Irgendwann 2009 hatte Holger Witzel die Nase voll. Es war einfach zu arg. Egal, wo er als Reporter mit Spezialgebiet "Deutscher Osten" einen Skandal aufzudecken hatte, tauchte irgendwann als Strippenzieher und Übeltäter eine Type auf, deren Geburtsort irgendwo zwischen Westerwald und Westfalen, Hohenlohe und Hoechst lag. Früher, in den frivolen 1990ern gern mal Wessi genannt.
Manchmal nennen die sich auch Wossi, jammern ein bisschen und haben trotzdem von nix gewusst. Und wäre die Staatsanwaltschaft nicht schnell genug gewesen, wären auch die Bestechungsmillionen noch weg gewesen.
Witzel ist 43, arbeitet seit 1990 als Journalist und seit 1996 als Reporter für den “Stern”. 2008 hat er – unter dem Pseudonym Hans Waal – einen der humorvollsten Romane geschrieben über das moderne deutsche Unvermögen, die braunen Restbestände der Hitlerzeit als das zu nehmen, was sie sind: die lächerlichsten Restbestände im deutschen Klamottenschrank. “Nachhut” hieß der Roman, der einen der größeren deutschen Literaturpreise verdient hätte – wenn es überhaupt solche Preise gäbe für wirklich ironische und kluge Texte. Gibt’s aber nicht.
Aber der deutsche Hitlerismus ist ja nicht das einzige Tummelfeld für die Dumpfnasen der Nation, wo sie sich gegenseitig mit Keulen aller Art malträtieren und sich abends den 33. Aufguss von “Hitler und seine Hunde” oder “Hitler und seine Arschkriecher” zu Gemüte führen.Das andere große Feld, das der “Stern” so ein bisschen als die “ewigen deutsch-deutschen Missverständnisse” verkauft, ist das, was Holger Witzel seit seinem Wutanfall von 2009 auf “stern.de” beackert. “Schnauze Wessi” heißt die Kolumne, in der er sich mit den Flitzpiepen, Versagern und Raffhälsen der Nation beschäftigt. Untertitel “Pöbeleien aus einem besetzten Land”. Er wundert sich auch drei Jahre später noch darüber, dass “stern.de” die Kolumne einfach mit ins Programm aufnahm. Ist ja nicht so, dass beim Stern lauter Ostdeutsche an den Schalthebeln sitzen. Die Jungs kommen aus Hamburg und so – und auch wenn ihnen das, was Witzel da regelmäßig in die Tasten haut, möglicherweise oft zu scharf gewürzt ist, lassen sie ihn schreiben. Denn die Kolumne kommt an, bringt Klicks. Und Witzel darf ohne Zensur sagen, was in den meisten deutschen Gazetten nicht opportun wäre und was einen gehorsamen Chef um den anderen dazu bringen würde, diesen Mann zu feuern. Wegen Renitenz.
Denn das hat nicht nur Holger Witzel, eingefleischter Leipziger, nach 22 Jahren gefressen: Auch in der zusammengekleisterten Republik sind nicht die “Helden” von 1989 erfolgreich (die in der Regel mit lauter subalternen Pöstchen ruhig gestellt wurden) und auch nicht die Leute, die wirklich solche hohen Werte wie Demokratie oder Freiheit oder gar Pressefreiheit hoch halten. Am erfolgreichsten sind die üblichen Karrieristen. Im Osten zumal, der 1990 mit lauter geschmeidigen Aufbauhelfern geflutet wurde. Und als die echten Aufbauhelfer wieder gegangen sind, stolz darauf, ein gutes Werk getan zu haben, sind erstaunlicherweise ein paar tausend Andere dageblieben. Darüber staunt nicht nur Witzel heute noch.
Sie sind ja nicht punktuell da geblieben, sondern haben – was zuweilen arg verblüfft – praktisch alle Posten und Pöstchen besetzt, auf denen es im Osten etwas zu verdienen und zu dirigieren gibt. Und jede neue Auswahlrunde verblüfft aufs neue, denn auch 22 Jahre nach der “Wende” sind Ostdeutsche in der Besetzung etwas höherer Funktionen nur die 3. Wahl. Jüngst erst wieder miterlebt bei der Kür zur MDR-Intendanz, als der Westfale Johannes Beermann (Chef der sächsischen Staatskanzlei) unbedingt den Niedersachsen Bernd Hilder (Ex-Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung) auf den Intendantensessel als Nachfolger des Bayern Udo Reiter hieven wollte. Mit aller Macht. Was am Ende am rebellischen Fußvolk Ost scheiterte, das zwar nichts gegen die Herkunft von Bernd Hilder hatte, aber eine Menge gegen seine ungenügende Qualifikation für den Job.
