Telescope. Das ist die unbemannte Gegenwart, die die Fachleute und die neugierigen Laien trotzdem mit erstaunlichen Einblicken in die Tiefen des Weltalls verblüfft, in die eine menschliche Expedition wohl niemals aufbrechen wird.
Der große Traum vieler SF-Autoren zerrinnt. Und zwar jetzt, an der Schwelle des 21. Jahrhunderts. Und nicht, weil die Menschheit nicht dazu in der Lage wäre, zumindest den näheren Weltraum zu erobern. Das liegt in ihren Möglichkeiten. Doch das US-amerikanische Raumfahrtprogramm zeigt exemplarisch, warum das Rennen so ins Stocken geraten ist: Die Mittel für die wichtigsten NASA-Programme wurden zusammengestrichen, während das reichste Land der Erde seine Kräfte und Ressourcen in zwei sinnlosen Kriegen verpulvert hat. Und in einer weiteren Steuersenkungsschraube, die auch die USA in ein gigantisches Schuldenloch getrieben haben.
Aller paar Wochen erfreut zwar eine Meldung über diverse private Versuche, ins Weltall zu gelangen, die Welt. Aber mit einer systematischen Erforschung des Weltalls und des Sonnensystems hat das nichts zu tun.
Tatsächlich ist die große Vision der amerikanischen Raumfahrt schon 1986 explodiert. Gerade die Challenger steht symbolisch für die ersten Kürzungsrunden unter Ronald Reagan, der auch den neoliberalen Umbau der USA forcierte. Campbells Poem über die Challenger-Katastrophe ist einer der englischsprachigen Beiträge in diesem Band: “The Wreck of the Space Shuttle Challenger”. Die Sekunden der Explosion hat er in neun Strophen aufgesplittet – beginnend von jenem jauchzenden “Yes”, das jeder Raumfährenstart war: ein Yes zur Erkundung des Unerkundeten, ein Yes zum ganz großen Wagnis, ein Yes auch zur friedlichen Erkundung der Welt. Man zählt sich mit Campbell hinauf bis zur Neun, die eigentlich der Tiefpunkt ist: das Wrack der Raumfähre im Meer.Wer an Walt Whitmans und sein “Ich singe Amerika” denkt, der liegt wohl richtig. Es ist fast derselbe Atem. Es sind nur anderthalb Jahrhunderte mehr Erfahrung mit dem American Way of Life, der zu Whitmans Zeiten durchaus noch als ein Weg zu Chancengleichheit und einer Befreiung des Unternehmensdranges gesehen wurde. Whitman zitiert Campbell mehrfach. Auch die “Sonette an Apollo” sind eher 18 Strophen aus einem großen Gesang, in dem die große Reise zum Mond mit ihren Höhen und Tiefen im Mittelpunkt steht, als der Versuch, jetzt mustergültige Sonette zu schreiben.
Auch wenn Campbell gern zeigt, dass er die Lyrik der Weltliteratur kennt. In “Der Tod von Juri Gagarin” spielt er die Klaviatur an, zitiert die klassischen Metren von Schiller bis Rimbaud, besingt Gagarin als “spätbolschewistischen Ikarus”, beschreibt seine einstündige Einsamkeit in der Weltraumkapsel mit der Eleganz von Rilkes “Der Panther” und verwandelt das grandiose “O Captain! My Captain!” von Walt Whitman in einen Gesang auf “O Juri! mein Juri!”
Zwischen den einzelnen Heldenkapiteln der Weltraumfahrt gibt es auch immer wieder Gesänge, die die rein irdischen Versuche der Eroberung des Himmels besingen – die Welt der Wolkenkratzer etwa oder (als tragisches Schicksal) den Tod des großen Gatsby, mit dem auch die “Roaring Twenties” zu Grabe getragen wurden.
Space Race
Paul-Henri Campbell, fhl Verlag Leipzig 2012, 14,00 Euro
Die Challenger-Katastrophe hätte durchaus das letzte Kapitel dieses großen Gesangs auf das Zeitalter der Raumfahrt sein können. Aber so ganz wollte Campbell hier wohl nicht die Trauer allein walten lassen. In vier Strophen besingt er dann noch das Hubble Teleskop, wird auch hier, wie er es gern wird, philosophisch. Und lässt den Leser mit offenen Fragen ziehen. Denn dazu regen ja die grandiosen Hubble-Aufnahmen aus den Tiefen des Weltalls an: “ein Bild wie aus einem Absinthrausch”. Und es bleibt die Frage: Wozu? Die die Frage einschließt: Wohin?
Und eine Antwort könnte sein: Zum Schauen.
Ein Philosoph aus den Tiefen des 18. Jahrhunderts hätte an dieser Stelle vielleicht gesagt: Dieses gigantische Weltall braucht jemanden, der es bewundert und begreift, wie schön es ist.
www.paulhenricampbell.com
Keine Kommentare bisher