Vielleicht ist es gar keine so gute Idee, dieses Buch während der Leipziger Buchmesse erscheinen zu lassen, wenn die Stadt überschwemmt ist mit diskutanten Titeln, Neuerscheinungen, Produktionen. Andererseits - wann sonst? Zu Wort gemeldet hat sich Thomaspfarrer Christian Wolff in den letzten 20 Jahren immer, wenn ihm ein Thema auf der Seele brannte. Und es hat Leipzig gut getan.

Jetzt hat er sich hingesetzt und sein ganz spezielles Buch geschrieben – zu seiner Leipzig-Zeit, seinen Erfahrungen mit ostdeutschen Strukturen und schwäbischen Entscheidern, unerfahrenen Kulturbürgermeistern und hartnackigen Magnifizenzen. Dabei fing 1989 alles damit an, dass er mit Gipsbein im Sessel vor dem Fernseher saß und der Friedlichen Revolution in Leipzig von Weitem zuschauen musste. Da war er 40 Jahre alt, war seit 1977 Pfarrer an der Unionskirche in Mannheim und hatte das nagende Gefühl, dass das ganze Land erstarrt war.

Noch heute bezeichnet er sich gern als “alter 68er”. Und ein Grund dafür, warum er 1991 die Chance wahrnahm, in den Osten zu gehen, war auch die erste Erfahrung mit diesem “neuen Deutschland”, das auch nach dem 3. Oktober 1990 einfach so weitermachte, als sei gar nichts passiert und als könne man den Osten einfach so aus der Portokasse durchfinanzieren und aufpäppeln. Doch auch der Westen steckte in einer Sackgasse, das kohlsche Aussitzen lähmte das Land.

Als Wolff 1991 die Stellenanzeige las für eine Pfarrstelle in Leipzig, wusste er zwar nicht gleich, wo Leipzig lag. “Leipzig – der Name elektrisierte mich, obwohl ich damals keine Ahnung von dieser Stadt hatte. Was ich wusste: Leipzig ist Buchstadt.” Und die Heimat der Thomaner. Und selbst als man ihm klar machte, dass er in Leipzig nur halb so viel Gehalt bekommen würde wie in Mannheim, schreckte ihn das nicht ab.

Dass er in Leipzig seine wichtigsten Kämpfe gegen die Borniertheit von Bürokraten führen würde, das konnte er nicht ahnen. Es begann mit den Affentänzen der deutschen Schulbürokratie, die Wolffs damaliger Frau den Einstieg ins sächsische Schulwesen verleidete. Dass ihm selbst ähnliche Kämpfe mit dem sächsischen Landeskirchenamt bevorstanden, ahnte er auch nicht. Die Auseinandersetzungen überschatten 2001/2002 auch noch die letzten Lebensmonate seiner ersten Frau. Klein kriegen lassen hat er sich trotzdem nicht. Er war nach Leipzig gekommen, um hier im Osten die Chance zu nutzen, noch etwas verändern zu können – und er nutzte sie.Er war einer der Hauptakteure, die mit dem Verein Thomaskirche-Bach 2000 e.V. die Sanierung der Thomaskirche in Gang brachten, die 1992, als Wolff sie zum ersten Mal erlebte, einen trüben Anblick bot. Er focht die ersten Kämpfe gemeinsam mit dem neuen Thomaskantor Georg Christoph Biller, um den Chor wieder auf stimmliches Spitzenniveau zu heben. Wozu stets auch die begleitende schulische Ausbildung gehört. Deswegen ist auch die Entwicklung des “forum thomanum” eines seiner Herzensprojekte geworden.

Da freilich fließt mehr zusammen als nur der Wunsch nach einem Bildungscampus, in dem gute Bildung, musikalische Qualität und musikalischer Gottesdienst zusammenkommen. Denn während viele andere streithafte Leipziger in diesen 20 Jahren immer nur ihr kleines Projekt sahen, verteidigten und hochlobten, ist Wolff einer, der Kirche heute wieder (oder immer noch) als zentrales Element begreift, um einer Gesellschaft, die durch zentrifugale Kräfte auseinander gerissen zu werden droht, einen Mittel- und Sammelpunkt zu geben.

