Das nächste Buch zum Thomaner-Jubiläum hatte am Montagnachmittag, 19. März, seinen öffentliche Auftritt. Schauplatz: die Villa Thomana in der Sebastian-Bach-Straße. Anwesend: fast alle Autoren. Denn an "800 Jahre Thomana" haben 35 Autoren mitgeschrieben. Es ist die Festschrift zum 800jährigen Jubiläum. Die Hälfte der Auflage ist schon weg.
Denn die 600 Exemplare, die der Verlag Janos Stekovics “mit einem Affenzahn” zur Buchmesse fertigstellte, waren noch während der Messe ausverkauft. Es liegt auch am Preis, denn den Prachtband mit 496 Seiten und 323 teils farbigen Abbildungen gab es zum volkstümlichen Preis von 19,80 Euro. “Wir wollten unbedingt einen Preis unter 20 Euro”, erklärt Dr. Stefan Altner, Geschäftsführer des Thomanerchores Leipzig und Mitherausgeber des Festbandes, den Grund für den Preis. Denn wer jetzt ein Standardwerk zum Jubiläum von Kirche, Chor und Schule haben möchte, der soll es sich auch kaufen können. Auch wenn fünf Jahre Arbeit drin stecken und am Ende – so schätzt Altner – 70.000 bis 80.000 Euro.
Und das, obwohl die Autoren – und die meisten sind ausgewiesene Forscher auf ihrem Gebiet – alle “für umsonst” gearbeitet haben. Sonst wäre das Werk tatsächlich richtig teuer geworden. Dass “die älteste Musiktradition Leipzigs” (Stekovics) sich im Festjahr mit so einem Band ehren kann, wurde auch durch einen Druckkostenzuschuss der Stadt Leipzig möglich. Auch die Stiftung des Thomanerchores hatte über Jahre Geld gesammelt, um wenigstens die Mitarbeiter bezahlen zu können, die am Ende für Zusammenstellung, Redaktion und Korrektur des Bandes zuständig waren, der möglicherweise auf Jahre hinaus das maßgebliche Werk zum Thema bleiben wird.
Für Altner freilich auch ein Pendant zu einem anderen Buch zu einer anderen Leipziger Musiktradition: den von Eszter Fontana herausgegebenen Band “600 Jahre Musik an der Universität Leipzig”. “Einiges, was man da schon finden kann, haben wir nicht noch einmal aufgegriffen”, sagt Altner. Vielmehr habe man die Gelegenheit genutzt, ein paar Themen aufzugreifen, die in den letzten Jahrzehnten nicht beackert worden waren.Angefangen mit seinen eigenen Forschungen zum Thomaskloster, dem berühmten Thomasgradual (das derzeit im Stadtgeschichtlichen Museum ausgestellt wird) und der Rolle des Chores schon im 13. und 14. Jahrhundert. Und gerade das Thomasgradual (das “sogenannte”, wie Mitherausgeber Prof. Dr. Martin Petzoldt, Theologe und Bachforscher, betont) belege, dass der Knabenchor, der schon damals die Horen in der Kirche sang, auch in diesen frühen Jahrhunderten eine herausragende Stellung in der Stadt inne gehabt haben müsse.
“Und wir haben auch die so genannten heißen Themen nicht außen vor gelassen”, betont Martin Petzoldt und verweist auf einen Beitrag des Amerikaners David Backus, der sich mit “Karl Straube und das Dritte Reich” beschäftigt hat. “In einer für uns durchaus anderen und – wie ich finde – sehr interessanten Sichtweise”, so Petzoldt. Und dass Jan Fitschen mit der Darstellung “Die Thomasgemeinde vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Etablierung der SED-Diktatur” nicht bis zu den 1980er Jahren gekommen ist, bedauert er – hält aber auch schon das Vorgelegte für eine Mammutarbeit. “Mehr wäre gar nicht zu schaffen gewesen.”
Trotzdem hört die Aufarbeitung der 800 Jahre nicht anno 1950 auf. Die jüngere Gegenwart in einem – wie Altner verspricht: unredigierten – Interview mit vier Gesprächspartnern reflektiert: Helga Janke, Gottfried Hänisch, Dieter Schille und Martin Petzoldt selbst. Immerhin geht es um das Jahr 1989 und auch um jene Legende, Thomaspfarrer Ebeling habe im Herbst 1989 die Kirchentüren vor einlassbegehrenden Demonstranten verschlossen. Stimmt sie? Oder bastelt sich auch das jüngere gesellschaftliche Gedächtnis seine eigenen Anekdoten?Und da auch Schule und Alumnat in den Fokus einzelner Beiträge rücken, ist natürlich auch eine andere Diskussion gegenwärtig: die um das Maß an Forderung, die man an junge Menschen stellen kann. Und selbst in der jüngeren Zeit scheint in diversen Medien heftig darum debattiert zu werden, “ob man jungen Menschen so etwas antun dürfe”, wie Thomaskantor Georg Christoph Biller formuliert. Denn aus Sicht einer “völlig freien” Erziehungspädagogik mutet das Leben im Alumnat mit einem durchaus strengen Regelwerk zuweilen archaisch an.
Andererseits ist es auch eine wichtige Diskussion, denn so wird auch thematisiert, was eine Karriere als Thomaner den Jungen eigentlich zusätzlich mitgibt. Auch zusätzlich zur gelebten Trias von “Glauben, Singen, Lernen”, die auch dem Buch als Untertitel gegeben ist. “Denn es ist schon was Besonderes, wenn eine Institution dieser Art über 800 Jahre existiert und heute noch dieselben Aufgaben hat wie zu Beginn”, sagt Biller. Im Band selbst gibt zum Beispiel Maximilian Raschke einen “Einblick in den Alltag eines heutigen Thomaners”. Und Biller schrieb ein Vorwort zu seinen Visionen.
Und Stefan Altner bedauert, dass man ein Kapitel überhaupt nicht mehr geschafft hat: Die Niederschriften von vielen älteren Thomanern, deren Erinnerungen bis in die 1930er und 1940er Jahre zurückreichen, in einen Beitrag zu verwandeln. “Das wird meine Aufgabe in den nächsten zwei Jahren sein”, sagt Altner.
800 Jahre THOMANA –
glauben, singen, lernen
Stefan Altner / Martin Petzoldt (Hrsg.), Stekovics Verlag 2012, 19,80 Euro
Und vielleicht wird man dann auch in ganz Deutschland etwas anders diskutieren über Bildungsansprüche. Vielleicht löst man sich ja endlich einmal vom Schwarz-Weiß der üblichen Diskussionen, die Bildung nur zwischen den Polen “völlige Freiheit” und “strenge Normierung” sehen. Und vergessen, was auch die vielen selbst ernannten Arbeitsmarktreformer vergessen haben: Dass man für den alten Spruch vom “Fördern und Fordern” eine Form finden muss, in der sie sich verbinden. Denn das Thomanerdasein scheint den Jungen deutlich mehr zu vermitteln als nur die Freude am Singen, das tiefe Erleben des Gottesdienstes und irgendwie beiläufig das Abitur. Ganz so scheint es nicht zu sein. Da scheint ein bisschen mehr zu passieren, was den Chor für viele Eltern auch heute noch attraktiv macht als Bildungsgemeinschaft für ihre Kinder.
Wer lesen will, was die 35 Autoren alles herausgefunden und zusammengetragen haben: Janos Stekovis will die verbleibenden 500 Bände der 1.100er Auflage jetzt binden und ausliefern lassen.
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