Für FreikäuferLEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausg. 62Die Revolution ist mittlerweile reichlich sieben Wochen alt. Die Radikalität ist von der Straße und aus den Köpfen gewichen. Der neue Reichskanzler Friedrich Ebert hat dafür gesorgt. Der Vorsitzende einer vormals revolutionären Partei hat sich mit den sogenannten alten Eliten zusammengeschlossen, hält über eine geheime Leitung Kontakt mit dem ersten Generalquartiermeister, quasi dem Chef der Obersten Heeresleitung, Wilhelm Groener. Die Armee, beziehungsweise das, was übrig geblieben ist, ist Helfer bei der Wiederherstellung der Ordnung.
Jetzt bloß nicht die neue Macht der SPD gefährden. Nichts da Revolution! Das liegt aber auch daran, dass so eine Revolution ohne fachkundiges Personal gar nicht zu machen wäre. Zwei Millionen deutsche Männer sind im Krieg geblieben und bei rund 60 Millionen Einwohnern gibt es keine endlosen Personalressourcen in Verwaltung, Justiz und auch Armee.
Die Revolution ist somit vom Tisch. Es ist nichts geblieben von Liebknechts sozialistischer Republik, die er am 9. November 12:00 Uhr in Berlin proklamierte. Die USPD bildet nun mit drei Vertretern und drei Vertretern der MSPD den Rat der Volksbeauftragten, so eine Art Übergangsregierung. Beim großen Rätekongress vom 16. bis 20.12.1918 entscheidet sich, wie es wirklich mit Deutschland weitergeht.
Weihnachten steht vor der Tür. Das erste Weihnachten in Frieden seit fünf Jahren. Zumindest in Deutschland. In der Ukraine werden deutsche Truppen von Sowjets bei der Rückkehr nach Deutschland in Gefechte verwickelt. „Bei Schlomir nahmen wir den Bolschewisten 15 Geschütze ab. Die Stimmung in unserer Truppe ist gut“, heißt es in einem Kabelbericht.
Aber wie geht’s den Leipzigern zur Weihnachtszeit?
Einen Orden erhält zumindest keiner mehr, verkünden die Leipziger Neuesten Nachrichten (LNN): „Die Verleihung von Ordnen findet hinfort nicht mehr statt. Es ist jedermann gestattet, ihm früher verliehene Orden, insbesondere auch Kriegserinnerungszeichen, weiter zu tragen. Die Verleihung von Titeln findet ebenfalls nicht mehr statt. Verliehene Titel können weitergeführt werden.“
Schon mal einen Blick über Weihnachten hinaus wagen? „Amtliche Bekanntmachung des Arbeiter- und Soldatenrates: 27. Dezember 1918 vormittags 10 Uhr Soldatenversammlung im Zentraltheater. Tagesordnung: Bericht von der Räteversammlung in Berlin. Arbeiter- und Soldatenrat Leipzig.
Mitten in die Nachrichten aus Leipzig wurde ein großer Kasten eingefügt. „Sollen wir verhungern?“, wird darin gefragt. „Uebertriebene Lohnforderungen verteuern uns allen, auch dem Arbeiter, das Leben noch mehr! Wilde Streiks lähmen die gesamte Produktion und gefährden die Volksernährung.“
Doch der Feind sitzt nach wie vor auch außerhalb des Landes. „Die andauernde Ablieferung der leistungsfähigsten Lokomotiven an die Entente und die verminderte Lieferung von Kohlen zwingen die Eisenbahnverwaltung erneut, die Zahl der Personenzüge zunächst vom 24. bis 27. Dezember zu vermindern“, gibt die Generaldirektion der Sächsischen Staatsbahnen bekannt.
Ausgerechnet Weihnachten. Da auch noch Truppen nach Hause geholt werden und Züge nicht überfüllt werden sollen, wird außerdem der Fernreiseverkehr auf diversen Strecken in benanntem Zeitraum eingestellt. So fährt kein Zug für Zivilisten von Leipzig nach Dresden und auch nicht von Dresden nach Berlin. Von Leipzig geht es zudem nicht nach Hof und auch nicht nach Chemnitz.
„Nur in ganz besonders dringlichen Fällen, zum Beispiels bei Reisen aufgrund behördlicher Ladungen, bei Todesfällen und schweren Erkrankungen der nächsten Angehörigen können die Betriebsdirektionen aufgrund schriftlicher Unterlagen Ausnahmen gestatten.“ Und es gibt weitere schlechte Nachrichten vor Weihnachten. Kinder bis zwei Jahren hatten bisher ein Anrecht auf ½ Liter Vollmilch pro Tag. Durch die Einschränkungen im Bahnverkehr ist die Anfuhr nicht gesichert.
Gute Nachrichten gibt es dagegen bei der „Großen Leipziger Straßenbahn“. Die verteilt Weihnachtsgeschenke an „alle aus dem Felde zurückkehrenden, verheirateten Kriegsteilnehmer.“ 200 Mark erhalten diese. Das gesamte Personal erhält zudem je nach Betriebszugehörigkeit 50 bis 200 Mark extra.
