Es ist ein schleichender Gewöhnungsprozess. Zeitungen melden Rekorde bei Managervergütungen, bei angehäuftem Vermögen in Deutschland (10 Billionen Euro), beim Export, die offiziellen Arbeitslosenzahlen sinken. Doch die Armut in Deutschland wächst. Still und heimlich. Wer redet schon darüber, dass er sich von seinem Geld nichts mehr leisten kann? - Eine ganze Reihe Menschen, wie Adelheid Wedel feststellen konnte.
Mit den richtig Armen, die sich gar nicht mehr zu helfen wissen und die auf staatliche Hilfe ganz und gar angewiesen sind, sprach die Rundfunkjournalistin diesmal nicht. Das ist ein anderes Thema, das auch deutlich öfter in den Medien behandelt wird. Doch was in den letzten Jahren um sich greift, ist eine stille Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, denen man (noch) nicht ansieht, wie arm sie sind. Rentner, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben, Hochschulabsolventen, die nach ihrem Studium von einem prekären Job zum nächsten hangeln, Künstler, die sich von Projekt zu Projekt darben, Menschen nach einer bunten Karriere in allen möglichen “Arbeitsmarktinstrumenten”.
Neun von ihnen trifft Adelheid Wedel bei ihren Fahrten durch die Republik, nicht nur im Osten, auch wenn ein Großteil ihrer Gesprächspartner nicht ganz zufällig im Osten lebt, wo die modernen Instrumente der Marktliberalisierung schon seit 22 Jahren flächendeckend angewendet wurden. Mit entsprechenden Ergebnissen in der Breite. Doch es ist kein Ost-Phänomen. Denn der Abbau staatlicher Leistungen, das Kürzen von Stellen im öffentlichen Dienst, das Kürzen von Kulturbudgets, die bürokratische Regulierung der Armut sind deutschlandweite Phänomene. Begleitet durch einen Abbau der klassischen, unbefristeten Beschäftigung in der Wirtschaft.
In ihren Interviews lässt Wedel ihre Gesprächspartner erzählen über das Leben ohne Puffer, die Konsequenzen der Geldknappheit auf ihr Leben, ihre Rezepte, damit umzugehen und sich auch nicht klein kriegen zu lassen. Denn auch das ist ja mittlerweile wissenschaftlich bestätigt: Armut schränkt nicht nur gesellschaftliche Teilhabe und Bildungschancen ein, sie führt auch zu einer Verarmung der gesellschaftlichen Kontakte, zu einer Abkopplung von relevanten Informationen und zu einer Einschränkung der Lebensqualität vom Essen bis zur Kleidung.Gleichzeitig unterliegen alle, die auf die Unterstützung der entsprechenden Behörden angewiesen sind, auf einmal einer radikalen Kontrolle. Sie müssen – wie es ein Gesprächspartner drastisch ausdrückt – “die Hosen runterlassen”, Auskünfte über jeden gesparten Cent geben. Auch Lebenspartner werden radikal zur Kasse gebeten. Weigerungen, die Auflagen eine Sachbearbeiters zu erfüllen, werden mit drastischen Strafen belegt – von der Kürzungen der “Leistungen” (Wer leistet hier eigentlich was?) bis zum kompletten Versagen derselben. Wer sich in die Fänge des Amtes begibt, muss spuren und alle Tätigkeiten annehmen, die ihm vermittelt werden, ganz egal, wie menschenunwürdig sie sind.
Das war der Geniestreich der “Reformer” um den spendablen VW-Manager Peter Hartz: Sie haben die Menschenwürde komplett herausredigiert aus der deutschen Arbeitslosenhilfe. Und damit das europaweit einmalige Instrument geschaffen, mit dem jeder Bedürftige zu Arbeiten gezwungen werden kann, die weder zum Leben reichen noch familienverträglich sind. Auch Mütter kommen hier zu Wort, die erlebt haben, wie gnadenlos Sachbearbeiter sind. Wenn menschliche Mindeststandards nicht Grundlage der Arbeitsmarktgesetze sind, kann man Sachbearbeiter nicht zwingen, menschlich zu walten. Im Gegenteil. Städte wie Leipzig – oder in diesem Buch exemplarisch Berlin – laden ihre eigene Hilfs- und Geldlosigkeit bei den Jobcentern ab und verpassen den Mitarbeitern Quoten und Bringepflichen. Frei nach dem Motto: Egal, wo die Leute bleiben, Hauptsache, sie kommen raus aus der Statistik.
