Irgendwie ist das Jahr 2024 auch Erich-Kästner-Jahr, denn vor 50 Jahren starb der berühmte Schriftsteller in München. Aber das Buch, das Norbert Wollschläger hier geschrieben hat, ist mehr als eine Erinnerung an Erich Kästner. Der Titel verrät es eigentlich schon: Es ist auch eine Warnung. Denn das, was die Weimarer Republik am Ende zerstört hat, kann auch heute wieder passieren. Die Feinde der Demokratie sind längst schon wieder am Werk.
Nur dass es heute ein wenig zu fehlen scheint an sprachgewaltigen Autorinnen und Autoren, die ihrem Unbehagen gegenüber dem rechtsextremen Rollback auch entsprechend deutliche Form geben.
Leute wie Erich Kästner eben, dessen Gedicht „Ganz rechts zu singen“, das am 1. Oktober 1930 in der „Weltbühne“ erschien, Wollschläger mit aufgenommen hat in seinen Roman, der seine diversen Heldinnen und Helden begleitet vom Vorabend des Ersten Weltkrieges (28. Juni 1914) bis zu dem Tag, an dem Autoren wie Kurt Tucholsky längst entschieden hatten, das in den Faschismus taumelnde Deutschland zu verlassen.
Das ist in diesem Buch der 4. Dezember 1930, kein zufälliges Datum. Denn da begann Joseph Goebbels die orchestrierte Randale gegen die Aufführungen des in den USA gedrehten Films „Im Westen nichts Neues“ nach dem Bestseller von Erich Maria Remarque zu organisieren, die dann wenige Tage später zum Verbot des Films führten.
Ziel erreicht, konnte Goebbels für sich verbuchen. Nicht nur bewiesen die Nazi-Störer damit, wie leicht sich die geschwächten Institutionen der Weimarer Republik einschüchtern und erpressen ließen. Sie zeigten damit auch, wie weit man in einer geschwächten Demokratie mit bloßer Stimmungsmache, Krakeelerei und Gewalt kommen konnte. Plus Fakenews und Verschwörungstheorien. Faschismus greift immer wieder auf dieselben Gesetze von Einschüchterung und Drohung zurück.
Eine doppelte Geschichte
Indem Norbert Wollschläger seine Protagonisten wie im Tagebuch durch die Zeit des Ersten Weltkrieges und der Weimarer Republik begleitet, erzählt er quasi immer eine doppelte Geschichte. Die eine ist die Geschichte seiner Protagonisten, die sich in den lebendigen Jahren der jungen Republik Ruhm und Erfolg erarbeiteten. Und das andere ist die Geschichte der Republik, die so viel Hoffnung machte und so viele Chancen für eine völlig andere Zukunft bot, die dann durch das gemeinsame Gemurkse stockkonservativer Politiker und dummdreister Nationalsozialisten verunmöglicht wurde. Stattdessen roch es schon 1930 wieder nach Krieg.
Dazu brauchte man gar nicht das feine Gespür von Kurt Tucholsky, der in Wollschlägers Reise durch ein unvergleichliches Jahrzehnt genauso viel Würdigung erhält wie Erich Kästner und Erich Maria Remarque. Wobei für Wollschläger das Spannende ist, wann er diese Berühmtheiten der 1920er Jahre einander begegnen lässt. Nukleus seines Romans ist ja die späte Begegnung Kästners und Tucholskys im Grandhotel Brissago am Lago Maggiore, einem Erholungsort der Reichen und gut Betuchten.
Von der späten Begegnung hat Erich Kästner selbst erzählt. Obwohl man eigentlich doch denkt, diese beiden hätten sich schon bei der „Weltbühne“ regelmäßig über den Weg laufen müssen, für die sie beide schrieben – Kästner seine bewundernswert lakonischen Gedichte und Tucholsky seine bissigen Kommentare zum Zeitgeschehen und Rezensionen.
Doch Kästner mied die Einladungen von Edith Jacobsohn, die die „Weltbühne“ nach dem frühen Tod von Siegfried Jacobsohn weiterführte. Und Kurt Tucholsky blieb nach Jacobsohns Tod lieber auf Reisen und berichtete von unterwegs. Sein Schreibmaschinengeklapper dürfte nicht nur reiche Hotelgäste in Brissago auf die Palme gebracht haben.
Das Besondere an Wollschlägers Roman ist, dass die meisten der Begegnungen, die er schildert, tatsächlich verbürgt sind. Vier Jahre hat er an seinem Roman gearbeitet und dazu die einschlägigen Literaturarchive der Republik durchforstet, dazu natürlich auch die veröffentlichten Erinnerungen und Briefe seiner Helden.
Wer war „Moritz“?
Und ein besonderes Detektivspiel muss es gewesen sein, die junge Dame dingfest zu machen, die Erich Kästner in seinen Briefen an die Mutter immer nur „Moritz“ nennt. Ein Versteckspiel, vielleicht aber auch Kästners Versuch geschuldet, sich nicht zu binden. Und trotzdem gelingt es Wollschläger viele intensive Szenen zu zeichnen, die nicht nur Kästners, sondern auch Tucholskys Vorliebe für kluge, selbstbewusste Frauen zeigen. Auch das etwas, was diese 1920er Jahre auszeichnet. Auch da wird oft vergessen, dass auch ein ordentliches Stück weibliche Emanzipation von den Nazis wieder zunichtegemacht wurde.