Das bekam ab 2007 auch die Leitung der Universität Leipzig zu spüren. Vorher hatte Wolff der Bau einer neuen Paulinerkirche nicht wirklich beschäftigt. Der Paulinerverein hatte zwar schon 2001 um seine Unterstützung geworben, als es noch um den originalgetreuen Wiederaufbau der 1968 gesprengten Paulinerkirche ging. Doch eine weitere Kirche braucht die in DDR-Zeiten arg zusammengeschmolzene Gemeinde der Protestanten in Leipzig nicht wirklich. Doch als Kanzler und Rektor der Universität 2007 deutlich kommunizierten, dass die Uni zwar eine Aula brauche, einen Kirchenraum aber nicht, da ging Wolff – alter 68er – auf die Barrikaden. Die Frage stünde nicht, ob die Kirche in Leipzig eine neue Kirche brauche, sondern ob die Universität ein geistiges Zentrum brauche.

Dass es auch in diesem Gefecht wieder Westdeutsche waren, die so argumentierten, als hätten sie 40 Jahre lang leitende Funktionen in der DDR inne gehabt, schockierte ihn auch diesmal wieder. Erst 2003 war ein Disziplinarverfahren der Landeskirche gegen ihn beendet worden: Die Landeskirche hatte den Bau des Thomasshops nicht gut geheißen und die Stadt Leipzig sogar per Brief aufgefordert, die Baustelle von der Polizei räumen zu lassen.

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Manche Gefechte, die er in den letzten Jahren führte, und von denen er glaubte, sie hätten längst zu einem Umdenken geführt, flammen immer wieder auf. Beispielhaft sein Kampf um mehr Ruhe in der Innenstadt, der Sommer für Sommer wieder Rückschläge erlebt, weil es in der Stadtverwaltung keine klare Linie und keine klaren Kompetenzzuweisungen gibt, wie mit der Dauerbeschallung der Innenstadt umgegangen werden soll. Jeder Gastronom bespielt den öffentlichen Raum, wie er lustig ist, Peter Degners manchmal etwas ausufernde “Classic Open” sorgen für zuweilen sehr lange und laute Abende. Und beiläufig spricht Wolff auch die Straßenmusik an, die zuweilen so nervtötend ist, dass auch die Leipziger Internet Zeitung jedes Jahr aufs Neue Abstand davon nimmt, ihr Büro in die Innenstadt zu verlegen: Bei diesem Lärm kann man nicht konzentriert arbeiten.

Wirtschaftspolitik ist manchmal etwas ganz Kleines und Einfaches. Aber es findet in den Köpfen von Sachwaltern trotzdem keinen Platz. Und wenn man hier die Verantwortlichen sucht, stößt man genauso oft auf Personen mit westlicher Herkunft, die mit gelernter Nonchalance erklären können, dass sie diese Probleme nicht interessieren und rein von Amts wegen auch nichts angehen.

Und noch ein Thema spart Wolff nicht aus: Das Jubeljahr 2013, für das Leipzig jetzt schon – hollaho! – die Fahnen für Wagner, Völkerschlacht und Völkerschlachtdenkmal schwenkt. War da nicht noch was? – Ja. Die Gründung einer Partei. Am 23. Mai 1863 wurde in Leipzig der Allgemeine Deutsche Arbeitervereins (ADAV) aus der Taufe gehoben, der direkte Vorläufer, auf den sich die SPD begründet. Das Vereinslokal, in dem der ADAV im Leipziger Osten gegründet wurde, ist verschwunden. “Wiese der Demokratie” nennt L-IZ-Autor Gernot Borriss, Historiker und zeitweilig Vorsitzender der Leipziger SPD, den grünen Fleck, der heute den Hundebesitzern gehört.”Man darf gespannt sein, ob die SPD wenigstens 2013 ihr 150-jähriges Bestehen in Leipzig feiert und endlich auch einen Schub dafür gibt, den 23. Mai als Verfassungstag und Fest der Demokratie zu begehen”, schreibt Christian Wolff. Der – selbst SPD-Mitglied – auch kurz darauf eingeht, wie sehr die West-SPD sich zurückgehalten hat, die junge, neu gegründete Ost-SPD Anfang der 1990er Jahre beim Aufbau funktionierender Strukturen zu unterstützen.