Dass dabei Familie, Partnerschaften, Kindheitsentwicklungen vor die Hunde gehen – all das spielt keine Rolle. Dass die so verwendeten Instrumente längst selbst dazu beitragen, das Lohnniveau im Land zu senken, interessiert die Sachwalter augenscheinlich wenig. Das hat ja den schönen Nebeneffekt: Die Armutsgefährdungsquote steigt nicht weiter. Sie liegt seit ein paar Jahren stabil bei 14 Prozent. Der Hauptgrund dafür: Die genialen Arbeitsmarkt-Instrumente der Hartz-Kommission haben dazu geführt, dass auch weite Teile des Mittelstandes in die Abwärtsspirale gerieten, ihre festen Einkommen verloren. Das Ergebnis: Während in allen europäischen Nachbarländern das durchschnittliche Lohnniveau um teilweise zweistellige Prozentzahlen anstieg, sank es in Deutschland um 0,8 Prozent. Gleichzeitig explodierten die Einkommen und Vermögen der reichsten 10 Prozent in Rekordhöhen.
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Wedel ließ es nicht bei den sehr einfühlsamen Interviews, die auch zeigten, wie kreativ und energisch die Betroffenen gegen die Leere in ihrer Börse ankämpften, wie sie flexibel immer neue Herausforderungen annahmen. Ein umfassender Teil des Buches sammelt die klugen und nachdenklichen Texte von Leuten, die sich – teils in praktischer Arbeit, teils theoretisch – mit der Schieflage in der deutschen Wirtschaftspolitik beschäftigen. Denn Armut ist ja nur Ergebnis vieler Prozesse. Und sie hat Folgen. Nicht nur für die direkt Betroffenen, sondern auch für die ganze Gesellschaft. Das beginnt damit, dass Eltern, die gezwungen sind, in zwei und mehr prekären Jobs den Familienunterhalt zu verdienen, keine Zeit mehr haben, sich um die Kinder zu kümmern. Da leiden die einen darunter, dass sie keine anspruchsvolle Arbeit bekommen und sich wertlos fühlen müssen, weil eine völlig vom Geld besessene Gesellschaft nur eine gut honorierte Arbeit als gesellschaftsfähig akzeptiert. Und die anderen reiben sich in ihren Jobs auf, kennen keine regulären Arbeitszeiten mehr, weil ihnen die Angst im Nacken sitzt, sie könnten Job und Status verlieren.
Die Klügeren haben es ja schon begriffen, dass “Hartz IV” nur in erster Linie die schlechter qualifizierten Arbeitskräfte meinte, die ein paar völlig durchgedrehte Politiker so gern auch mal als “Sozialschmarotzer” bezeichnen. Das eigentliche Ziel der “Hartz IV”-Reform war der noch gut situierte Mittelstand, für den das drohende Abrutschen in die Bedürftigkeit die schärfste Peitsche ist. Und tatsächlich ist es so, dass da die Angst längst manifest ist. Man guckt nicht mehr auf die Uhr und schreckt leichenblass zusammen, wenn der Chef fragt: Sie wollen schon nach Hause gehen?
Da entstehen unheilige Gemeinschaften der in Angst Zusammengeschweißten. Thema für ein eigenes Buch mit ganz eigenen Schwerpunkten. Denn diese Menschen kann man durch den drohenden Absturz nicht nur zu immer größeren Leistungen anspornen, man kann sie auch viel leichter gegeneinander ausspielen und selbst zu Dumping-Anbietern ihrer Leistungen machen.
Das frisst sich seit 2005 so nach und nach durch die ganze Gesellschaft. Von unten nach oben, lässt in ganzen Branchen das Lohnniveau abstürzen und Menschen bereitwillig zu Konditionen arbeiten, die ohne staatliche Unterstützung nicht mal zum Bezahlen der Miete ausreichen. Womit dann auch Hunderttausende, die eigentlich Woche für Woche schwer schuften für ihr Gehalt, trotzdem als Bettler im Jobcenter auftauchen und “die Hosen runter lassen müssen”. Das Ergebnis ist logischerweise eine Scham, die nun auch Gesellschaftsschichten erfasst, die vorher nie Grund hatten, sich zu schämen. In Zeiten, als der Lohn ausreichte, eine Familie ordentlich zu ernähren.
