"Sonar" nennt der Verlag Voland & Quist die Reihe, mit der er in ost- und sรผdosteuropรคischen Literaturen auf Erkundung geht und immer wieder Autoren ins Deutsche holt, die die Faszination รถstlichen Erzรคhlens erfahrbar machen. Denn die Faszination gibt es. Melancholie, Ironie und eine gewisse schwere Leichtigkeit des Seins gehรถren dazu. Auch wenn die politischen Ereignisse einer finsteren Zeit durch die Geschichte flackern.

So wie in der Lebensgeschichte des 1948 geborenen Alois Nebel, Bahnhofsvorsteher auf der kleinen Station Bily Potok. Er ist der Held der Geschichte, die Jaroslav Rudis geschrieben hat und die Jaromir Svejdik alias Jaromir 99 in einen Comic verwandelt hat. Er ist kein Supermann. Er liebt die Eisenbahn. Er ist mit ihr groรŸ geworden. Auf den Gleisen rollen die Zรผge รผberall hin. Und selbst in Bily Potok war einmal der Hauch der Geschichte zu spรผren. Die Berge sind durchlรถchert von den Gรคngen der Goldsucher. Auch die Nazis gruben hier nach Gold โ€“ oder besser: LieรŸen die Hรคftlinge eines zum KZ umgebauten Ferienlagers nach Gold graben.Doch die Geschichte der Bahnstation geht in Zeiten zurรผck, als hier ein unternehmungslustiger Mann ein heilkrรคftiges Wasser abzufรผllen begann. Auch wenn der Ort so abgeschieden liegt, dass dahinter gleich die Einsamkeit der Wรคlder beginnt. Und Alois Nebel heiรŸt nicht nur so, es macht ihm auch ein besonderer Nebel zu schaffen, der ihn mitten in seinem Dienst zurรผckversetzt in die Tragรถdien, die der kleine Bahnhof erlebt hat. Dabei schreckt er mit seinen Anrufen auch die Nachbarstationen auf, so dass die Konsequenzen unausweichlich sind und Alois nicht nur den Dienst abgeben muss, sondern auch im nahen Sanatorium seine seltsamen geistigen Begegnungen abarbeiten und therapieren muss.

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Wie das so ist: Wir leben ja nicht in Zeiten, die sich die ganz privaten Alptrรคume und Taggesichte einiger Mitmenschen leisten kรถnnen. Auch wenn einer wie Nebel ein durchaus angenehmerer Zeitgenosse ist als all die Hektischen, Eiligen und Wichtigen, die zuweilen รผber Bahnhรถfe hetzen. Im Sanatorium begegnet Alois dem โ€œStummenโ€, mit dem ihn im Laufe der immerhin 350 Seiten dicken Geschichte so einiges verbinden wird. Doch die Albtrรคume, die diesen Sanatoriumsinsassen plagen, sind wohl deutlich realerer Art. Was Alois keineswegs bekรผmmert, denn eigentlich braucht er nur Menschen, die ihm zuhรถren, wenn er seine Geschichten erzรคhlt oder nachdenkt รผber die Eisenbahn und alles drumherum. Den Hauptbahnhof von Prag zum Beispiel, den er sich nun endlich einmal anschauen fahren kann.

Der Hauptbahnhof ist eine Welt fรผr sich und Alois findet hier nicht nur einen, der ihm aufmerksam zuhรถrt, sondern auch โ€“ spรคt und unerwartet โ€“ seine groรŸe Liebe. Eigentlich sogar kurz vor ultimo. Denn das alte Refugium der Bahnhofstoiletten, in dem Kveta mรผtterlich waltet, wird kurz darauf an die Japaner verscherbelt. Es geht den Tschechen wie den Ostdeutschen. Nichts ist ihnen sicher. Nicht einmal die Bahn.Bei Aloisโ€™ Rรผckkehr nach Bily Potok hat sich auch dort einiges verรคndert. Einige Zรผge, die er so im Blut hatte, sind eingestellt worden. Und das Hรคuschen, das ihm die Bahngesellschaft รผberlassen hat, liegt zwar an den Gleisen โ€“ nur ein Zug hรคlt dort nicht mehr. So dass sich das dritte groรŸe Kapitel so recht in der Wildnis abspielt. Mit einer verirrten Kveta in den Wรคldern und einem Hochwasser, das fast ganz Nordmรคhren unter sich begrรคbt. Datiert auf das Jahr 1997. Auch hier beweist Jaromir 99, wie er mit den fast holzschnittartigen Bildern die Szenerie zu dramatisieren weiรŸ. Er beherrscht sein Handwerk, lรคsst Blitze zucken, wechselt gern die Perspektive, zoomt seine Figuren heran oder รถffnet die weite Waldlandschaft, arbeitet die Figuren, die am Ende auch noch frรถhlich den Weltuntergang feiern, auch mal in schwarzem Schattenriss.

Er beherrscht die Techniken des modernen Comics und schafft es, den stets mit Brille und Eisenbahneruniform auftauchenden Alois Nebel durch eine teilweise รผberschรคumende Szenerie zu fรผhren, ohne dass er auch nur ein bisschen von seiner freundlichen Ruhe zu verlieren scheint. Kein Fels in der Brandung, aber irgendwie ein Mitmensch, an dem man sich festhalten kann, wenn die ganze Welt ringsum nรคrrisch wird. Am Ende lรคsst Jaromir 99 auch noch die beiden Autoren selbst auftauchen โ€“ รผberlegend, welches Finale nun die Helden verpasst bekommen sollen. Hier sind dann ganze Bilderstrecken ohne Text. Noch einmal ballen sich die Albtrรคume des โ€œStummenโ€ und die realen Szenen der Wirklichkeit, bevor abgeblendet wird. Nur dass man nach dieser Blende das Gefรผhl haben darf, dass Alois und Kveta durchaus miteinander klar kommen werden.

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Alois Nebel
Jaroslav Rudi?, Voland & Quist 2012, 24,90 Euro

Der dicke Comic-Roman erschien 2006 in Prag. 2011 wurde er von Tomรก? Lu?รกk verfilmt. Tschechien hat den Film sogar fรผr den Oscar vorgeschlagen. 2012 soll der Film auch in die deutschen Kinos kommen. Und dann wird so mancher sehen, dass es keine auf Action und Bambule getrimmten Blockbuster-Filme braucht, um eine Geschichte filmisch und eindringlich erzรคhlen zu kรถnnen.

Das Buch braucht den Film nicht. Doch wer es durchblรคttert und genossen hat und mit den einfallsreichen Bildfindungen von Jaromir 99 die Welt des Alois Nebel entdeckt hat, wird sich natรผrlich auch auf den Film freuen.

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