Man hat es doch glatt verpasst. Aber irgendwer hat da bestimmt eine bunte Kinderparty organisiert und Gerhard Schöne hat mit bunten Luftballons seinen 60. Geburtstag gefeiert. 2012 war das. So wurden sie alle ganz still und heimlich älter: die Lütte, der Lacky, die Vroni. Und nun auch noch der Bursche mit der Gitarre, der bis heute der beliebteste Kinderliedermacher im Osten ist.
Ein Kinderbuch hat er auch geschrieben: “Wenn Franticek niest”. Aber hier legt er jetzt ein Buch für die Großen vor. Das man aber auch den Kleinen geben kann. Denn es ist so ungefähr das, was sich Kinder von ihren Vätern am allerliebsten wünschen: ein Buch voller Geschichten, richtigen, echten Geschichten aus Papas Kinderzeit. Solchen, von denen Gerhard Schöne auch auf seiner ersten Langspielplatte sang, die 1981 bei Amiga erschien: “Kinderland”.
Wer sie noch im Plattenschrank stehen hat, wird Manches wiedererkennen. Angefangen bei den poesievollen Illustrationen. Auch 1981 hat die Berliner Grafikerin Jutta Mirtschin Schönes Liedern ein Bild gegeben, das die Poesie der Texte mit einem fast traumhaften Schweben verbindet – das Traumland Kindheit, hier ist es eingefangen. Und da Gerhard Schöne mit seinen Geschichten eingetaucht ist in jene Welt, aus der die Ideen und Szenen seiner Kinderland-Lieder stammen, hat Verleger Mark Lehmstedt einfach mal angerufen bei Jutta Mirtschin, ob sie nicht auch zu diesem Buch solche Bilder beisteuert. Das hat sie getan und damit einen nicht unwesentlichen Beitrag geleistet zu einem Buch, das zu den schönsten deutschen Büchern dieses Frühjahrs gehört.
Und die Leichtigkeit, die Mirtschins Figuren regelrecht schweben lässt, die findet man auch in den Geschichten, die Gerhard Schöne erzählt. Auch wenn es eine etwas andere Leichtigkeit ist. Die Leichtigkeit, die die berühmtesten deutschen Lausbubengeschichten auszeichnet. Geschichten, die eben nicht nur von Streichen und gedankenlosem Übermut erzählen, sondern auch vom Milieu, dem Reichtum oder der Armut der Zeit, von Eltern, Nachbarn, Flecken, Schulen, Respektspersonen. Hier bündelt sich alles. Und vor allem: Auch diese augenzwinkernden etwas älter gewordenen Jungen werden wieder etwas unbekümmerter, verlieren den Ernst und die Scheu, mit denen sie sonst ihre Erwachsenen-Geschichten schreiben. Das ist ja alles schon ganz lang her.
Lange genug, dass die Respektspersonen von damals mittlerweile entweder tattrige alte Greise sind oder schon tot. Sie können keine Denunziationen an die Eltern mehr verfassen oder den kleinen Gerhard vor der Klasse schikanieren. Und der Erzähler ist endlich auch alt genug, seinen eigenen Kindern nicht mehr das strenge Vorbild sein zu müssen. Was Gerhard Schöne vielleicht auch nie so war. So offenherzig wie seine Lieder kann man sich ihn wohl auch als Vater vorstellen. Vater in einer Generation, in der den Kindern selbst das Wort Ohrfeige erklärt werden muss, weil diese schon lange nicht mehr zum normalen Erziehungsrepertoire gehört. Vielleicht nicht in allen Familien. Aber mal ehrlich: Wer heute noch diese Art Erziehung bewerkstelligt, hat wirklich nichts begriffen. Nicht vom Kindsein und auch nicht von den Schäden, die so eine Art Erziehung anrichtet.
Als Gerhard Schöne jung war, gab’s das noch. Auch wenn sich die Kindheit des Pfarrersohnes ganz bestimmt schon von den Erfahrungen vieler Gleichaltriger unterschied. Er romantisiert die Zeit nicht, erzählt aber all seine Abenteuer mit Augenzwinkern. Eigentlich doppeltem Augenzwinkern, denn man muss ja die Kinder vor vielen dieser Streiche warnen, weil, sie tatsächlich lebensgefährlich sind. Aber welches Kind glaubt seinem Vater solche Warnungen? Also zwinkert sich Gerhard Schöne auch ein bisschen selber zu. Was soll man machen? Jungen sind doch nun mal so. Und werden immer so sein. Und manchmal gehört einfach viel Glück dazu, dass sie die Streiche ihrer Kindheit überleben. Die Mahnungen der Alten können daran nichts ändern. Im Gegenteil. Dann probiert es ein ordentlicher Junge ja erst recht aus.
