800 Jahre Thomaskirche, das sind 800 Jahre Stadtgeschichte. Es ist die Zeit, in der die Messe- und Handelsstadt Konturen gewinnt und sich Dinge gönnt, die einer solchen Stadt Konturen geben. Dazu gehören auch die Stadtkirchen, die städtischen Schulen und der Knabenchor, der heute zu den bekanntesten seiner Art auf Erden gehört. Ein Buch zu dieser Geschichte zeigt die Geschichte der Stadt.

Doris Mundus, Kuratorin für Stadt- und Landesgeschichte am Stadtgeschichtlichen Museum und dessen stellvertretende Direktorin, hat für diesen opulent ausgestatteten Bildband die wichtigsten Bilder und Bildobjekte zusammengetragen, die diesen 800 Jahren ein Gesicht geben. Angefangen mit der Stiftungsurkunde von Kaiser Otto IV., die sich Markgraf Dietrich ja nicht ganz ohne politische Hintergedanken ausstellen ließ. Denn ein Kloster gründete auch ein machtbewusster Landesherr damals nicht einfach so innerhalb der Mauern einer aufstrebenden Bürgerstadt – samt angrenzender landesherrlicher Burg. Hier wollte einer ein Zeichen setzen, seine Macht demonstrieren und eine Stadt botmäßig machen. So verstanden es die Leipziger auch und rebellierten durchaus erfolgreich. Bis Dietrich die Stadt 1216 im Handstreich nahm und ihr gleich drei Burgen verpasste – plus Thomaskloster. Alles andere folgte dann.

Wahrscheinlich hübsch eins nach dem anderen in den folgenden Jahren: der Neubau der Kirche (die an Stelle einer schon vorher existierenden Kirche entstand), die Entstehung des Knabenchores und der Schule. Alle drei haben – neben dem Augustiner-Chorherrenstift über die Jahrhunderte ihre Spuren und Zeugnisse hinterlassen. Mit dem Minnesänger Heinrich von Morungen starb schon 1222 der berühmteste aller Chorherren in Leipzig. 1409 wurde im Refektorium des Thomasklosters die Universität Leipzig gegründet, was genauso beurkundet ist wie spätere Schulordnungen und Stundenpläne. Grabmale in der Thomaskirche erinnern noch heute an mitteldeutsche Geschichte – exemplarisch der wilde Ritter Hermann von Harrass. Dabei ist Vieles, was einst den Kirchenraum füllte, bei den mehrmaligen Um- und Ausbauten der Kirche verschwunden. Auch die sind mit Bildern sichtbar gemacht in diesem Buch, so wie die Umbruchzeit der Reformation, die auch die Thomaskirche veränderte. Und die Kirchenmusik, auch wenn Liederbücher Zeugnis ablegen auch von der Musiktradition in der Zeit davor.
Musik und Kirche gehörten immer eng zusammen. Und dass das Amt des Thomaskantors mit der Reformation zu einem Amt wurde, das weit über die Grenzen der Stadt begehrt und berühmt war, hatte wieder mit der engen Bindung an die Stadt und die Universität zu tun. Mit Sethus Calvisius rückt der erste berühmte Thomaskantor ins Bild, der sich – über sein Amt hinaus – auch mit Theorie und Praxis der Musik beschäftigte.

Je weiter man vorblättert, umso öfter sieht man auch die Thomaner auftauchen – mal bei einem Leichenbegängnis, mal beim Unterricht, mal bei einer Hinrichtung auf dem Markt. Man erfährt so einiges über ihre Lebensbedingungen in der alten Thomasschule, die zu Bachs Zeiten aufgestockt wurde und bis zu ihrem Abriss 1902 den Thomaskirchhof prägte. Ein Ort, der sich über die Jahrhunderte ebenfalls veränderte. Stadtgeschichte ist immer auch die Geschichte von Aus- und Umbau. Und erst im Nachhinein wird sichtbar, wie gravierend die baulichen Veränderung an Thomaskirchhof und Thomaskirche um 1900 waren. Und wie gravierend auch der Umzug der Schule in die Schreberstraße war, notwendig geworden, weil die alte Thomasschule aus allen Nähten barst. Und auch die neue war bald viel zu klein.
Man schaut in die alten Schulräume, den Sportsaal und eine echte Thomaner-Köte, den Schrank, in dem die Sänger all ihre privaten Utensilien aufbewahren. Man lernt die prägensten Thomaskantoren kennen und darf mit dem letzten Türmer vom Thomaskirchturm über die Stadt schauen. Immer wieder blenden die Umbauten und Sanierungen der Kirche ins Bild, die ersten Rundfunkaufnahmen und Weltreisen des Knabenchores. Nicht ausgespart sind die Versuche, den Chor im 20. Jahrhundert staatlich zu vereinnahmen. Und da die kurzen Texte zu jedem Bild erzählen, was man dazu wissen sollte, bekommt der Leser ein richtiges Bilderbuch der 800 Jahre in die Hand, sieht, wie alles ineinander gewoben ist und am Ende auch deshalb überdauert, weil es diese Einheit von Kirche, Chor und Schule ist, die das Projekt “Thomaner” attraktiv erhalten hat. Bis heute, wo daraus der Campus forum thomanum erwächst.

Nur die Landesherren sind irgendwie verschwunden. Sie gründen keine Klöster und Burgen mehr. Das Thomana-Projekt ist seit der Reformation ein städtisches Projekt geworden, ein Teil der Leipziger Identität, mit der selbst Leute etwas anfangen können, die mit Religion eher nichts am Hut haben. Dafür steht auf jeden Fall Johann Sebastian Bach, dem es mit seiner Musik gelungen ist, mehr als nur religiöse Motive zu vertonen. Und deshalb werden die Thomaskantoren auch nicht von einem der vielen profilierten Vorläufer Bachs an gezählt, sondern mit Bach als Nummer 1.

Deswegen taucht der Komponist auch immer wieder in diesem Buch auf – sei es bei der Aufstellung der Denkmäler für ihn, der neuen Grablege in der Thomaskirche oder der Rekonstruktion seines Gesichtes durch Wilhelm His. Viele Bilder in diesem Buch sind so noch nie veröffentlicht worden und mit zwei kleinen Ausflügen zum “Sack” bringt Doris Mundus noch eine kleinen Seitengeschichte ins Bild, die ihr am Herzen zu liegen scheint. Die kleine Sackgasse am Thomaskirchhof gibt es heute noch – doch weil kein angrenzendes Haus hier mehr seinen Haupteingang hat, taucht der Straßenname offiziell nicht mehr auf. Der “Sack” bildet auch die Rückfront zu den einstigen Predigerhäusern, die lange Zeit zum Gebäudeensemble am Thomaskirchhof gehörten und 1907 dem Haus der Kirche weichen mussten.

Bestellen Sie dieses Buch versandkostenfrei im Online-Shop – gern auch als Geschenk verpackt.

800 Jahre Thomana
Doris Mundus, Lehmstedt Verlag 2012, 24,90 Euro

Und noch ein Stückchen weiter erinnert die “Thomaswiese” an den alten Knobloch-Spruch: Misstraut den Grünflächen. Auch wenn sie bald wieder schön sind und – in diesem Fall – den freien Blick auf die jüngst sanierte Thomaskirche ermöglichen.

Doris Mundus “800 Jahre Thomana. Bilder zur Geschichte von Thomaskirche, Thomasschule und Thomanerchor”, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2012, 24,90 Euro.

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar