Eigentlich wollte der Hamburger Journalist Otto Köhler sein 1994 erschienenes Standardwerk über die Treuhand "Die große Enteignung" nur durchsehen und für eine Neuveröffentlichung auf den neuesten Stand bringen. Doch dann merkte er, dass er eigentlich nicht viel ändern musste. Bis auf ein kleines Detail. Jeder Krimi-Autor kennt es: Wer waren eigentlich die Täter?
Deswegen zeigt der Herbstkatalog der Eulenspiegel Verlagsgruppe noch ein langweiliges Bild von einer Pressekonferenz des alten Treuhand-Vorstands – so dröge wie fast alle Fotos aus der Ära Kohl. Man traut den Herren in den langweiligen Anzügen und der einsamen Dame nicht zu, dass sie gerade eine ganze Volkswirtschaft ruinieren. Es gibt noch zwei, drei andere Titel, die sich Köhlers Buch seither an die Seite stellten als Klassiker. Aber alle Autoren, die sich mit dem Thema Treuhandanstalt beschäftigen, haben ein Problem: Sie kommen nicht an die Akten heran. Genauso wenig wie der 1994 von Otto Schily geleitete Treuhand-Untersuchungsausschuss des Bundestages, dem die Kohl-Regierung reihenweise leere Ordner zusandte, in denen nur noch karge Hinweise vermerkten, dass das Material als Verschlusssache gelte und innerste Regierungsinteressen berühre.
Die Originalakten kamen für 30 Jahre unter Verschluss. Und wer im Jahr 2000, als in Berlin Rot/Grün regierte, glaubte, die neue Regierung würde den Einblick in die Akten ermöglichen, der sah sich getäuscht. Damals ging es um die Aufklärung des so genannten Leuna-Skandals, in den auch der 1998 abgewählte Einheitskanzler Helmut Kohl verwickelt war. Aber auch die Schröder-Regierung verweigerte die Akteneinsicht mit Hinweis auf die exekutive Eigenverantwortung der Regierung. Möglicherweise würde ein Blick in die Akten (sofern sie nicht schon größtenteils “verschwunden” sind, wie das mit brisanten Regierungsakten ja gern zu geschehen pflegt) mehr als nur einen großen Prozess nach sich ziehen. Und zwar einen der richtig teuren Art.
30 Jahre aber – das ist genau die Zeit, nach der fast alles verjährt ist. Dann ist die große Umverteilung von 1991 bis 1994 in den Grundbüchern manifest. Die meisten Täter sind dann im Ruhestand oder tot. Und es könnte durchaus sein, dass dann auch die Summen klar werden, die von der Treuhandanstalt tatsächlich umverteilt wurden.
Bis jetzt gibt es nur die Zahlen, die Köhler schon 1994 nannte: Die legere Schätzung von Detlev Karsten Rohwedder, dem zweiten Treuhand-Chef, der den ganzen Kram auf 600 bis 650 Milliarden DM schätzte. Das waren schon rund 800 Milliarden weniger als wenige Monate zuvor vom damaligen DDR-Ministerpräsidenten Hans Modrow benannt. Der Unterschied in den Zahlen begründet sich eigentlich schon in jenem zwielichtigen Jahreswechsel 1989 / 1990, den Köhler 1994 in seinem Buch noch nicht beschreiben konnte. Er wusste einfach noch nicht, wer da die Fäden gezogen hatte zwischen dem grandiosen 9. November, als die Ostdeutschen einfach die Mauer öffneten und dem seltsamen Februarbeginn 1990, als auf einmal Gerüchte durch die Medien waberten, die DDR wäre bald zahlungsunfähig.
Nicht ohne Grund wundert sich Köhler über eines jener Demo-Fotos aus dem Februar 1990, aufgenommen wohl in Dresden, auf dem ein Mann und eine Frau ein Transparent mit dem Spruch hochhalten “Kommt die DM bleiben wir kommt sie nicht geh’n wir zu ihr”. Er wundert sich besonders über die Bambusstangen, an denen das Transparent befestigt ist. Bambusstangen, so stellt er fest, waren in der DDR noch seltener als Bananen. Es liegt nahe, nicht nur hinter diesem Foto einen Teil einer gut organisierten PR-Kampagne zu vermuten, hinter der ein agiler Kohl-Intimus namens Karl Schumacher stand. Eine Kampagne, die im dunklen Monat Februar nicht nur die vorgezogenen Volkskammerwahlen vom März 1990 vorbereitete, bei der die von Kohl dekretierte “Allianz für Deutschland” den großen Abräumer machte.
Die Kampagne sollte auch noch einen weiteren Druck aufbauen: den zu einer schnellen deutschen Einheit. Denn auch im Westen der Republik standen Wahlen an und um eine Wiederwahl Kohls stand es nicht gut. Der “Kanzler der Einheit” stand unter Zugzwang. Und noch war er es ja nicht. Seit dem 9. November stand zwar die deutsche Einheit auf der Tagesordnung. Aber auch in seinem Zehn-Punkte-Plan vom November 1990 ging Kohl noch von einem längeren Prozess der Annäherung aus. Auch seine Berater sahen das so. Im Finanzministerium in Bonn wurden durchaus mehrere Alternativen für eine gesteuerte Wirtschafts- und Währungsunion durchgespielt. Man nahm die Warnungen des Bundesbankpräsidenten Karl Otto Pöhl durchaus (noch) ernst.
Und das ist der Teil der Geschichte, die Köhler 1994 noch nicht kannte, weil sie erst nach und nach in Bruchstücken in den Biographien und Jubelbänden diverser beteiligter Personen sichtbar wurde – in der Biographie des zuständigen Finanzminister Theo Waigel zum Beispiel oder in einem Festband der Treuhand. Denn Theo Waigel hat sich die Währungsunion, wie sie dann durchgezogen wurde, nicht ausgedacht. Die Zuarbeit hatte er in seinem Ministerium beauftragt. Und den Hut dafür hatte ein Mann auf, den die meisten Deutschen erst 2004 wahrnahmen, als er zum Bundespräsidenten gewählt wurde: Horst Köhler.
Horst Köhler war damals zwar offiziell noch Leiter der Abteilung VII des Bundesfinanzministeriums für Geld und Kredit, war aber schon als Nachfolger für den Staatssekretär Hans Tietmeyer eingesetzt, der im Dezember zur Bundesbank wechselte. Im November und Dezember ließ Horst Köhler das Bundesministerium der Finanzen “rotieren”, wie Otto Köhler schreibt. Und bis zum 21. Dezember war nicht nur er überzeugt, dass es zu einer Wirtschaftsunion der beiden deutschen Staaten eines Stufenprozesses bedürfe. Anders würde das planwirtschaftliche System der DDR nicht ohne großen Schaden in die bundesdeutsche Marktwirtschaft zu integrieren sein.
Aber dann legte ihm ein Mitarbeiter ein Papierchen auf den Tisch, dass aus den ganzen komplexen Überlegungen einen goldenen Lösungsweg für einen um seine Macht fürchtenden Kanzler machte.
Mehr dazu gleich an dieser Stelle.
Otto Köhler “Die große Enteignung”, Das Neue Berlin, Berlin 2011, 19,95 Euro
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