Die „Liebe in Zeiten des Hasses“ ist nichts Neues. Bekommt man das Taschenbuch aus dankbaren Schülerhänden, muss es gelesen werden. Zumal ich vorher schon auf den Titel des 2021 erschienenen umfangreichen Recherchewerks von Florian Illies (*1971) aufmerksam wurde. Vor Jahren war mir seine „Generation Golf“ begegnet – durchaus interessant – und ich folgte gern den literarisch verfassten Sozialbefunden der Gegenwart und dem ZEIT-Journalisten.
Gerade und natürlich, wenn man es mit der jungen und aufstrebenden Generation zu tun hat, zu wissen, woher sie kommen, die jungen Menschen und wohin sie gehen sollen oder wollen. Illies ist eine journalistische Instanz, ein Profi. Mit zahlreichen Auszeichnungen wurde Illies bedacht, zuletzt konnte sich der Bestsellerautor über den Ehrenpreis des bayrischen Ministerpräsidenten freuen. Also auf zu neuer Lese-Erfahrung, in der selbst verordneten Mischung aus Neigung und Pflicht(-gefühl).
Die Vorabberichterstattung und Rezensionslage danach war auch bei diesem 2021 erschienenen Illies-Werk ausnahmslos positiv-wohlwollend, reichte von „Phänomenal!“ bis mindestens „Interessant“. Stellvertretend sei vom rückseitigen Buchcover der leidenschaftliche Imperativ des Bestseller-Kollegen Ferdinand von Schirach erwähnt. „Lesen Sie bitte dieses Buch, es ist hinreißend. Ich habe so viel Neues erfahren, über die Liebe, die Kunst und das Grauen.“
Und schlecht ist Illies’ Nachfolger von „1913“ (das ich mir anschließend besorgte) auch wirklich nicht. Sein Line-up der Biografien aus dem Bereich Kunst und Kultur der Weimarer Republik und danach ist wirklich beeindruckend. Reicht von Brecht bis Zweig. Weckt Interesse auf mehr. Aber auch dieses Mal fiel es mir schwer, aus der Fülle von Informationen, aus dem den vielen Puzzleteilchen ein Gesamtbild, ein „virtuoses Epochengemälde“ (Buchrückseite), entstehen zu lassen. Am Ende gelang es mir doch. Dazu jetzt mehr.
Florian Illies feuilletonistischer „Eingriff“ in die Biografien der Kunst- und Kulturszene der Weimarer Republik fällt ins Jahr 1929. Im Nachhinein kann man es als „Schicksalsjahr“ der ersten, früheren deutschen Demokratie bezeichnen. Mit den Sozialdemokraten an der Regierungsspitze steuert das Land auf stürmische Zeiten zu, die herrschenden Koalitionszustände am Staatsruder sind alles andere alles harmonisch, ein Jahr später wird die erste „Große“, bürgerliche Koalition aus Deutsch-Demokraten, Deutscher Volkspartei und Zentrum auch zerbrechen.
Die einzige Integrationsfigur der Republik auf dem jahrelang schlingernden Staatsschiff, der Krisen-Steuermann und Ausgleichspolitiker, der außenpolitisch verständigungsbereite Gustav Stresemann, stirbt Anfang Oktober. Im selben Monat brechen die New Yorker Aktienkurse ein, was zu verheerenden Auswirkungen für die deutschen Staatsfinanzen führt, sodass die kurze „Scheinblüte“ ab 1924 auch nur als solche sicht- und spürbar wird. Für die „Republik ohne Republikaner“, konkret für die arbeitenden Menschen der unteren und mittleren Einkommensschichten.
Die Arbeitslosenzahlen schnellen in die Höhe, das innenpolitische Klima wird rauer, brutaler, bis hin zur politischen Ohnmacht der Regierenden. Ab 1930 regiert dann ein Minderheits- bzw. Präsidialkabinett unter der mal versteckt, mal offenen Ägide des Reichspräsidenten Hindenburg. „Vater“ einer „Dolchstoßlegende“ (Motto: „Die anderen sind schuld.“), dem nach eigener Aussage der 1. Weltkrieg wie eine „Badekur“ bekam. Radikale Parteien rufen nach dem „Sowjetdeutschland“ (KPD) oder plakatieren „Unsere einzige Hoffnung – Hitler“ (NSDAP).
Noch ahnen die meisten Menschen im In- und Ausland an der Schwelle zum dritten Jahrzehnt nichts von der drohenden Katastrophe eines neuen, weltweiten Krieges, den die deutsche Rechte knapp 10 Jahre später entfesseln wird. Noch liest man Erich Maria Remarque, seinen Sensationserfolg „Im Westen nichts Neues“, folgt den erschütternden Frontberichten des Protagonisten Paul Bäumer, freut sich auf die baldige Hollywood-Verfilmung. Und Remarque, der bekennende Pazifist, der zeigt sich überrascht angesichts seines überwältigenden, kommerziellen Erfolgs, schreibt gleich weiter und beschreibt im „Weg zurück“ die Heimkehr einer verlorenen Soldatengeneration.