Sollten Israeliten zukünftig in Leipzig wählen können?
Am Sonntag hatte der „Ausschuss zur Erlangung des allgemeinen gleichen Wahlrechts für die israelitische Religionsgemeinde“ zu einer Versammlung in den Krystallpalast geladen. Von den derzeit in Leipzig lebenden 16.000 Juden könnten die Hälfte wahlberechtigt sein. „Nach der Handhabung der Ausführungsbestimmungen des bestehenden Wahlgesetzes hätten aber nur etwa 650 Juden das Wahlrecht. Zu den steuerlichen Lasten würden alle Israeliten herangezogen.“ Und in revolutionären Zeiten ist das nicht mehr zeitgemäß. „Bei dem jetzt durch das Deutsche Reiche wehenden frischen Zug müßte auch dafür gesorgt werden, daß die bisher nicht wahlberechtigten Juden zu ihrem Recht kämen.“
Und noch ein wenig Kultur an den Feiertagen: „In der Universitätskirche gibt es jeweils von 4 bis 5 Uhr nachmittags Orgelvorträge bei freiem Eintritt. Am Heiligabend werden ab ½ 2 Uhr: ‚Altböhmische Weihnachtslieder‘gesungen.“
Ganz so friedlich geht es allerdings auf Leipzigs Straßen nicht wirklich zu, zumindest vermelden die LNN einige Straftaten.
„Am Donnerstagmittag ist ein Lehrling, der bei einer Bank in Plagwitz einen Scheck über 180 DM eingelöst hatte, im Vorraum der Bank von einem 16 bis 17 Jahre alten Burschen überfallen und ihm die Brieftasche, in die er das Geld getan hatte, entrissen worden. Von dem Lehrling verfolgt, ist der Räuber in der Lützner Straße auf eine in voller Fahrt befindliche „V“-Bahn gesprungen und entkommen. Er soll etwa 1,60 Meter groß, schlank und mit blauem Jacket, grauer Hose, schwarzem Schwitzer, Militärschuhen und blauer Sportmütze bekleidet gewesen sein.“ Ein „Schwitzer“ war früher ein anderes Wort für Pullover. Die Verbindungsbahn, die V-Bahn, verkehrte zwischen Plagwitz und Connewitz.
Der dreiste Dieb war allerdings nicht der Einzige, der für Furore sorgte. „Seit einigen Tagen macht sich hier ein Mensch bemerkbar, der dort, wo sich größere Menschenansammlungen befinden, z. B. auf dem Christmarkt, in Warenhäusern usw. jungen Mädchen die Zöpfe abschneidet. Mädchen mit langen Zöpfen mögen sich besonders vorsehen.“ Ob der Mann psychisch krank war oder die Haare verhökerte? Man weiß es nicht genau.
Fragen wirft auch der Diebstahl eines Militärpferdes auf. Ein schwarzer Wallach, koupiert und mit 1,72 Meter Widerrist-Höhe, wurde aus dem Offiziersstall der Kaserne 107 von einer Person in „feldgrauer Uniform, der mit Gamaschen und Schildmütze mit schwarzem Bande bekleidet war“ gestohlen und „zu der Stadt weggeführt.“
Einen Tag zuvor hat die Polizei einen Zugochsen „festgenommen“, „der in der Nacht zum Sonntag in der Cranachstraße in L.-Lindenau herrenlos umherlaufend angetroffen worden ist“. Der Eigentümer soll sich baldigst auf der 20. Polizeiwache in der Leutzscher Straße oder bei der Kriminalabteilung melden. So ein Ochse.
Heiligabend in Leipzig 1918
Offensichtlich gibt es eine Gruppe, die nun, wo der Krieg beendet ist, Heimweh hat und so groß ist, dass ihnen via Zeitung eine Heimgeherlaubnis ausgestellt wird. „Polnischen Arbeitern wird die Möglichkeit geboten werden, unentgeltlich heimzureisen. Vorbereitungen für ihre Abbeförderung sind bereits im Gange; diese ist jedoch jetzt noch nicht möglich, da insbesondere der polnische Staat den Grenzübertritt zeitweise sperrt. Wer auf eigene Faust heimzureisen versucht, muß dies auf eigene Kosten tun, setzt sich nach dem Uebertritt auf polnisches Gebiet schwersten Entbehrungen aus.“ Die Arbeitgeber raten daher ihren polnischen Arbeitern von vorzeitiger Heimreise dringend ab.
Auch am Heiligabend nehmen Berichte der LNN über Diebstähle eine ganze Spalte ein. Diesmal entwendet: Uhren aus diversen Uhrmacherläden, Kinder-Tibetpelzgarnitur, mehrere Schulterkragen, zwei Meter Ziegenfellbesatz, Zigaretten, Zigarren, Tabak, eine alte Geige mit geleimten Steg mit schwarzem Holzkasten, zwei Mandolinen, eine Zither, eine Gitarre, sechs Mundharmonikas, 265 graue Kohlenleinwandsäcke, ein Fahrrad, ein Motorrad „Marke N.S.U.“, ein Gordonsetter, ein Zwerg-Rehpinscher und eine Kiste Sekt. Die Tatorte sind über das gesamte Stadtgebiet verteilt.