Letztlich zeichnet Wollschläger in seinem Roman das Bild einer Weimarer Republik, wie sie in den Widernissen des 20. Jahrhunderts bald nicht mehr zu erkennen war. Und auch in den beiden bräsigen Nachfolgestaaten des in Scherben gegangenen Deutschen Reiches nicht mehr erkennbar war, mit ihrer ausgestellten Biederkeit, ihrer Familientümelei und dem kleinbürgerlichen Format ihrer Ideale.
Was hätte aus diesem Land nur werden können?
Daran denkt man nicht nur in der schönen Szene, in der ein paar Jenaer Professoren darüber beraten, ob dieser Herr Tucholsky nun einen Doktortitel im Fach Jura bekommen soll oder doch besser nicht? Dafür sprach schlicht die Tatsache, dass Tucholsky sichtlich keine Anstalten machte, tatsächlich Jurist zu werden. Und es sprach ein Büchlein dafür, das damals viele junge Leute in ihrem Soldatentornister mit an die Front nahmen – Tucholskys bis heute faszinierender Liebes-Urlaubs-Roman „Rheinsberg“ mit der kessen Claire, deren Vorbild man bei Wollschläger natürlich auch finden kann.
Ach, diese Frauen.
Was hätte aus diesem Land nur werden können.
Hätten mehr Leute nur das gelesen und verinnerlicht, was Autoren wie Kästner, Tucholsky und Remarque schrieben. Und sich frühzeitig gewehrt. Ein Leitmotiv, das zu Ende dieses Romans immer deutlicher wird: Wenn man die Nazis erst einmal in Scharen einziehen lässt in die Parlamente und ihnen die Türen zur Macht öffnet, ist es zu spät. Man muss sie früher stoppen und bekämpfen. Doch auch Kästner & Co. haben sich die Gefahr lange kleingeredet, waren oft genug überzeugt davon, dass der Spuk vorübergeht.
Der Spuk ging nicht vorüber
Nur profitieren gewalttätige Radikale immer davon, wenn ein Land von Krisen geschüttelt wird oder dumme Kanzler die Krise noch verschärfen, indem sie mitten in der wachsenden Arbeitslosigkeit auch noch die Staatsausgaben kürzen. Man kennt das irgendwie. Als würden einige Politiker einfach nichts aus der Geschichte lernen wollen und mit alten, oft genug gescheiterten Rezepten, ihre Politik auf Teufel komm raus umsetzen. Und der Teufel kommt dann in der Regel auch heraus.
Denn in Krisen werden die ratlosen Menschen zur Schwungmasse und werden verführbar, jeden Knopf zu wählen, der sich ihnen als Führer andient.
Apropos: Auch der Herr Hitler bekam ein paar Szenen in Wollschlägers Buch. Die schönste ist eigentlich die, in der ihm ein gewisser Golo Mann einen Schneeball ins Gesicht knallt. Man könnte die ganze Weimarer-Republik-Geschichte auch an den Biografien der Manns entlang erzählen – Thomas, Klaus, Erika und Heinrich tauchen fast zum Schluss tatsächlich kurz noch auf, als Thomas Mann eine seiner kunstvollen Reden gegen die aufkommende Barbarei hielt (mit einem Dutzend grölender Barbaren auf der Zuschauertribüne).
Höhepunkt des Romans aber ist natürlich die verbürgte erste und letzte Begegnung von Erich Kästner (der da mit „Emil und die Detektive“ schon sein Bestseller-Kinderbuch geschrieben hatte, dessen Schauplätze wir natürlich auch kennenlernen) und Kurt Tucholsky, der im Grandhotel Brissago endgültig beschließt, dass er nicht nach Deutschland zurückkehren wird.
Wollschläger bringt auch noch Emil Ludwig und Erich Maria Remarque mit hinein in diese Begegnung. Remarque steckt da schon im Folgeband zu seinem Riesenerfolg „Im Westen nichts Neues“: „Der Weg zurück“. Und Ludwig ist noch der erfolgreichste Autor Deutschlands, hat aber seinen Wohnsitz längst in die Schweiz verlegt. Was ihm einerseits das Leben rettete, ihn aber nicht davor bewahrte, nach dem Zweiten Weltkrieg fast völlig vergessen zu werden.
Und natürlich ist „Moritz“ dabei und tanzt dann sogar vor Tucholsky auf dem Tisch.
Eine letzte Eintragung bietet Wollschläger dann für das Jahr 1958, als Erich Kästner eine bemerkenswerte Rede zum 25. Jahrestag der Bücherverbrennung hielt. Immerhin ist ja auch das verbürgt, dass er am 10. Mai 1933 auf dem Berliner Opernplatz dabei war und zusah, wie die Nazis die Bücher der besten deutschen Autoren und Autorinnen auf den Scheiterhaufen warfen. Darunter auch die Bücher von Ludwig, Remarque, Tucholsky und Kästner.
Und so bleibt die Mahnung: „Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist“, zitiert Wollschläger den späten Kästner. „Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keine mehr auf.“
Das ist die Mahnung für die Gegenwart. Die gilt.
Norbert Wollschläger „Wetterleuchten“ Salon Literaturverlag, München 2024, 23,50 Euro.
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