Als Karl-Heinz Mai im Spรคtsommer 1945 nach Leipzig zurรผckkehrte, lag seine Heimatstadt in Trรผmmern. Die Amerikaner waren schon wieder weg, die Russen gerade angekommen. Er selbst saร im โSelbstfahrerโ. 1943 waren ihm โ nach schwerer Verwundung und mehreren Lazarettaufenthalten โ beide Beine amputiert worden. Da war der junge Soldat aus der Scharnhorststraรe gerade 23 Jahre alt.
Fรผr manchen war so etwas ein Grund zum Aufgeben, Kopf hรคngenlassen. Nicht fรผr den jungen Leipziger. Schon vor 1943 hatte er fotografiert. Keine Idyllen, sondern die Bilder des Krieges โ ausgebrannte Panzer, zerstรถrte Stรคdte, gefangene Soldaten, Holzkreuze, Heldenfriedhรถfe und die toten Kameraden selbst.
Die Zerbombung Leipzigs am 4. Dezember 1943 erlebte er mit, verbrachte die nรคchsten zwei Jahre in Niederwiesa bei Chemnitz, bevor er zurรผckkehrte. Auch um fortan mit der Kamera festzuhalten, wie das Leben in Leipzig weiterging. Mit seinem โSelbstfahrerโ gehรถrte er zum Stadtbild, war praktisch tรคglich unterwegs. Und schuf so wohl die einzige so umfassende Dokumentation รผber das Leipzig der Nachkriegszeit bis 1964, als er starb.
Ein einmaliges Foto-Archiv
Allein 4.700 Negative aus der Zeit von 1945 bis 1948 haben รผberdauert. Weitere 12.000 zeigen den Beginn des Wiederaufbaus und die Installation der neuen โSieger der Geschichteโ. Von 2000 bis 2006 wurden sรคmtliche Negative digitalisiert. Doch wie einmalig seine Arbeiten waren, wusste man schon vorher. In Fachzeitschriften der DDR erschienen sie genauso wie 1984 in einem viel beachteten Beitrag in der โWochenpostโ. 1990 erschien im Miteldeutschen Verlag sogar ein Buch mit Texten von Fritz Rudolf Fries โPortrรคt einer Zeit. 1945 โ 1950 in Leipzigโ mit Fotos von Mai. Zu spรคt. Oder zu frรผh. Es ging in den โWende-Wirrenโ sang- und klanglos unter.
So dass der groรe Fotoband, den Pro Leipzig jetzt vorgelegt hat, tatsรคchlich die erste Verรถffentlichung ist, die erstmals zeigt, welche Bilderfรผlle der Mann da auf seinen Fahrten durch die Stadt eingefangen hat. Die zum Glรผck รผberlebt hat. Was nicht jedem Leipziger โFotoschatzโ gelungen ist. Es ist auch Mais Sohn Karl Detlef zu danken, der schon 1980 die Fotothek Mai grรผndete.
Am Zustandekommen des vorliegenden Bandes hat wieder dessen Sohn Andreas eine Hauptaktie. Er schrieb die erklรคrenden Texte zu den Fotos, die in mehreren Kapiteln geordnet sind โ von den Anfangsjahren bis zur โNeuen Zeitโ. Viele Fotos kommen ohne Erklรคrung gar nicht mehr aus, denn die Hรคuser und Straรenzรผge darauf sind aus dem Stadtbild verschwunden. Zuweilen auch ein ganzes Stadtquartier wie das Gerberviertel oder das Viertel um die Matthรคikirche.
Ein vergรคnglicher Moment
Mai muss es geahnt haben, dass er damit Unwiederbringliches auf Film bannte. Ganz zu schweigen von den Bildern, die die Menschen der Trรผmmerjahre zeigen โ Kriegsheimkehrer, Flรผchtlinge, Ausgebombte, spielende Kinder auf Trรผmmerhalden. Eine ganze einst prachtvolle Stadt liegt in Schutt und die Reste der alten Zeit sind noch รผberall sichtbar, ragen als Mauerrest in den Himmel, wรคhrend unten die kleinen Menschenameisen beginnen, die Steinberge abzutragen, Ordnung zu schaffen in der Stadt.
Und eine Zeitlang kรถnnte es das freie Baufeld fรผr die alten Schรถnheiten sein โ das Alte Rathaus wird wieder aufgebaut. Aber auf Demonstrationen und Riesenplakaten kรผndigt sich an: Die Weichen werden anders gestellt. Auch wenn die Bauten, die das verkรถrpern, erst Anfang der 1960er Jahre entstehen. So dass Mai ein ganz eigenes, fast zeitloses Leipzig einfรคngt โ die 1950er Jahre, in denen zwischen alten Kulissen und neuen Brachflรคchen das Leben wieder aufblรผht, Fahrradfahrer das Straรenbild dominieren, Fuรgรคnger, Doppelstockbusse und die alten, nun buttergelben Straรenbahnen. Selten ein Auto. Die Straรen sind noch breit genug.
Nur zu Messezeiten oder zum Evangelischen Kirchentag strรถmen Vรถlkerscharen durch die Stadt, in der allerorten die Bauzรคune stehen. Oder Provisorien die Lรผcken fรผllen. Lรผcken, von denen auch der Fotograf wohl noch nicht ahnt, wie lange sie im Stadtbild bleiben werden. โEin Glรผck fรผr Leipzig und unser Land, dass uns Karl Heinz Mai diese Fotos hinterlassen hatโ, schreibt Bernd-Lutz Lange in seinem Vorwort zum Buch.
Er selbst ein Nachkriegskind, das sich gut erinnern kann an die Zeit, als die Invaliden des Krieges in โSelbstfahrernโ durch die mitteldeutschen Stรคdte rollten. Er hรคtte selbst eines der von Mai fotografierten Kinder sein kรถnnen, die in den Trรผmmerwรผsten spielen. Wรคre er nicht in Zwickau aufgewachsen. Aber die Erfahrungen werden sich รผberall รคhneln. Und mit dem Verlust einstiger Schรถnheit steht Leipzig auch nicht allein da.
Vielleicht ein Neubeginn
Es ist auch eine Zeit neuer Lebensfreude, jenes Becherschen โAuferstanden aus Ruinenโ, die Karl Heinz Mai in seinen Fotos festgehalten hat. Lange fรผhlt sich an Borcherts โDrauรen vor der Tรผrโ erinnert und fragt auch nach der โgeistigen Enttrรผmmerungโ. Oder wurde da einfach nur โdas Alte weggerรคumtโ, um neue Plakate hinzuhรคngen? Was immer der scheinbar leichtere Weg des Wandels ist. Und mรถglicherweise ein Grund, warum Stadtumbau in Leipzig heute (wieder) ein Politikum ist.
Mai zeigt die Zeit, als das Politikum in Leipzig jene Baufreiheit vorfand, die es ohne den Krieg der Nazis und Wehrmachtsgenerรคle nicht gegeben hรคtte. Was schon nachdenklich macht beim Umblรคttern der Seiten, beim Betrachten der Gesichter, der Provisorien und Neuanfรคnge, die Mai allesamt eingefangen hat. Akribisch und unermรผdlich. Wohl wissend, dass das kein anderer an seiner Stelle tat.
โReporter des Alltags. Leipzig in den Fotografien von Karl Heinz Mai โ 1945 bis 1964โ, herausgegeben von Andreas Mai mit einem Vorwort von Bernd-Lutz Lange, Pro Leipzig, Leipzig 2007, 26 Euro.
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