Was macht man eigentlich, wenn einen das Leben so richtig von der Bühne kegelt? So, wie es dem Liedermacher, Kabarettisten und Autor Rainald Grebe 2017 geschah, als ein Schlaganfall seine Bühnenauftritte für Monate unterbrach? Und so richtig besser geworden ist es ja auch 2021 nicht. Schreibt man also mit 50 schon seine Memoiren? Ein paar Verlage waren durchaus daran interessiert, dass der Tausendsassa die erzwungene Auszeit nutzte, um für sie seine Autobiografie zu schreiben.
Ein trauriges Buch? Mitnichten
Doch bekommen hat sie am Ende der Independent-Verlag Voland & Quist. Aus guten Gründen. Denn natürlich ist Rainald Grebes Lebenserzählung keine klassische Autobiografie geworden. Wäre es wohl auch nicht geworden, wenn er sie nicht in einer Reha-Klinik in Teupitz geschrieben hätte, konfrontiert mit den Tücken seines Kopfes, der nicht mehr so will und kann, wie er mal konnte.
Eben noch ein Leben unter Volldampf. Und auf einmal die bohrende Frage: Soll man jetzt eine Patientenverfügung und ein Testament schreiben? War es das? Wird von all dem, was dieses hungrige, abenteuerlustige Gehirn noch immer für möglich hält, überhaupt noch was passieren?
Das klingt, als könnte das ein trauriges Buch werden. Wird es aber nicht. Auch wenn Grebe sich mühsam herantastet an das Schreiben. Der Klinik-Alltag drängt sich immer wieder dazwischen. Und die Gedanken schweifen ab. Da helfen auch nicht die Erinnerungsstücke aus dem Album, die scheinbar einen roten Faden ergeben.
Was ist wirklich wichtig im Leben?
Es sind nicht nur die phantastischen Zeichnungen von Chrigel Farner, die dieses Buch in etwas völlig anderes verwandeln als eine schön säuberlich hintereinanderweg erzählte Lebensgeschichte. Es ist auch das klug gewählte Layout, das sichtbar macht, wie wenig Erinnerungsarbeit tatsächlich dem ähnelt, was einem sonst in den üblichen Autobiografien berühmter Leute begegnet.
Und da und dort schimmert auch Grebes Unbehagen durch, weil augenscheinlich einige Verlage unbedingt Grebes Begegnungen mit anderen Berühmtheiten im Buch wiederfinden wollen. Also all das, wovon in der Regel Boulevardmedien leben. Und dagegen sperrt sich alles in ihm. Da fragt er sich durchaus, mit welcher berühmten Künstlerin er hätte Sex haben sollen, damit ihm dann sein Buch abgenommen wird.
Als würde sein eigenes verrücktes Leben nicht ausreichen. Und das war ja verrückt. Jeder weiß es, der seine wilden Inszenierungen (auch in Leipzig) kennt, seine Auftritte als Kabarettist, seine Bücher. Und dabei hat das alles gar nicht so verrückt angefangen, schildert er eine für seine Generation fast normale Kindheit und Jugend in Frechen, auch wenn er sich da schon mit durchaus ungewöhnlichen Dingen ausprobierte wie dem Kartieren von Feuchtbiotopen oder in einem Schul-Kabarett. Nur um danach wie so viele wohl nicht nur in seiner Generation in die Ratlosigkeit zu geraten bei der Suche nach dem eigenen, wirklich richtigen Weg ins Leben.
Die 1990er Jahre und der Karrierismus
Da ist man schon in den 1990er Jahren, die er ganz und gar nicht als die optimistischen und bunten empfand, wie sie uns heute einige Leute gern als Erinnerung einreden möchten. Was wohl daran liegt, dass er sich von Anfang an nicht für eine dieser Karrieren der Kohl-Ära begeistern konnte, mit denen man es „zu etwas bringen konnte“.
Sein Weg führte ihn zum Studium des Puppenspiels in Berlin und zum ersten Theaterengagement in Jena. Doch das erzählt sich hier so glatt, obwohl er es so nicht erzählt. Das Buch zeigt grafisch sehr schön, wie zersplittert und ablenkungsreich tatsächlich Erinnerung ist. Es braucht manchmal wirklich echte Erinnerungsstücke wie alte Fotos und Zeitungsausschnitte, um sich einen Teil des Vergangenen wieder vor Augen zu führen, sich an Menschen zu erinnern, die einem einmal nahe waren.
Unsere Erinnerung ist ein Konstrukt
Und manchmal spuckt auch das von lauter Mini-Schlaganfällen zermürbte Gehirn lauter Anekdoten aus, lässt Momente lebendig werden, aber auch alte Sorgen und Zweifel. Denn dass Grebe nach dem Jahr 2000 tatsächlich als Bühnenkünstler durchstarten würde, war lange nicht klar. Denn Talent wird nicht unbedingt belohnt in einer Welt, in der es das Publikum nicht erreicht oder jene Leute, die einem die Türen öffnen auf die große Bühne oder gar ins Fernsehen.