Das soziale Thema hat Wolff seit seinem Amtsantritt 1992 permanent begleitet. Und er geht auch ausführlich auf das ein, was mit der wachsenden Arbeitslosigkeit und der ausufernden Verwaltung von Arbeitslosigkeit in Leipzig und dem ganzen Osten passiert ist. Zur Finanzierung des Nicht-Arbeiten-Dürfens hat er seine ganz eigene Meinung: “Anfang des neuen Jahrtausends mussten wir uns aber eingestehen, dass wir mit der Sozialhilfe und ALG II nicht nur die Existenzsicherung notdürftig, sondern vor allem den sozialen Niedergang von Menschen finanzieren – und zwar nicht in erster Linie, weil die Menschen über zu wenig Geld verfügen, sondern weil durch langjährige Entwöhnung von Arbeit bei nicht wenigen Menschen Lebensfähigkeiten zerstört wurden, die nicht mehr und schon gar nicht allein durch materielle Zuwendungen zurückgewonnen werden können”, schreibt er. “An dem sozialpolitischen Skandal der Deformation der Persönlichkeit von Millionen Menschen haben alle politischen Parteien und gesellschaftlichen Kräfte, einschließlich der Gewerkschaften und Kirchen, einen erheblichen Anteil.”

“Die Ruhigstellungspolitik der vergangenen 30 Jahre ist mit den ethischen Maßstäben des christlichen Glaubens ebenso unvereinbar wie das faktische Überflüssigerklären von Menschen durch Ausschluss von Beteiligung”, schreibt er. “Und das gilt unabhängig davon, ob die Sozialkassen voll oder leer sind. Wir stehen als Kirche mit in der Verantwortung, den Skandal der Finanzierung von Nichtarbeit zu beenden und für ein neues Verantwortungsbewusstsein in allen gesellschaftlichen Schichten einzutreten.”

Also gibt es ein deutliches Plädoyer für den Mindestlohn. Und für die Schaffung echter Beschäftigungsverhältnisse für all die, die jetzt mit ALG II “ruhig gestellt” werden.

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Osterweiterung
Christian Wolff, Evangelische Verlagsanstalt 2012, 12,80 Euro

Und am Ende bleibt auch die durchaus wichtige Frage stehen: “Ja überhaupt: Warum ist es uns nach 1989/90 so schwer gefallen, eine einmalige historische Situation zu grundlegender Erneuerung zu nutzen?” Denn dieser gesellschaftliche Umbruch war auch für den Westen der Republik die Chance, alte Verkrustungen aufzubrechen. Verkrustungen, die jetzt mit Jahrzehnten Verspätung ihre Folgen zeigen. Die Überschuldung der Republik ist nur eine davon.

Es ist ein Buch geworden, wie man es von Christian Wolff erwarten konnte – kämpferisch, zum Diskutieren auffordernd. Gespickt mit Predigten und Reden zu wichtigen Anlässen.

Das Buch “Osterweiterung. Leben im neuen Deutschland” wird am Freitag, 16. März, um 19.30 Uhr im Gemeindesaal der Thomaskirche im Matthäi-Haus (Dittrichring 12) vorgestellt – im Gespräch mit Arndt Brummer, Chefredakteur des Magazins “Chrismon”.

www.thomaskirche.org

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