Was wird als Gesicht des 20. Jahrhunderts bleiben? Die exaltierte bunte Werbe-Fotografie? Das Riefenstahl-Gepose der Nazi-Größen, die selbst in großen Nachrichtenmagazinen noch gepäppelt werden, als wären sie die Inkarnation deutscher Geschichte? – Oder werden es doch die nachdenklichen Gesichter sein, die Fritz Eschen ins Mittelformat gebannt hat?

Wahrscheinlich hängt das alles sehr davon ab, wie sehr wir uns selbst von den diversen Verklärern der Geschichte ins Bockshorn jagen lassen.  Wie sehr die Einschätzung, welche Persönlichkeit wichtig sind für dieses Land und seine Entwicklung von ihrer medialen Präsenz abhängt, exerzierte ja das ZDF im Jahr 2003 durch, als sich per Abstimmung eine Liste von Adenauer über Luther, Marx und die Geschwister Scholl ergab – mit Willy Brandt vor Bach, Goethe und Gutenberg.

Die Narretei steckt nicht in den Namen. Selbst ein flüchtiger Fernsehblick zeigt, wie reich dieses Land an Persönlichkeiten ist, die hundert Mal faszinierender und wichtiger sind als alle geschniegelten Koppelträger des Nazi-Imperiums.

Das andere Deutschland

Und eine stille Frage taucht so am Rande auf: Wie hätte Deutschland eigentlich ausgesehen, wenn das vergreiste Kaiserdeutschland in persona des Weltkriegsverlierers Hindenburg nicht alle Gewalt in die Hände eines größenwahnsinnigen Schreihalses gelegt hätte? Welche Gesichter hätten es geprägt?

Einige davon sind in diesem Buch zu sehen. Nicht alle. Auch die Lücken sprechen eine Sprache. Aber jene Persönlichkeiten, die der 1900 in Berlin geborene Fritz Eschen fotografierte, zeigen ein Land, das nicht nur anders hätte sein können – es war auch anders, auch wenn es – wie der auf dem Titel abgebildete Thomas Mann – ins Exil gehen musste. Ein Schicksal, das ja auch Willy Brandt teilte, den Eschen als jungen Politiker – zwei Jahre vor seiner Wahl zum Regierenden Bürgermeister von Berlin – fotografiert.

Unübersehbar die Kluft, die das Arbeitsverbot für den Fotografen im NS-Reich bedeutete. Noch Anfang der 1930er Jahre konnte Eschen einige der namhaften Vertreter jenes Landes fotografieren, das 1933 den Scharfrichtern überlassen wurde. Max Liebermann, Paul Simmel und Richard Strauß gehören noch zu jenen, die er im bürgerlichen Interieur des frühen 20. Jahrhunderts fotografieren kann.

Andere Kunstschaffende aus dieser Zeit bekam Eschen erst nach 1945 vor die Linse: Gottfried Benn, Alfred Polgar, Ricarda Huch. Sie stehen hier hier in engster Nähe zu den Jungen, die fortan die Stimme einer anderen Zeit sein würden – neben Dürrenmatt, Böll, Frisch und Walter Jens.

Menschen im ihrem Wirkungskreis

Einen Stilbruch gibt es bei Eschen nicht. Er versuchte sich nicht am stilisierten Porträt, ließ seine Modelle nicht posieren. Er beließ sie in ihren Arbeits- und Lebensräumen und fertigte in der Regel eine ganze Serie von Aufnahmen an – bis er die im Kasten hatte, in der die fotografierte Persönlichkeit für ihn am besten zur Wirkung kam. Gottfried Benn sitzt in seinem mit Büchern vollgestopften Arbeitszimmer, Erich Kästner lässt sich mit seinem Vater fotografieren. Ringelnatz steht diktierend neben der Schreibmaschine – ein Foto, das 1933 entstand, ein Jahr vor dem Tod des Dichters.

Im Band ohne Bruch: Erich Maria Remarque neben Anna Seghers, der künftige Kulturminister der DDR, Johannes R. Becher, und – gleich nach einem geradezu nüchternen Porträt von Konrad Adenauer – Wilhelm Pieck, ein geradezu verschmitztes Porträt des späteren Präsidenten der DDR aus dem Jahr 1946. Neben ihm schaut der erste Bundespräsident Theodor Heuss den Betrachter etwas müde an.

90.000 Fotoaufnahmen aus dem Schaffen des 1964 gestorbenen Fotografen, der fast alle namhaften Berliner Zeitungen und Illustrierte belieferte, sind in der Deutschen Fotothek in Dresden überliefert. Etwa 10.000 davon zeigen Porträts von Personen. Rund 1.000 Persönlichkeiten haben Mathias Betram und Jens Bove gezählt, die den Band zusammengestellt haben, 800 davon aus Eschens Arbeit nach dem Krieg. Über 110 haben Aufnahme in diesen Band gefunden, manche heute schon fast vergessen, andere in einer Zeit fotografiert, als ihre eigentliche Karriere noch vor ihnen lag. Hermann Henselmann etwa, 1946 mit der Schar seiner sieben Kinder fotografiert. Er sollte später zum Star-Architekten der DDR werden.

Die Gesichter einer Epoche

Einige Weltberühmte erwischte Eschen noch mitten im Glanz ihrer Laufbahn. Hans Albers und Heinz Rühmann lichtete er noch Anfang der 1930er Jahre ab. Maria Callas, Benjamin Britten und Jean-Paul Sartre fängt er in den 1950er Jahren ein, alle noch jung und nicht überblendet vom Boulevard-Glitzer späterer Zeiten.

Auch die Großen der Wissenschaft bat Eschen vor die Kamera, auch wenn er Lise Meitner und Otto Hahn erst in hohem Alter vor die Linse bekommt. Viele der noch heute Berühmten sieht man hier so klar und unverstellt, wie sie in den meisten gern verwendeten Standardfotos nicht zu sehen bekommt.

Und man begegnet einer selten gewordenen Konzentration auf Person und Moment. Hier hat einer nicht schnell mal draufgehalten, hier haben sich beide noch Zeit genommen für ein Bild, haben sich aufeinander eingelassen. Das Foto nicht als Pose für hektisch agierende Fotografenmeuten, sondern als Begegnung. Und selbst das klassische und eindrucksvoll genutzte Schwarz/Weiß eröffnet dem Betrachter den Zutritt. Man möchte manchmal nur einen Schritt vortreten, und schon steht man selbst mit Heinz Ullstein an einem Berliner Bockwurstkiosk oder in Thomas Manns Wohnung in Kilchberg. Dort, wo Fritz Eschen gestanden hat.

Fritz Eschen „Köpfe des Jahrhunderts. Fotografien 1930 – 1964″, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2011, 24,90 Euro

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