Selbst am 1. Weihnachtsfeiertag erscheint die Tageszeitung. Und das Fest macht sentimental.
Nicht nur im Leitartikel auf der ersten Seite, da mit dem deutschen Blick auf die Ereignisse des Jahres, sondern auch in der Rubrik „Leipzig und Umgebung“ wird Bilanz gezogen. „Nach langer Pause ist unserem Volk wieder Familienweihnachten geschenkt. Viele, die draußen gestanden in Entbehrung, Kampfesnot und Todesnähe, sind nun wieder umfangen von dem gütigen, trauten Zauber der Heimat, der Familie, können nun wieder mit Weib und Kind, mit Vater und Mutter, Bruder und Schwester und denen, die ihr Herz erkor, Weihnachten feiern, den ganz besonderen Schimmer deutscher Weihnacht erleben. Und wenn auch ein Reif liegt auf den Blüten der Freude infolge all des Qualvollen, das diese Zeit umschließt, wir wollen hoffen, daß der Reif die Blüte nicht zerstört. Freuen und hoffen unter Bangen wird noch lange unser Teil sein.“
Der Redakteur kannte sich gut aus in seiner Zeit. Wenn man es genau nimmt, wird es bis ins Jahr 1949 dauern, bis die Zeiten wieder ruhiger werden. Den Leipzigern stehen somit 30 wechselhafte, tragische, unruhige Jahre bevor. Die Weimarer Republik, deren Verfassung im Sommer 1919 vom Reichsminister David als die „demokratischste der Welt“ gepriesen werden wird, wird scheitern.
Die Zeitgenossen können das nicht wissen, manche vielleicht ahnen, viele hoffen es. Denn die Demokratie ist unbeliebt. Dennoch lebt von Weimar vieles in unserer heutigen Zeit weiter, nicht nur die Grundrechte, die es erstmals in eine deutsche Verfassung geschafft haben. Manch einer meint, es herrsche heute eine Endzeitstimmung wie im Jahr 1932. Aus der Geschichte lernen ist wichtig, aber voreilig Parallelen zu ziehen, unnötig.
Niemand weiß, was das Jahr 2019 bringen wird. Aber es ist schwer vorstellbar, dass es in Leipzig und Deutschland ähnlich unruhig zugehen wird wie 100 Jahre zuvor. Die Zeitgenossen einst kennen den Friedensvertrag von Versailles noch nicht. Er wird die Stimmung noch weiter trüben.
Zum Schluss noch ein paar Insiderwünsche zum Jahresende
Die LNN hat ein paar Wunschzettel zum Jahresende 1918 für Personen der Zeitgeschichte erfunden. „Es wünschen sich: Reichskanzler Ebert: Eine Schlummerrolle. ‚Nur ein Viertelstündchen‘. Philipp Scheidemann: Einen Leitfaden: ‚Wie werde ich energisch? ‘. Liebknecht: Ein neues rotes Fähnchen für Rosa. Herr v. Tirpitz: Eine Fahrkarte nach Marienbad, um sich dünn zu machen. v. Heydebrand: Juli 1914. Die Sowjetregierung: Daß die russische Jugend wachsen, blühen und gedeihen möge. Es fehlt uns nämlich bereits an Leuten, die man aufhängen kann. Der Friedensengel: Einen Platz am Weihnachtsbaum, um endlich auf einen grünen Zweig zu kommen. ‚Die rote Fahne‘: Zank-Aepfel, Krach-Mandeln, Knall-Bonbons. Der Reichstag: Geschäftsordnungsdebatten, Freifahrkarten und Diäten. Dazu ein 25-jähriges Parlamentsjubiläum.
Rechtsanwalt Claß: Einen Mantel der christlichen Liebe, sein früheres Leben zu bedecken. Der Major a. D.: Eine Regierung, die seine Pension bezahlt. Die Presse: Viel gutes Papier. Thyssen: Viele gute Papiere.“
Bereits erschienene Zeitreisen durch Leipzig auf L-IZ.de
Der Leipziger Osten im Jahr 1886
Der Leipziger Westen im Jahr 1886
Leipzig am Vorabend des I. Weltkrieges 1914
Einblicke in die Jüdische Geschichte Leipzigs 1880 bis 1938
Leipzig in den „Goldenen 20ern“
Alle Zeitreisen auf einen Blick
Zeitreise: „Am Anfang war Gewalt“ – Die November-Revolution in Leipzig
Zeitreise: „Am Anfang war Gewalt“ – Die November-Revolution in Leipzig
Ich glaub‘, mich streift das Glück … Die Weihnachts-LZ ist da
Ich glaub’, mich streift das Glück … Die Weihnachts-LZ ist da
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