Und die Corona-Pandemie hat ja endgültig gezeigt, wie schnell sich selbst die kleinen Türen schließen können, wenn die Politik lieber die Kulturhäuser dicht macht als die Autofabriken. Der Lockdown prägt ja auch Grebes Klinik-Tage, die auch tagebuchartig einfließen in dieses Buch, in dem Grebe sich eigentlich eher neugierig in die eigene Erinnerungskiste stürzt – nicht einmal ansatzweise bestrebt auf Vollständigkeit oder gar eine Hochglanz-Fotostrecke, auf der er mit lauter berühmten Kolleg/-innen zu sehen ist.
Das reizt ihn nicht. Es ist ihm nicht mal einen Gedanken wert, weil er es wichtiger findet, von sich selbst zu erzählen und seinem früheren Ich, das er mit jeder Menge Mitgefühl durch Lebensstationen begleitet, von denen man sich Jahre später nur zu oft fragt: War das damals wirklich so? (Ost-)Berlin etwa gleich nach dem Mauerfall, als zumindest die wirklich neugierigen Westdeutschen tatsächlich in den Osten strömten, um dieses bizarre Land und seine Überbleibsel kennenzulernen.
Und Grebe studierte hier, startete hier seine Laufbahn als Puppenspieler und blieb auch da, sang sich mit dem Brandenburg-Lied sogar in die Herzen seiner neuen Landsleute, wohl wissend, dass es um dieses ewige Gebimmel Ost / West, West / Ost gar nicht geht. Sondern darum, als Künstler authentisch zu sein, sich für das eigene Tun zu begeistern und damit auch das Publikum in Bann zu schlagen. Etwas, was den jungen Zivi Grebe schon umtrieb.
Die Wunderkiste unserer Erinnerung
Und einmal mehr fühlt man sich auch an Umberto Ecos geniales Buch „Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana“ erinnert, nur dass Grebe sein Gedächtnis nicht verloren hat und natürlich noch weiß, wer er ist. Was ja schon frustrierend genug sein kann, wenn man merkt, dass man künftig nicht mehr so agieren kann, wie man das jahrelang getan hat. Das Leben ändert sich abrupt. Das weiß auch Grebe. Aber selbst wenn ihm Worte oft nicht mehr einfallen und Konzentrationsübungen schiefgehen, ist der ruhelose, immer neue Pläne schmiedende Bursche im Kopf noch quicklebendig.
Und jetzt tobt er sich eben auch beim Aufschreiben der Erinnerungen aus, die zu lauter Geschichten werden. Zu was auch sonst? Wir erinnern unser Leben nun einmal als ein Sammelsurium von Geschichten. Unser Ich konstituiert sich geradezu aus diesen Erlebnissen. Wir sind, was wir erlebt haben.
Und was wir uns als das Unsere erinnern. Auch dann, wenn es sich mit den jüngsten Erlebnissen mit dem Psycho-Doktor oder in der Ergotherapie vermischt. Mit den Anrufen bei Anna und den Momenten am See, in denen er sich sogar einmal aus einer Laune heraus ins Wasser stürzt. Dem, was man bei Kindern so gern Übermut nennt: Einfach mal zulassen, dass auch etwas völlig Blödes passiert – und hinterher möglichst würdevoll an der Aufsicht vorbei wieder aufs Zimmer gehen, um sich trockene Klamotten anzuziehen.
Es ist, als säße man mit Grebe selbst an seinem Tisch in der Klinik, ab und an ein Erinnerungsstück aus dem Karton ziehend, um dann doch wieder abgelenkt zu werden von den Verrücktheiten einer Künstlerkarriere, die ja aus Sicht des Schreibenden noch längst nicht beendet ist.