Und das Perfide an dieser Scham ist: Man darf nicht zeigen, dass man “so weit runter” gekommen ist. Sonst stürzt man ganz ab, verliert auch noch das so wichtige Prestige, sein Leben mit eigener Arbeit im Griff zu haben.
Und das kann missbraucht werden. Einige Autoren sprechen hier von einer “manipulativen Gesellschaft”: Man schafft die Bedingungen, damit Menschen manipulierbar werden. Was nicht nur Autokraten in Russland erstaunlich große Freiräume schafft, die Gesellschaft in ihrem Sinne (und im Sinne ihrer Lobby) zu verformen. Nichts ist so leicht zu manipulieren wie Menschen, die Angst haben.Zwar schafft es Deutschland so, mit flächendeckendem Lohndumping die europäischen Nachbarländer niederzukonkurrieren. Aber da man dasselbe auch bei den Steuersätzen gemacht hat, gibt es das nächste Phänomen: der einstige Exportweltmeister ist bis über beide Ohren verschuldet und “sieht sich gezwungen”, flächendeckend staatliche Leistungen abzubauen, seine Bürger also auch noch bei wichtigen Unterstützungsleistungen im Stich zu lassen.
Mit ausführlichen Beiträgen kommen im Buch der Sänger Hans-Eckart Wenzel, der Unternehmer Götz W. Werner und die Psychologin Eda Hammermüller zu Wort. Der Journalist Axel Schmidt-Gödelitz erzählt davon, was es bedeutet, wenn Menschen nicht mehr an relevanten gesellschaftlichen Informationsprozessen teilhaben, die Lehrerin Doris Hoppe, wie Armut in der Grundschule sichtbar wird (und wie die modernen Reformer die Lehrer zusätzlich überlasten, wenn sie mit jahrgangsübergreifendem Lernen oder falsch verstandener Inklusion experimentieren) und der Zahnarzt Carl Rolik schildert, wie sehr das deutsche Gesundheitswesen mittlerweile pervertiert ist, seit ein paar neoliberale Bessermacher aus dem Helfer und Heiler einen auf Profit bedachten Unternehmer gemacht haben.
Das Wörtchen Neoliberalismus kommt natürlich ein paar mal vor in diesem Buch, denn es ist ja nicht nur eine Mode. Es ist eine – mit wissenschaftlichem Brimborium – untermauerte Ideologie, die in Ländern wie England oder den USA längst zeigt, wie sie staatliche Leistungen demoliert. Nicht im Interesse der Allgemeinheit, sondern der einiger weniger, die dabei ihren Reibach machen und schon jetzt nicht mehr wissen, wohin mit dem Geld. Denn Geld, das den Wirtschaftskreisläufen entzogen ist, wird zur lauernden Gefahr. Für die ganze Gesellschaft. Es ist Geld, das immer nach dem “nächsten Schnäppchen” Ausschau hält – das kann ein aus Not verkauftes städtisches Unternehmen sein, ein Stück Ackerboden in Mecklenburg, auf dem man dann Biomasse für Bio-Sprit anbauen kann, oder ein lukratives kleines Unternehmen, das gerade in einer Kreditklemme steckt.
Am Ende findet Adelheid Wedel – genau wie Stephane Hessel – dass es an der Zeit ist, sich zu empören und einzumischen und all diese Rahmenbedingungen wieder zu ändern. Der Preis, den die ganze Gesellschaft für die Rendite einiger Weniger zahlt, ist zu hoch. Mittlerweile leidet halb Europa unter diesem ganz speziellen deutschen Wahnsinn.
So gesehen fehlt natürlich ein Kapitel über die Unfähigkeit wichtiger Vertreter der deutschen Elite, Empathie oder gar Verantwortung zu empfinden. Denn auch das ist Armut. Es ist die andere Seite der Armut. Vielleicht die schlimmere. Nur das richtige Leid, das erfahren all die, die zur Spielmasse der Kürzungen, Aussonderungen und Kontrollinstrumente geworden sind.
Ein einfühlsames, aber auch mahnendes Buch.
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