Der Ravensburger Buchverlag wird mutiger. Er traut sich – was jahrelang in der deutschen Jugendbuchliteratur fast verpönt war – Geschichten aus dem Hier und Jetzt zu verlegen. Und zwar nicht aus dem Hier und Jetzt der flockigen Bravo-Welt – sondern aus einem ganz typisch untypischen Hier: Berlin 1995.

Kein besonderes Jahr so im Überflug. Nicht vergleichbar mit den großformatigen Jubeljahren 1989, 1990, als alles auf einmal historisch wurde. Als alles begann. Als auch diese neue Geschichte der Berliner Autorin Petra Kasch begann: im Sommer 1989 auf einem Leuchtturm an der Ostsee, als in Prag die Emotionen hochkochen und in der Botschaft der Bundesrepublik sich die DDR-Flüchlinge drängen. Da sitzen drei mitten im Sturm und schwören sich, nicht einfach wegzugehen: die achtjährige Nadja und ihre Eltern.

„Niemand würde das Land verlassen, wenn auch nur einer von ihnen in Gefahr geriet. Sie blieben zusammen, egal was passierte.

Nadja war damals acht. Sie sind geblieben. Aber das Land ist fortgegangen.”

Und es kommt, wie es kommen muss: Natürlich haben Nadjas Eltern gar nicht die Wahl. Ihr Vater ist ein begnadeter Fotograf, der nur einen Fehler hat: Er will sich nicht verkaufen. Das soll’s geben. Manchmal heiraten Menschen auch, weil sie im Idealismus zueinander finden. Nadja Mutter ist Journalistin. Und wie das so ist in modernen Zeiten: Es geht ums Geld und ums Geldverdienen.

Über den Dächern Berlins

Nadja flüchtet aufs Dach des Hauses, wenn ihre Eltern sich streiten. Man ahnt, was da passiert – wie zwei sich aufreiben. Eine Geschichte, wie sie hunderttausendfach geschah nach 1990, nachdem sich die großen Strahlemänner der deutschen Einheit die Hände geschüttelt haben. Und für Viele hieß es ganz simpel: Gehen oder fortan auf Almosen angewiesen sein. Am Ende geht Nadjas Mutter nach Hamburg. Und man ist mittendrin in Nadjas Geschichte, mitten im weiten, schwierigen Feld zwischen Kindheit und Pubertät, wo alle wichtigen Fragen so schwer zu beantworten sind, die Emotionen so unberechenbar und die Träume so grenzenlos.

Das Haus, in dem Nadja mit ihrem Vater lebt, ist noch unsaniert. Eines der alten, würdevollen Berliner Mietshäuser, in denen man sich noch kennt, in denen die Zeit etwas langsamer läuft und es nicht ganz so schlimm ist, wenn das Geld nicht so üppig fließt. Bis dann die Mahnungen der neuen Hausbesitzer kommen und die Mahnungen der Elektrizitätswerke und auf einmal alles verworren wird.

Denn Nadjas Vater ist zwar einen begnadeter Fotograf – aber auch einer, der nicht viel spricht über sich. Der seine Sorgen lieber im Alkohol ertränkt und auch noch das Geld versäuft, das Nadjas Mutter aus Hamburg schickt. Die eh schon komplizierte Welt, in der man nicht unbedingt verraten darf, dass man sich weder neue Turnschuhe noch einen neuen Badeanzug leisten kann, wird noch komplizierter. Und für gewöhnlich gehen solche Geschichte nicht gut aus. Die Jugendämter können ihr Lied davon singen.

Nun gerade doch

Die Dame vom Jugendamt taucht auch in diesem Buch auf – etwas später, als so langsam klar wird: Die Geschichte ist auch ein wenig märchenhaft. Denn nicht nur Nadjas Freunde erweisen sich tatsächlich als echte Kumpel, die bereit sind, füreinander durch dick und dünn zu gehen. Auch Nadja ist sichtlich keine, die sich entmutigen lässt. Und als dann gar noch die scheinbar wildfremden Leute aus der Nachbarschaft sich als Verbündete erweisen, wird aus der ganzen Schöne-Ferien-im-Eimer-Geschichte eine Nun-gerade-doch-Geschichte mit einem zu Herzen gehenden Finale: einer großen Ausstellung nicht nur für Nadjas Vater, sondern auch für ihren Großvater und sie selbst.

Ein Happyend, das sich der Leser auch selbst verdient hat. Denn anfangs geht Nadja keineswegs zimperlich um mit den vielen tausend Fotos ihres Vaters. Da muss sogar die Feuerwehr anrücken. Und da nur Nadja handelt und ihr eh schon schweigsamer Vater dann auch noch einfach verschwindet, kann man nur ahnen, wie das Unausgesprochene zwischen beiden wabert – dem Vater, der sich nicht zu helfen weiß, und dem Mädchen, das nicht mehr Kind ist und sich dennoch am liebsten verkriechen möchte.

Es sind immer wieder kleine, ohne viel Federlesen erzählte Szenen, die ahnen lassen, wie Nadja das Verstummen und Verschwinden ihres Vaters erlebt. Und ohne Timm, Pascal und die anderen müsste auch diese Geschichte anders ausgehen. Trauriger natürlich und ratloser. Doch – wie gesagt – diese Geschichte ist auch ein wenig märchenhaft.

Und das Märchen erzählt von Erwachsenen, die noch träumen können. Und von Kindern, die sich nicht entmutigen lassen. Klingt erst einmal ganz einfach. Liest sich aber aufwühlender als das meiste, was jungen Lesern oft angeboten wird. Das Buch kommt am 1. August in den Handel.

Petra Kasch „Bye-bye, Berlin”, Ravensburger Buchverlag 2009, 12, 95 Euro

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