Was macht man nun mit diesem Buch? - Klar, Bach kommt drin vor. Anna Magdalena auch. Nicht ganz so, wie es ein Leser erwartet, der gern einmal mit der Familie Bach am Tisch sitzen möchte. Gar noch neben einem völlig unerwarteten Gast namens Fernando Pessoa, dem wohl berühmtesten portugiesischen Dichter. Nur dass er in diesem Buch Aosse heißt.
Eine eher fiktive Gestalt. Genauso wie Bach fiktiv ist. Und das Leipzig, in das die 1931 geborene Autorin Maria Gabriela Llansol reist in diesen Texten, die in der Grenzwelt angesiedelt sind zwischen Tagebuch und Fiktion.
Womit man gleich wieder bei Pessoa wäre, der genauso das Spiel mit Heteronymen liebte, die Schaffung fiktiver Gestalten, die seine Werke besiedeln, die heute zu den mutigsten Experimenten in der europäischen Literatur zählen. Manchmal erinnern sie an Proust in ihrer detailreichen Beschreibung “subtiler Vorgänge”. Auch Pessoa bevorzugte das Spiel mit Reflexionen und Beobachtungen in tagebuchartigen Aufzeichnungen. Und nicht ganz zufällig fällt Llansols Suche nach einem neuen Schreibstil in die frühen 1980er Jahre. 1982 erschien Pessoas “Buch der Unruhe” erstmals gedruckt.Zu dieser Zeit lebte Llansol im belgischen Exil. 1965 war die Schriftstellerin ins Exil gegangen. Da regierte in Portugal seit 32 Jahren der Diktator Salazar. Etwas, was zumindest in der deutschen Wahrnahme der europäischen Geschichte heute fast ausgeblendet ist. So wie im benachbarten Spanien hielt sich auch in Portugal Jahrzehnte lang eine Diktatur. Erst die umgreifenden Unabhängigkeitserklärungen portugiesischer Kolonien 1975 befeuerten auch die Veränderungen in Portugal, das 1976 mit der Nelkenrevolution endlich den Schritt in die Demokratie zurück fand.
Llansol kehrte erst 1985 zurück. Der erste Band von “Lisboaleipzig”, den sie hauptsächlich noch im belgischen Herbais geschrieben hatte, wo sie von 1979 bis 1984 lebte, erschien dann 1994. Lissabon kommt in dem Buch natürlich genauso wenig vor wie Leipzig. Die Städtenamen stehen für die fiktive Begegnung von Pessoa und Bach. Und so einiges, was Markus Sahr, der Übersetzer, so in seine Klappentexte schreibt, wird der Leser im Buch nicht finden. Auch nicht die mitteldeutsche Landschaft, die er Llansol unterjubelt. Sie war niemals in Mitteldeutschland. Die Landschaft, die man findet, ist andeutungsweise die des kleinen belgischen Städtchens Herbais und der Wohnung der Autorin, die mit ihrem Ehemann Augusto ins Exil gegangen war, weil dieser nicht als Soldat an den sinnlosen Kolonialkriegen Portugals teilnehmen wollte.
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Beide wurden in Belgien, wie sie erzählt, mit offenen Armen aufgenommen. Trotzdem kapselte sich Llansol ab, hatte kaum Kontakt zur belgischen Kultur – und ist später trotzdem stolz, dass die Belgier ihr schriftstellerisches Werk auszeichnen. Die Abkapselung war freiwillig und sie wählt dafür immer wieder das Motiv des Beginenhofs, einer für Belgien typischen Wohnanlage der Benediktinerinnen. Und so ganz allein fühlte sie sich ja in ihrem selbstgewählten Exil auch nicht. Denn tatsächlich umgab sie sich mit durchaus gehaltvollen europäischen Landschaften – nur keinen echten, sondern literarischen und philosophischen. So tauchen in ihrem schwebenden, oft fragmentarischen Text neben Bach und Pessoa/Aosse auch Hölderlin und Raimundus Lullus auf. Bei Letzterem interessiert sie vor allem das Motiv der selbstgewählten Freiheit und Unabhängigkeit des Mönchseremiten.