Illies gelingt es stilistisch brillant, die Selbstbeschäftigung der deutschen (und europäischen) Kulturelite zu zeigen, ihr Privat- und Liebesleben, den „Radikalismus des Herzens“ (wieder Buchrückseite) rhetorisch zu bebildern, sogar ab und zu zu pointieren. Hier entsteht es, das Gemälde aus Puzzleteilen, das die Ahnungslosigkeit und politische Naivität der Vorzeigeintellektuellen von Hermann Hesse bis Thomas Mann verdeutlicht. Letzterer kann an dieser Stelle für Stimmung und Autorenstil geradezu beispielhaft stehen. S. 115: „Und auch ‚Urlaub‘ [der Familie Mann] wird in Anführungszeichen gesetzt. Thomas Mann hat seiner Frau früh erklärt, dass er sich auf ‚beschäftigungslose Erholung nicht verstehe‘.
Und das hat sie akzeptiert. Im Freien kann er nicht arbeiten, sagt er, er brauche ein Dach über dem Kopf, ‚damit der Gedanke nicht träumerisch evaporiert‘. Ja, so redet Thomas Mann wirklich. Selbst bei dreißig Grad im Schatten.“ Ähnlich Alltägliches kann man von seinem Bruder Heinrich lesen, der dralle Mädels bevorzugt beim Casting für seine Romanverfilmungen („Der blaue Engel“ feiert 1930 in Berlin Premiere, mit dem Shootingstar Marlene Dietrich, sie ist auch in der Illies-Auswahl vertreten) oder findet es bei Bertolt Brecht, der sein Liebesleben „neben“ der „Dreigroschenoper“ zwischen der „Festanstellung“ Helene Weigel und seinen „Teilzeitpraktikantinnen“ hin und her inszeniert.
Alles läuft in der kurzbiografischen Illies-Jonglage auf Beziehungsgeflecht(e) hinaus, Kennenlernfreude (Sartre und Beauvoir) wechselt mit Trennungsschmerz (Lisa Matthias und Kurt Tucholsky). So weit, so gut. Anfang der dreißiger Jahre scheint alles noch individuell lösbar, trifft die „große Politik“ noch nicht die (besserverdienende und lebende) bildungsbürgerliche Elite des Landes. Noch nicht. Aber das sollte sich ändern.
Im kalten Winter des Jahres 1933 bleibt Linksliberalen, bürgerlichen Künstlerinnen und Künstlern mit utopisch-humanistischen Visionen, Kommunisten wie Brecht, Anarchisten wie Mühsam nur die Wahl zwischen den kleineren und größeren Übeln. Zwischen Haft und Lebensgefahr oder unsicherer Flucht, in Länder, aus denen man gleich wieder weiterflüchten muss, um der Naziverfolgung zu entkommen.
Die Unterschätzung des hemmungslosen Terrors der „Nationalen Revolution“, sowie das allzu blinde Vertrauen auf die bürgerliche Demokratie treibt zahllose Kunstschaffende, Wissenschaftler und Philosophen in alle Teile der Welt, in Einsamkeit und Verzweiflung (Tucholsky, Zweig), in den künstlerischen Widerstand (Klaus Mann, Bertolt Brecht) oder im schlimmsten Fall in die mörderischen Konzentrationslager (Erich Mühsam, Carl v. Ossietzky).
Illies beschreibt hektische Fluchten (Joseph Roth), dann ängstliches Verbergen (Victor Klemperer) und man bekommt eine Vorstellung vom Schrecken der Verfolgung, wenn Antidemokraten wahrmachen, was sie erst verklausuliert-metaphorisch, beinahe euphemistisch verkünden (Goebbels 1933: „Einmal wird eine Zeit kommen, dann wird den Juden das freche Lügenmaul gestopft werden.“) und später mit brutalem Kalkül vollstrecken. Die Vernichtung Andersdenker.
Iliie’ Personenspektrum reicht am Ende bis zur 21-jährigen Sophie Scholl, die nach ihren BDM-Erfahrungen zur „Weißen Rose“ gefunden hatte, ihr junges Leben hingibt, sich mutig gegen eine Mehrheit der Resignation, des Irrtums in einer „Generation Krieg“ stellt.
Damit schließt sich der Kreis in der Autorenbeschreibung. Nach dem Lesen der über 400 Seiten kam in mir immer stärker die „Verwertbarkeit“ der Illies-Beschreibung für die Gegenwart, für die „Generation Krise“ der jungen Menschen von heute, auf. Das historische Biografie-Puzzle fügt sich dann doch zu einer vergleichbaren Befundskizze zusammen.
Dabei bin ich mir der Schwierigkeit bei der versuchten Analogiebildung in Geschichte und Gegenwart bewusst. Parallelen können dabei niemals gerade gezogen werden. Deutsche Diktaturerfahrung gab es vor 1933 in der faschistischen Dimension eben nicht. Aber man sieht bei Illies nach meiner Lese-Erfahrung etwas Dystopisches: Was passiert, wenn man bürgerlich-demokratischen Selbstverständlichkeiten – sprich: universell-immerwährend-garantierten Menschenrechten vertraut, sich in hybrider Arroganz von Freiheit und Wohlstand sonnt.
Nicht nur dann sollte man es sich leisten, den Ausführungen des „Zeit“-Journalisten zu folgen. Biografisch Neues oder Beschreibung von Alltagserfahrungen berühmter Personen der Vergangenheit sind nicht nur interessant – Wissen ersetzt bekanntlich keine Erkenntnis – dient aber indirekt einer Mahnung, „Zeiten der Liebe“ möglichst nie wieder solche des „Hasses“ folgen zu lassen.
Florian Illies Liebe in Zeiten des Hasses Fischer-Taschenbuch, Frankfurt a. M. 2021, 431 S.
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