Dass das im Frühjahr noch geplante Waldbühnenkonzert dann im Sommer doch abgesagt werden musste, konnte Grebe ja noch nicht ahnen. Sein Ausflug in die Erinnerungen endet mit dem Eintrag zum 1. April 2021 und einem ganz ungeplanten Auftritt im Tropical Island. Und eigentlich steht auch zuletzt noch die Frage vom 26. März: „Lebbe geht weiter, das der anderen zumindest. Was ist ein Termin, ein Gig, ein Auftritt, ein Roman, eine Theaterpremiere, eine Teekanne?“
Eine berechtigte Frage, die er sich selbst so beantwortet: „Ein Nothing. Das ist schon überraschend, hatte ich bis dahin keine einzige Vorstellung abgesagt. (…) Ich war mit mir nicht zimperlich. Und jetzt: Blick in die Zukunft.“
Lauter kleine Puzzle-Teile
Der „Blick in die Zukunft“ aber sind kurze Eindrücke, Gedanken, kleine Aphorismen. Also all dieses Kleinzeug, das einem immer dann durch den Kopf flutet, wenn man wirklich mal ausgestiegen ist aus dem Hamsterrad, seine Auftritte nicht abwickelt in atemlosem Hin und Her zwischen Städten, Stadthallen, Theatern und Kabarettbühnen. So betrachtet kamen da zwei Sachen zusammen, die auch irgendwie passten: Grebes Wochen in der Reha und die Corona-Stille da draußen, die den Bühnenschaffenden sowieso zu schaffen machte und sie ins Stillsitzen zwang, wenn sie nicht lieber als Päckchenschlepper zu DHL oder Amazon gegangen sind.
Es ist also eine schöne offene Biografie geworden. Eigentlich sogar erst eine Skizze dazu, weil man als Leser doch gern da und dort ein bisschen mehr erfahren hätte über das Leben hinter der Bühne. Aber es ist Grebes gutes Recht, genau das außen vor zu lassen und erst einmal nur zu erzählen, wie und warum er dieser Tausendsassa auf der Bühne geworden ist. Das muss man sich selbst eigentlich auch erst einmal erklären.
Denn von allein passiert so etwas nicht. So, wie kein einziger Lebenslauf einfach so passiert. Und man irgendwann später sowieso nur noch verwundert da sitzt in Kostüm und Maske und staunt darüber, wie simpel und scheinbar beiläufig das einmal angefangen hat. Und dann doch – nach ziemlichen Irrungen und Wirrungen – zu etwas wurde, was andere bestaunen und was man vorzeigen kann. Und trotzdem selbst noch staunt dabei.
Wie schreibt man sein Leben eigentlich am besten auf?
Wobei Grebes so beiläufig zusammengepuzzelter Text eben auch eine nicht zu bändigende Lust am Weitermachen in sich trägt. Der Bursche hat noch immer mehr Pläne, als ein Mann in seinem Leben tatsächlich verwirklichen kann. Und vieles davon ist herrlich überzogen, so irre, dass man Grebe trotzdem zutraut, dass er es probieren wird.
Und selbst wenn nicht – es ist egal. Hier ist einer mit seinem Dasein als Mensch und Künstler noch lange nicht fertig und macht selbst seine behandelnden Ärzte wuschig, weil er nicht daran denkt, sich jetzt in den Rollstuhl zu setzen und Ruhe zu geben. Auch wenn er mit einer gewissen Abgeklärtheit seine Patientenverfügung schreibt. Aber er macht kein Drama draus. Auch an diesem Punkt noch immer der Bursche, den wir von der Bühne kennen.
Und so nebenbei macht er hier vor, wie man sein Leben eben auch aufschreiben kann – wesentlich authentischer als in all den sauber durchdeklinierten Biografien, die andere berühmte Leute oft genug von Ghostwritern schreiben lassen, weil sie zum Niederschreiben und Ausformulieren gar keine Zeit und oft auch nicht das Talent haben.
Aber Grebe ist eben auch ein erfahrener Autor. Und er weiß, dass auch das Schreiben ein Auftritt ist. Auch wenn das erst einmal nicht so aussieht, wenn einer sich am Kalender entlang hangelt und in die Tasten haut, was einem zu einzelnen Ereignissen gerade im Moment so einfällt. Gern auch mit einem naseweisen Nutria in der Saale.
Und die abschweifenden Gedanken gibt es dann auch noch schön fett gedruckt. Als hätte sich das Layout-Team wirklich die Bälle zugespielt beim Setzen dieses Textes, der so unverstellt zeigt, dass unser Erinnern nie im Leben so konsistent ist, wie es einem einige Leute mit dicken Memoiren gern weismachen möchten. Dazwischen durchaus kecke und witzige Bilder aus dem Fotoalbum und die fast märchenhaften Illustrationen von Chrigel Farner, die den Text zusätzlich spiegeln und auch die fantastische Dimension des Erinnerns zeigen.
So könnte man sich wirklich vorstellen, ein Leben aufzuschreiben – unvollkommen, vom Alltag durchbrochen, schillernd in lauter Einzelteilen, an die man sich immer nur punktuell erinnert. Aber am Ende wird auch etwas Ganzes draus, etwas, was einige Verlage ratlos macht. Und andere begeistert zusagen lässt, weil genau das der Stoff ist, aus dem das Leben tatsächlich besteht – und die Literatur sowieso.
Rainald Grebe Rheinland Grapefruit. Mein Leben, Verlag Voland & Quist, Berlin 2021, 28 Euro.
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