Ein Thema, das sie sich auch mit den Schriften von Thomas Müntzer, Spinoza und Meister Eckart beschäftigen lässt. Die imaginäre Ebene ihrer Texte bekommt also einen zuweilen mystischen Beiklang. Was gerade “Lissabonleipzig” nicht wirklich leicht zu lesen macht. Aber das ist – auch wenn Markus Sahr es immer wieder betont – so neu nicht in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Man begegnet diesen durchaus komplexen Experimenten mit Prosa nicht nur bei Pessoa, sondern auch in den Spielformen des “roman noveau” (oder “Noveau Roman”), der in Frankreich besonders zwischen 1950 und 1970 Furore machte. Alain Robbe-Grillet steht für diese experimentelle Prosa, genauso Nathalie Sarraute oder Claude Simon.Da verschwindet mal das erzählende Ich, mal löst sich selbst der Held der Erzählung in vage Konturen auf, die zeitliche Logik der klassischen Erzählung wird aufgelöst, nicht mehr klar konturierte Szenenabläufe treiben eine “Handlung” voran, sondern aus Assoziationen, Beobachtungen, Eindrücken entsteht ein Gewebe, das ein wenig wie Musik ist. Der Erzählstoff wird aus vielen kleinen Mosaiksteinen, Bildern, Eindrücken gewoben. Und ganz ähnlich arbeitet auch Llansol. Sie ist – genauso wenig wie Pessoa – “ein großes Rätsel”. Auch wenn ihre Texte möglicherweise in der portugiesischen Literatur so solitär sind wie die von Pessoa. Das kann sein.
Wirklich viel bekommt man ja auf dem deutschen Büchermarkt von dem, was in Portugal veröffentlicht wird, nicht mit. Eher fällt einem so mancher Name aus der portugiesischen Literatur Südamerikas ein. Und auch da begegnet man dem Experiment mit der Prosa. Auch wenn diese Art zu experimentieren sich von der eher sachlichen europäischen unterscheidet. Aber in beiden Traditionslinien findet man das Bemühen, die Vielfalt des Jetzt, der Wirklichkeit, des Lebens, adäquat in Prosa abzubilden. Was den Leser logischerweise genau mit dieser meist fragmentarischen und von Momenten und Assoziationen getragenen Wirklichkeit konfrontiert. Oder dem Versuch, das Erleben dieser Wirklichkeit möglichst wahrhaftig nachzuzeichnen. Das ist schwere Kost. Das weiß jeder, der sich auch schon mal an Proust versucht hat.
Lissabonleipzig 1
Maria Gabriela Llansol, Leipziger Literaturverlag 2012, 19,95 Euro
Wahrscheinlich wird die Suche nach diesem “wahrhaftigen” Schreiben nie ganz aufhören. Doch jede dieser Suchen braucht einen aufmerksamen Leser, der nicht erwartet, unterhalten und durch die Handlung getragen zu werden, der sich mit jeder Eintragung, jeder Seite neu zu orientieren bereit ist. “Romanessay” nennt Llansol ihr Werk “Lissabonleipzig”. Dem “Tagebuch” mit dem Titel “_neben meinem Arbeitstisch” sind noch neun Texte der Autorin angehängt, fast alles Dankesreden für diverse Literaturpreise, in denen sie versucht, ihre Herangehensweise zu erläutern.
Und in Vorbereitung ist beim Leipziger Literaturverlag die Herausgabe von Band 2 von “Lisboaleipzig”, portugiesischer Titel: “O ensaio de música”. Der Übersetzer Markus Sahr ist fleißig, auch wenn das, was er aus dem Portugiesischen übersetzt, für den Leser eher schwere Kost ist.
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