Den bekommen die Abiturientinnen und Abiturienten regelmäßig als phraseo-logisches Beispiel für ein Oxymoron um die Auswendiglernohren gehauen, wenn es an Deutschklausuren oder Prüfungsaufsätze geht. Ein poetisches Stilmittel einer raschen Verwandlung von Aggregatzuständen, das gerne auch in die soziale und politische Sphäre übertragen wird.
Im vorliegenden Fall überschreibt es eine Streitschrift der Berliner Autorin Daniela Dahn (*1949) aus dem Jahre 2019, passend zur aktuell diskutierten innerdeutschen Problematik und medial verstärktem „Ostdeutschen-Hype“, der zu Jahresbeginn durch Dirk Oschmanns „Der Osten – eine westdeutsche Erfindung“ publizistisch neu angefacht wurde.
Auf der einen Seite leidenschaftlich begrüßt ob der sichtbaren Asymmetrien zwischen Landesteilen und Chancenanteilen; woanders geschmäht ob der unterschwellig vorhandenen und unterstellten Neidkomponente, die Oschmanns Verteidigung ostdeutscher Biografien und Lebensentwürfe enthielt.
Und im „Einheitsmonat“ Oktober ’23 stieß ich auf Dahns „Schnee von gestern ist die Sintflut“ von heute. 288 Seiten stark – eine Abrechnung, wie die engagierte Publizistin ihre historische und aktuell-politische Analyse untertitelt.
Ich hatte von ihr bereits im vergangenen Jahr „Im Krieg verlieren auch die Sieger“ – eine kritische Betrachtung des Ukraine-Krieges und der deutschen Reaktionen (Waffenlieferungen – ja oder nein?) gelesen, erstaunt-überrascht ob ihrer unabhängig-reflektierten Denk- und Sichtweise. Ganz im Sinne Schillers – „Was ist die Mehrheit? Die Mehrheit ist der Unsinn, Verstand ist stets bei Wenigen nur gewesen.“ – hatten sich Dahn u. a. bereits frühzeitig für Verhandlungslösungen und um Deeskalation nach Putins Angriff im Februar 2022 engagiert.
Als hier pathetisch „Zeitenwenden“ und Aufrüstungspläne verkündet wurden. Weltpolitische Dimensionen regionaler Konflikte scheinbar noch nicht so deutlich hervortraten, wie sie heute klarer und daher umso gefährlicher anzusehen sind.
„Die Zeit ist aus den Fugen“ – heißt es in Shakespeares Hamlet, dies scheint gerade in den gegenwärtigen Wochen und Monaten auch tragischerweise auch zur gegenwärtigen welt- und innenpolitischen Zuschreibung zu taugen. Dahn sieht die (systembedingten) Verwerfungen in der gesamtdeutschen Demokratie schon viel länger in ihrer ursächlichen Entstehung begründet. Verbunden mit dem Gründungsdatum eines wieder-vereinigten Deutschlands im Jahre 1990.
Sie kann sich zumindest als eine genau beobachtende Zeitzeugin verstehen, war sie doch in den schnelllebigen Herbstwochen des Jahres 1989 auch Gründungsmitglied des „Demokratischen Aufbruchs“ – einer oppositionellen Reformbewegung der umbruchgeschüttelten DDR, saß mit am Rundes Tisch und weiß um die Schwierigkeiten und „Geburtsfehler“ der gemeinsam vereinbarten Zukunft beider deutschen Staaten nach dem 3. Oktober 1990. Dort lagen die Wurzeln heutiger (un-)demokratischer Schieflagen, die unsere Gesellschaft im humanistischen und sozialen Kern mehr und mehr gefährden.
Ziemlich harmlos kommt Dahn in ihrer Einleitung mit einem Bibelzitat daher. Auch wenn das „Kamel nicht durch ein Nadelöhr geht“ – passt ein Seil (gamta, und nicht gamla = Kamel) ebenso nicht durch eine schmale Nadelspitze. Sie verweist damit auf die soziale Fassade und Konsum-Lockungen des „räuberischen Kapitalismus“, der sich in den ausgehenden 80er Jahren des vergangenen 20. Jahrhunderts eben noch „marktwirtschaftlich sozial“ präsentierte, um den Systemwettbewerb zwischen West und Ost – manche sagen auch „Kalter Krieg“ dazu – für sich zu entscheiden.
