„Nichts vergessen“ – diese zwei Worte prangen auf einem Banner über den Köpfen von Demonstrant*innen, die an einem Montagabend im Herbst 1989 in friedlicher Einigkeit über den Leipziger Innenstadtring laufen. Es ist ein eindrucksvolles Foto, das die Bürger*innen zeigt, die sich nach 40 Jahren DDR das Ende des „Bauern- und Arbeiterstaates“ wünschten. Ihre Geschlossenheit und die tausender weiterer Menschen, welche es ihnen in anderen Städten der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik gleichtaten, mündete schließlich im Fall der Berliner Mauer, im Fall der DDR, im Fall des Stasi-Apparats.

35 Jahre später ist die Aufarbeitung der Ereignisse von 1989 zwar vorangeschritten, doch längst nicht beendet. Sollten diese Geschehnisse überhaupt jemals in der Schublade verschwinden? Unter dem Titel „… nichts vergessen! Vom Beginn der Aufarbeitung von DDR-Geschichte in Leipzig“ lud das Stadtgeschichtliche Museum am 29. Oktober Zeitzeug*innen ein, welche hautnah miterlebten, wie ein politisches System aus den Fugen gehoben wurde.

Angeleitet durch die Moderation des Historikers Prof. Dr. Bernd Lindner teilten sich die Bürgerrechtlerin Gesine Oltmanns, die im Vorstand der Stiftung Friedliche Revolution aktiv ist, Regina Schild, welche im Bürgerkomitee an der Sicherung und Archivierung der Stasi-Unterlagen beteiligt war, und Tobias Hollitzer, heutiger Leiter des Stasi-Museum „Runde Ecke“, das Podium. Im Hintergrund: Das Foto der Demonstrant*innen von 1989.

„Ich bin jetzt bei der Stasi, ich bleibe erst einmal hier“

Tobias Hollitzer berichtete davon, wie er am 4. Dezember 1989, begleitet von zwei Mitgliedern der Staatssicherheit, Einlass fand in die „Hochburg“ der Stasi in Leipzig – die Runde Ecke am Dittrichring. Im Zuge der Montagsdemonstration hatten etwa 30 Personen den „Stasi-Bunker“ besetzt, um zu verhindern, dass Mitarbeitende abertausende Akten vernichteten, welche sie über Jahrzehnte fein säuberlich angelegt hatten. Akten, die in das Privatleben von Menschen eindrangen. Akten, die jedes Detail im Alltag von Personen dokumentieren, die verdächtigt wurden, gegen die DDR und ihren Staatsapparat zu agieren.

„Das Gebäude war dicht, schwarz von außen. Aber als die Türen aufgingen, haben wir gesehen, dass alle Mitarbeitende vor Ort waren“, beschreibt Hollitzer seine Eindrücke von damals. Nachdem er in die Runde Ecke eingedrungen war, kam er tagelang nicht hinaus. „Ich bin jetzt bei der Stasi, ich bleibe erst einmal hier“, sagte Hollitzer seinem Arbeitgeber am Telefon. Gemeinsam mit zahlreichen anderen Freiwilligen hat er Stasi-Unterlagen geordnet und dafür gesorgt, dass die Papiere für die Nachwelt erhalten bleiben würden.

Eine dieser Freiwilligen war seine Sitznachbarin Regina Schild. Sie wurde damals „reingeworfen in die Aktionen“, verspürte den Wunsch, ein aktiver Teil der Ereignisse zu sein. Sie wurde Mitglied im Bürgerkomitee Leipzig e.V., welches sich in diesen Tagen unmittelbar aus der Friedlichen Revolution heraus gründete. Die Brotarbeit wurde schnell zur Nebensache für die Engagierten, die Sicherung der Stasi-Akten nahm nun alle verfügbare Zeit ein. „Es waren sehr viele Menschen, vor allem Frauen, die praktisch von einem Tag zum anderen innerlich ihre Arbeitsverhältnisse beendet und sich einer vollkommen neuen Aufgabe gewidmet haben“, erinnert sich Gesine Oltmanns.

Die Chance, einen anderen Weg einzuschlagen

Leipziger Zeitung 130. Cover: LZ

Viele Menschen, die sich im Zuge ihrer Arbeit schnell die Frage stellten: Wie kann die Aufarbeitung dessen, was hinter den Türen des „Stasi-Bunkers“ vor sich ging, versöhnlich gestaltet werden? Für Regina Schild war klar: „Wenn die Stasi nicht mehr da ist, haben wir die Chance, einen anderen Weg einzuschlagen.“ Ihr und den Mitgliedern des Bürgerkomitees war es wichtig, dass die Akten zugänglich gemacht würden – das Interesse daran war riesig.

Eine Ausstellung mit dem Titel „Stasi – Macht und Banalität“, welche Aktive des Komitees sechs Monate nach der Besetzung der „Runden Ecke“ auf die Beine stellten, zog insgesamt 130.000 Besucher*innen an. Man wollte die Öffentlichkeit teilhaben lassen – und schreckte nicht davor zurück, tagelang in den Zellen der Untersuchungshaft zu campieren, um sicherzustellen, dass niemand Unbefugtes Hand an die kostbaren Dokumente legen würde.

„Es gab verschiedene Phasen, in welchen wir auch wirklich um diese Akten gekämpft haben.“ So konnte das Komitee auch erwirken, dass die Papiere eben nicht, wie von manchen Personen durchaus erwünscht, im Bundesarchiv landeten, wo sie erst 30 Jahre später wieder hätten hervorgeholt werden dürfen. Die Akteneinsicht und die Aufarbeitung von 40 Jahren Stasi-Geschichte wären damit erst seit wenigen Jahren möglich.

Dass in Leipzig bald ein großangelegtes Freiheits- und Einheitsdenkmal an die Friedliche Revolution erinnert, wertet Gesine Oltmanns als einen positiven Schritt zur weiteren Aufarbeitung. „Dieses Denkmal würde nichts leisten können, wenn es nicht die Basis-Auseinandersetzung mit der Friedlichen Revolution gegeben hätte“, pflichtet Hollitzer ihr bei.

Gleichzeitig stellen alle drei Podiumsgäste klar: Die Konzentration auf die Stasi allein ist nicht genug. „Den Anfang, die Aufarbeitung von Ohnmacht und Unrecht, fand ich vollkommen richtig und wichtig“, so Oltmanns. Dass die SED als Machtapparat dabei weitgehend als Fokuspunkt der Aufarbeitung außen vorgelassen wurden, sieht sie kritisch. Seine persönliche Abneigung gegen den Nachfolger der SED, in den 1990ern die PDS, heute Die Linke, kann auch Hollitzer nicht verbergen.

An diesem Abend aber sprengt das Thema den Rahmen. Denn, wie sich durch anschließende Zuschauer*innenfragen bestätigt, gibt es noch viele weitere Aspekte aus 40 Jahren DDR-Geschichte, welche unter dem Aspekt der Aufarbeitung weiter unter die Lupe genommen werden müssen. Vielleicht sind das ja dann Themen für einen nächsten Zeitzeugenabend …

„Wenn die Stasi nicht mehr da ist: Wie Bürger*innen den Machtapparat der DDR auflösten“ erschien erstmals im am 01.11.2024 fertiggestellten ePaper LZ 130 der LEIPZIGER ZEITUNG.

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