Die Geschichte kommt in dem kleinen Auswahlband nicht vor, den das Gütersloher Verlagshaus jetzt vorlegt. 30 Kolumnen haben drin Platz gefunden. Und auch darüber staunt Witzel: Dass ein West-Verlag so ohne Berührungsangst diese unverblümten Kommentare zum Zeitgeschehen veröffentlicht. Im Nachwort schildert er die wohl recht amüsante Suche nach dem Titelmotiv. Und man ahnt, wie schwer es ihm gefallen sein muss, den Verlagsleuten klarzumachen, dass Trabis, Ampelmännchen und ostdeutsche Nacktbader doch wohl eher zum westdeutschen Ost-Kult gehören als zum Selbstverständnis der Ureinwohner, denen in der Regel Typen wie der niedersächsische Kriminologe Christian Pfeiffer erklären, was sie sind und wie sie ticken, als dass sie es selber irgendwo sagen dürfen.Umso peinlicher ist es natürlich, wenn die üblichen Skandale dann als ostdeutsche verkauft werden, obwohl drittklassige Akteure mit Westsozialisation sich den Zugriff auf die Tröge gesichert haben und keinerlei Skrupel kannten, mit den kargen Ressourcen des Ostens zu zocken, als wär’s ihr eigen Geld und Verdienst. Leipzig hat mit einigen dieser Manager ja blutige Erfahrungen gesammelt. Und wer nun die 300 Millionen Euro, die einer dieser Aushilfsspieler verzockt hat, bezahlen soll, ist auch noch nicht entschieden.
Dafür hat eine gnädige Landesregierung vor fünf Jahren großzügig entschieden, dass die Folgekosten der Spiele von wild drauflos zockenden Managern der Sachsen LB schön von den Eingeborenen beglichen werden sollen. Obwohl die 2001 gegen die Pläne gestimmt hatten, die Sparkassen des Landes zu Kreditverschaffern der Möchtegern-Landesbank zu machen. Mit den jetzt zu Tage getretenen Kürzungsfolgen in allen Bereichen des Landes.
So etwas kann wütend machen. Und irgendwie hat man beim Wiederlesen der Kolumnen das seltsame Gefühl, dass der Osten tatsächlich so etwas wie einen eigenen Charakter haben könnte, eine eigene Stimme und auch so etwas wie eine eigene Mentalität, die nicht deshalb minderwertig ist, weil sie nicht so laut “Icke!” schreit, wenn die großen Geldbeutel verteilt werden.
Schnauze Wessi
Holger Witzel, Gütersloher Verlagshaus 2012, 14,99 Euro
Im Gegenteil: Alle Nase lang kommt ja einer daher und erklärt großmäulig, wie er den armen Osten mit seinem üppigen Solidarbeitrag erst mal aufgebaut hat.
Die Rechnung machen wir hier jetzt nicht auf. Die könnte durchaus überraschende Ergebnisse bringen, wenn sich tatsächlich mal einer mit mathematischer Vorbildung hinsetzt und nachrechnet.
Bis dahin kann, wer noch immer glaubt, im Osten Deutschlands lebten die “Ossis”, diese 30 Kolumnen lesen. Wo die Buchhändler das Buch hinstellen, wird man ja sehen. Wenn sie es zwischen die Spaßbücher stellen, darf man durchaus an ihrer Lesekompetenz zweifeln.
Holger Witzel stellt sein Buch auch auf Lesungen in Leipzig vor:
Buchpremiere für “Schnauze Wessi” ist am 12. März um 20 Uhr im Café Kafic (Karl-Tauchnitz-Straße 9).
Zu “Leipzig liest” hat Holger Witzel einen Termin am 17. März um 16 Uhr in “Das Fundbuero” in der Georg-Schwarz-Straße 14 eingeplant. Sein Hinweis: “Eintritt (im Osten) immer frei.”
Offizieller Erscheinungstag von “Schnauze Wessi” ist Montag, der 5. März.
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