Umso verständlicher ist es aus Sicht der Autorin, dass die Zeit der deutsch-deutschen Verschiedenheit bis zum Weg der Einheit zweier doch recht verschiedener Gesellschaften noch einmal hervorgeholt und analytischer Betrachtung unterzogen wird.
Unterzogen werden muss, meint Dahn. Gängige Narrative, historisch dominierende Deutungen und Begrifflichkeiten der „Siegergeschichte(n)“ auf jeden Fall immer auf den historisch-politischen Prüfstand gehören und vor allem vom Standpunkt der „Angeschlossenen“ betrachtet werden müssen.
Dabei provoziert sie mit ihren Thesen, will es ganz offensichtlich auch. („Die Mauer ist natürlich nicht einfach gefallen, plötzlich und unerwartet wie ein Soldat im Krieg: Seit dem Mauerbau haben verschiedenste Kräfte an ihrem Fall gearbeitet.“)
In diesem Zusammenhang hebt Dahn die weltpolitische Bedeutung des Wendeherbstes ’89 hervor, der auch nur ein Mosaikstein des Zusammenbruchs eines ganzen Weltsystems, Gesellschaftsentwurfs, Gerechtigkeitsmodells, ungerechten Systems (suchen Sie sich das Passende selbst) war. Jedenfalls Geschichte. Schnee von gestern. Aber mit sintflutartigen Auswirkungen, wie Dahn bisweilen alarmierend, mahnend, auch bitter, feststellt.
Der Hauptgrund für die sich immer weiter verdichtenden Krisenerscheinungen des mittlerweile so sichtbar global agierenden Kapitalismus liegt nach Dahn in seiner sich immer selbstgerechter und selbstsicher gebärdenden „Siegermentalität“, verbunden mit einem demokratischen „Alleinvertretungsanspruch“, der sich heute erschreckend in humanistischen Doppelstandards und einseitiger Ursachenbetrachtung regionaler und internationaler Konfliktkonstellationen zeigt.
Immer wieder neu, immer brutaler und uns näher wird die Unhaltbarkeit der Fukuyama-These vom „Ende der Geschichte“, wie in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts verkündet, illusorisch-deutlich.
Vieles hat sich seitdem ereignet, was sich schleichend unter unser Geschichts(un-)bewusstsein und Bewertungsmentalität mischte; es reicht vom um-bewerteten, antikolonialen Befreiungskampf der Völker bis hin zu sozialen Errungenschaften stalinistischer Diktaturen, über die das historische Urteil allzu schnell gefällt wurde, ohne zu bedenken, dass dieser schwächelnde Staatssozialismus aus den sozialen und ökonomischen Schwächen der bestehenden „alten Welt“ hervorging und diese zu sozialpolitischen und demokratischen Korrekturen zwang. (Dahn verweist zu Recht auf vorhandenen Leistungen der bürgerlichen Verfassungen nach 1949.)
Alles in allem eine erfrischende und gut lesbare Ergänzung zur Oschmann-Analyse, die noch rauer und fast revolutionär daherkommt. Zuerst atmet man mit Daniela Dahn die aufregende Herbstluft 1989 noch einmal neu ein und liest am Ende ihrer Ausführungen die Gedanken einer großen Sozialutopistin. Und das tut zugegebenermaßen wirklich gut.
Ein Satz (S. 274) fast en passant formuliert, scheint dabei besonders wichtig zu sein, er ließ und lässt mich weiter nachdenken. Wenn es um notwendige, auf stärkere soziale Gerechtigkeit orientierte, künftige Systemveränderungen geht … heißt es: „Ohne veränderte Gesellschaftsverträge und Verfassungen läuft gar nichts, soll es doch rechtsstaatlich zugehen.“ Richtig.
Daniela Dahn, Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute: die Einheit – eine Abrechnung, Rowohlt 2019, 288 S.
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