An Jessenin hat sich der Leipziger Übersetzer Erich Ahrndt jüngst schon versucht - jetzt hat er eine Auswahl von Zwetajewa-Gedichten folgen lassen. Immerhin ein Wagstück, denn an der Übersetzung dieser Gedichte haben sich auch die großen deutschen Dichter der jüngsten Vergangenheit versucht. Und die Liebesgedichte werden auch von Taschenbuchverlagen immer wieder gern aufgelegt.

Aber Liebesgedichte machen ja allein das poetische Werk der 1891 geborenen Dichterin nicht aus. Wär’s nur das, kaum jemand würde noch reden von dieser Autorin, die heute zum Kanon der großen russischen Dichter und Dichterinnen gehört, zur Blüte der russischsprachigen Literatur, die in den 1910er Jahren aufging und in den 1920er Jahren dazu beitrug, die Sowjetunion durchaus menschlicher und weltoffener aussehen zu lassen, als sie es dann wirklich war.

Von einem großen Scheitern erzählt auch Marina Zwetajewas grandioses Gedicht “Schuss – mitten in die Seele …” vom August 1930 über den Selbstmord Majakowskis im April desselben Jahres. Da lebte Marina Zwetajewa noch in Frankreich, als Ort gibt sie Savoyen an. Nach der Revolution und dem Bürgerkrieg, in dem die Weißen unterlagen, war sie 1922 ihrem Ehemann Sergej Efron ins Exil gefolgt. Er war Offizier in der Weißen Armee gewesen. Und aus Marinas Feder stammen einige der eindrucksvollsten Gedichte über die Flüchtlinge, die ohne Hab und Gut versuchten, in Westeuropa ein neues Leben zu beginnen. Die Efrons verschlug es zuerst nach Böhmen. Auch dieses Land findet einen Platz im Werk der unbändigen Dichterin, die nicht nur den Mut zur großen lyrischen Geste (und zum klaren, unbarmherzigen Wort) fand, sondern auch ihre Liebe lebte. In mehrfacher Hinsicht also auch Vertreterin des neuen Russland, das seinerzeit die Literaten des Kontinents faszinierte.
Diese Herausforderung an das Leben, diesen Hunger nach Freiheit teilte sie mit vielen aus ihrer Generation. Und in Majakowski, den sie 1921 mit einem Lastkutscher und einem Erzengel verglich, teilte sie diese Herausforderung durchaus. Doch nicht nur die Sowjetunion war nicht wirklich reif für diesen Vulkanausbruch. Das bekam Majakowki genauso zu spüren wie die Achmatowa und Pasternak, die Marina Zwetajewa ebenso mit bewundernden Gedichten bedachte.

Doch schon in ihren früheren Gedichten tauchen auch die Bilder vom Tod auf, vom Erlöschen. Wirklich zur Ruhe kam die leidenschaftliche Frau, die auch ihre Liebe zu Ossip Mandelstam und Sofia Parnok offensiv lebte, nie. Auch nicht in den 15 Jahren, die sie mit Sergej Efron und den Kindern in Frankreich verbrachte. Bis 1939, als Efron dem Ruf aus Moskau folgte und in die Sowjetunion zurückkehrte. Was – und das ahnten wohl beide – sein Todesurteil war. Und damit auch das von Marina, die sich 1941 nach ihrer Umsiedelung nach Jelabuga in einem unbeobachteten Moment das Leben nahm.

Die Gedichte nach 1939 hat Ahrndt nicht mit in seine Sammlung aufgenommen. Vielleicht, weil ihm das Jahr 1939 wie ein Symbol steht für das verratene Jahrhundert, die verratenen Völker und die verratenen Dichter. Denn eindrucksvoll bringt Zwetajewa auch die Besetzung ihre zweiten Heimat Böhmen ins Gedicht, entlarvt die Verlogenheit der deutschen Propaganda, die die Tschechen, denen man eben das ganze Land gestohlen hat, zu bösartigen Spuckern degradierte. Es sind wenige derart wütende Gedichte über das geschrieben worden, was damals geschah. Wenige Gedichte, die so leidenschaftlich das Recht auf Leben, Freiraum, Ehrlichkeit einfordern. Dass auch für sie die Rückkehr in die Sowjetunion die falsche Entscheidung war, wusste sie. Die dortige tonangebende Literaturclique ließ sie ihre Abneigung und Arroganz genauso deutlich spüren, wie es einige der Gedichte schon vorher beschrieben hatten.

Was ihr am Ende natürlich den letzten Halt nahm. Man kann nicht wirklich so ehrlich und verletzlich bleiben, wie es Zwetajewa in all ihren Gedichten ist, ohne sich preiszugeben und angreifbar zu machen. Doch genau von dieser Ehrlichkeit und Deutlichkeit leben ihre Gedichte. Das zeigte sie auch in dem Gedicht von 1923 als Grundwiderspruch, das auch diesem Zwetajewa-Band die Titelzeile lieferte: “Mit diesem Unmaß / Im Maß der Welt”. Wissend darum, dass Dichter, die sich in das gesetzte Maß einfügen, nicht nur ihre Freiheit verlieren, sondern auch ihre Sprache.

1932 appelliert sie an ihren Sohn: “Du wirst – Gott sei mein Zeuge! – / Nie, nimmermehr ein Lump, / Auswurf, verlorn, verleugnet / Von diesem Land.” Immer bleibt die Sehnsucht nach dem fernen Russland, der Rusj, das unter den neuen Herren so gründlich verleugnet wird, dass es zu verschwinden droht. Aber sie hat ja noch die Sprache – und sie geht damit so virtuos und leidenschaftlich um wie wenige Dichter es können, nutzt auch die Spielräume, die das zuweilen verblüffend kurze Russisch eröffnet. Etwa im Gedicht “Die Trommel” von 1939, in dem sich das Bum! Bum! Bum! auf “Gunn! Gunn! Gunn!” reimt. Gunn – das ist die russische Schreibform für Hunne, jenen Hunnen, der gerade Böhmen überrannt und verschlungen hatte.

Das lässt sich nicht immer so kurz und prägnant ins Deutsche übertragen. Erich Ahrndt kommt der Vorlage dennoch oft recht nah, schafft es, auch das Herausfordernde, Aufmüpfige, Klare zu übersetzen, das diese Gedichte so eindringlich macht. Klar: Wer solche Dichterinnen hat, kann nicht darauf rechnen, dass die herrschende Macht gehätschelt und besungen wird. Manche Gedichte in ihrer Schlichtheit sind Ohrfeigen für die Heuchler, Schwätzer und Schwindler. Aber solche Leute lesen ja keine Gedichte. Jedenfalls solche nicht.

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Mit diesem Unmaß
im Maß der Welt

Marina Zwetajewa, Leipziger Literaturverlag 2011, 24,95 Euro

Schön, dass nicht nur die Liebesgedichte der Zwetajewa immer wieder Übersetzer und Verleger finden. Leben ist mehr. Das darf man auch in der poetischen Nische der Liebesgedichte mal etwas lauter sagen.

Marina Zwetajewa “Mit diesem Unmaß im Maß der Welt. Gedichte 1913 bis 1939”, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2011, 24,95 Euro.

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