Diese Angst kann man wohl Eltern niemals nehmen. Und manchmal ist es für das Herz der lieben Erwachsenen wohl auch besser, wenn die Kinder ihre Abenteuer für sich behalten. Wesentlich nachhaltiger und prägender fürs Leben ist das, was wichtige Bezugspersonen tun und wie sie sich verhalten. Auch wenn es die Lausbuben-Geschichten-Erzähler stets als eigenes Erleben erzählen – das Fehlverhalten, die autoritäre Arroganz von Erwachsenen, die ihre Macht Kindern gegenüber missbrauchen, können auch ganze Jahrgänge und Generationen verunsichern, verängstigen und verformen. In diesem Fall ist es eine Lehrerin, die ihre Macht gegenüber einzelnen Schülern in ihrer Klasse nicht nur missbraucht, sondern die Schikane auch noch genießt.
Dafür kommt dieser komische Staat, in dem das alles handelt, eher nur beiläufig vor. Aber Kinder nehmen all das Brimborium, das Staaten und Behörden veranstalten, tatsächlich kaum bis gar nicht war. Man weiß es ja, wenn man sich selbst erinnert an das, was die eigenen Lausbubenjahre ausmachte. Man war den Tieren, Pflanzen und Käfern näher, machte sich nicht nur die Hände dreckig und die Hosen kaputt, fand Mädchen seltsam und hatte den Kopf voller seltsamer Spukgestalten. Die Phantasie war noch leicht aufzureizen und die Panik in verlassenen Kirchtürmen nicht auszudenken. Rummelplatz und Zirkus waren noch gewaltige Erlebnisse, erzählten von einer phantastischen Welt gleich dahinten hinter dem Horizont, da, wo das Leben anfängt, das man mal führen wird. Auch wenn alles noch unfassbar ist, auch dann noch, wenn die Erwachsenen anfangen zu fragen: Was willst du mal werden? – Ja was nur? Clown? Zieharmonikaspieler? Liedermacher?
Die 1950er und frühen 1960er Jahre, von denen Schöne erzählt, waren noch eine Zeit voller Geschichten. Werden auch die heutigen Kinder so etwas erzählen können? Oder werden sich ihre Erinnerungen mit seltsamen kleinen elektronischen Geräten beschäftigen? Keine geplünderten Kirschbäume mehr, keine verärgerten Nachbarn, keine geflüchteten Hunde und keine Liebesbriefe an die Schönste in der Klasse, die in die falschen Hände geraten, und dann … Auch das lässt Schöne nicht weg. All diese schrecklichen Momente der Peinlichkeit, ohne die Kindheit sich niemals in Jugend verwandelt. Oder die seltsamen gedankenlosen Spiele der Geschwister, die manchmal so scheußlich daneben gehen. Die Wunden kann der Erzähler heute noch zeigen. Kindheit ist ein gefährliches Terrain. Da kommen die ersten Lüste und Gelüste wieder hervor. Und die erste Begegnung mit dem Meer, die einen schier albern machen kann. Wieder so eine bezaubernde Geschichte voller Scham. Von seinem Lieblingsonkel erzählt Schöne, von seinem Vater natürlich, der an den Folgen des Krieges leidet, von seinen Tieren und von seiner Arbeit als Kreuzträger bei Beerdigungen. Er lässt die schrecklich peinlichen Besuche beim Friseur nicht weg, die Wege zum Milchladen oder den Tag, an dem seine fiese Lehrerin ein Aktfoto aus seinem Ranzen fischt.
Im Vorwort verrät Gerhard Schöne, dass er diese Geschichten alle auch schon seinen Söhnen erzählt hat. Jetzt bekommen auch seine Leser sie endlich schwarz auf weiß, auch all jene, die glaubten, die “Kinderzeit”-Lieder habe der Liedermacher doch wohl aus den Abenteuern seiner Kinder geschöpft. Nun wissen wir es besser: Sie wurzeln alle in Schönes Kindheit in diesen so fernen und irgendwie noch stillen und geruhsamen 1950er Jahren im sächsischen Coswig. Und jede Geschichte für sich ist eine richtige kleine Guten-Abend-Einschlaf-Geschichte, auch wenn man da und dort geneigt ist selbst zu sagen: “Aber das darfst du niemals nachmachen, hörst du?”
Meistens hören Kinder sehr gut. Und müssen’s dann trotzdem ausprobieren. Erzählen’s dann aber lieber erst ihren eigenen Kindern. Für sensible Eltern sind das vielleicht nicht unbedingt die besten Einschlafgeschichten. Aber es sind echte Geschichten, die auch Vieles von dem verraten, was man als gewöhnlicher Erwachsener fast schon vergessen hat: diese Begeisterung für Gerüche zum Beispiel oder die für ein Kind so unerträgliche Lust an der Langeweile. Die so wichtig ist. Aber das weiß man erst später, wenn einem als Erwachsener fast immer die Zeit fehlt zu einer richtigen, faulen, schönen Langeweile.
Was dabei herauskommt, das zeigen dann auch wieder die Bilder von Jutta Mirtschin. Kongenial, sagen die Kritiker dann gern, wenn zwei Künstler sich so auf Augen- und Herzenshöhe begegnen.
Gerhard Schöne “Mein Kinderland”, Lehmstedt Verlag, Leipzig 2014, 19,90 Euro
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