LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausg. 62Das Jahr neigt sich seinem Ende zu und das nรคchste wird fรผr Leipzig nicht zuletzt eines bringen: Wahlen, sowohl auf kommunaler, europรคischer als auch auf Landesebene. Aus einer Stadt- bzw. Raumforschungsperspektive wird man, wie zuletzt bei der Bundestagswahl, wieder Ergebnisse beobachten kรถnnen, die sich, in Karten abgebildet, als bunter Flickenteppich prรคsentieren: In Leipzig etwa schlรคgt die Linke in den Grรผnderzeitvierteln vom Westen รผber den Sรผden bis in den Osten die CDU mittlerweile ziemlich zuverlรคssig; auch die Grรผnen kรถnnen hier ordentliche Ergebnisse einfahren.

In den AuรŸenbezirken โ€“ sowohl Plattenbau- als auch Einfamilienhausgebieten โ€“ konnte die AfD in den letzten Jahren zulegen, auf Kosten der Linken ebenso wie der CDU. Auch landesweit scheint die selbstherrliche Quasi-Staatspartei aufgrund einer in manchen Aspekten nicht geringen ideellen Verwandtschaft vor allem von rechts auรŸen unter Druck. Insbesondere in Ostsachsen und im Erzgebirge werden der CDU โ€“ ebenfalls analog zur Bundestagswahl โ€“ Verluste zugunsten der AfD prognostiziert.

Dafรผr kรถnnten Linke und mรถglicherweise sogar Grรผne in den GroรŸstรคdten Leipzig und Dresden das eine oder andere Landtags-Direktmandat (mehr) gewinnen.

In Sachsen zeigt sich somit eine Entwicklung besonders deutlich, die in den letzten Jahren quasi รผberall in Europa und Nordamerika zu beobachten ist: Die zunehmende politische Spaltung zwischen Stadt und Land โ€“ wobei das eine grob vereinfachende Beschreibung ist, die hier im Folgenden prรคzisiert werden soll.

Und was hat dies รผberhaupt mit Wohnungspolitik zu tun, die ja Thema dieser Artikelreihe ist?

Der Zusammenhang liegt darin, dass ein an rรคumlichen Einheiten ablesbarer Wandel der politischen Prรคferenzen nicht nur dadurch zustande kommt, dass an einem Ort wohnende Menschen ihre Einstellung รคndern, sondern mehr noch dadurch, dass Menschen mit verschiedenen Einstellungen ihre Wohnorte รคndern: Die Wรคhlerschaft sortiert sich rรคumlich laufend neu. In den USA spricht man tatsรคchlich vom โ€žBig Sortโ€œ.

Der Begriff verweist darauf, dass die Wahlbezirke tendenziell homogener werden. Auf Sachsen รผbertragen: Wer dem Weltbild der AfD anhรคngt, wird wahrscheinlich den Teufel tun, aus dem Landkreis Bautzen nach Connewitz zu ziehen. Umgekehrt kann das Abhauen in eine GroรŸstadt jenen, die mit der rechten Hegemonie der Dรถrfer ihrer Kindheit nichts zu tun haben wollen, oft nicht schnell genug gehen.

Gerade Letzteres ist in den letzten Jahrzehnten x-fach geschehen. Ob in Deutschland, Ungarn, ร–sterreich, Frankreich oder den USA: Die Hochburgen der zuwanderungsfeindlichen Rechten sind Orte, deren reales Schicksal vor allem die Abwanderung ist. Die Migrations-Obsession ist wohl auch ein Stรผck narzisstische Krรคnkung. Und wรคhrend transnationale Wanderungsbewegungen in รผbersteigertem MaรŸe beargwรถhnt werden, formt tatsรคchlich die alltรคgliche Binnenmigration die Gesellschaft viel rascher um.

Es sind vor allem die nach weiterfรผhrender Bildung strebenden Jungen, und dabei รผberproportional die jungen Frauen, die den lรคndlichen Raum โ€“ inklusive zahlreicher Klein- und Mittelstรคdte โ€“ in Scharen verlassen.

Land-Idylle 40 Minuten vor Leipzig bei Grimma. Foto: Michael Freitag
Land-Idylle 40 Minuten vor Leipzig bei Grimma. Foto: Michael Freitag

Zurรผck bleibt eine รผberalterte, und vielerorts auch vergleichsweise arme Bevรถlkerung mit einem deutlichen Mรคnnerรผberschuss. Das verstรคrkt tendenziell die Neigung zu reaktionรคrem Gedankengut, was wiederum die Abwanderung von Leuten mit Neugier auf die Welt beschleunigt โ€“ ein Teufelskreis.

Am anderen Ende der Binnenwanderungsketten und damit erst mal auf der โ€žGewinnerseiteโ€œ standen in den letzten Jahren รผblicherweise GroรŸstรคdte und innerhalb dieser vor allem Altbauviertel mit einer herkunftsmรครŸig รผberdurchschnittlich gemischten Bevรถlkerung und liberalen bis progressiven politischen Mehrheiten. Hier โ€“ das darf man ruhig mal so sagen โ€“ wollen viele Leute am liebsten wohnen. Doch diese Beliebtheit hat auch dazu beigetragen, dass in diesen Gebieten bezahlbarer Wohnraum sehr knapp geworden ist. Steigende Mieten treffen viele Stรคdterinnen und Stรคdter empfindlich.

Denn entgegen einem in Teilen der soziologischen Zunft beliebten Diskurs besteht die urbane Bevรถlkerung, die wenig Bock auf ein AfD-Deutschland hat (und analog auf ein Trump-Amerika, ein FPร–-ร–sterreich etc.), keineswegs ausschlieรŸlich aus einer รถkonomisch abgesicherten โ€žneuen Mittelschichtโ€œ.

Wenn also ein Teil der Binnenwanderungsbewegungen in der Bundesrepublik aktuell die Richtung zu รคndern scheint, dann gilt es, genau hinzusehen. Vor allem CDU- und CSU-Vertreter, die an einem weiteren Wachstum โ€žlinkerโ€œ Stรคdte strategisch kein Interesse haben kรถnnen, singen schon das Lied von einer neuen โ€žLandlustโ€œ und von โ€žStadtfluchtโ€œ. Und betrachten dies als adรคquate Begrรผndung dafรผr, gegen Wohnungsnot in den GroรŸstรคdten nichts Spรผrbares zu unternehmen.

So werden zum Beispiel in Sachsen Jahr fรผr Jahr Millionen an Bundesmitteln, die eigentlich fรผr den sozialen Wohnungsbau ausgereicht werden, fรผr die Fรถrderung von Eigenheimen im lรคndlichen Raum zweckentfremdet. Dabei ist der Umzug aus der Stadt auf das wirklich โ€žflacheโ€œ Land die absolute Ausnahme und eher ein โ€žPrivatvergnรผgenโ€œ fรผr Privilegierte.

Suburbia oder besser โ€žรœberschwappeffekteโ€œ

Was zurzeit jedoch in einer gewissen Breite passiert, ist kein auf bewussten Entscheidungen gegen die GroรŸstรคdte basierender โ€žTrendโ€œ, sondern in erster Linie eine Ausweichbewegung. Man kรถnnte von โ€žSuburbanisierungโ€œ sprechen, doch selbst darin schwingt noch eine antiquierte Sehnsucht nach dem Eigenheim mit, das sich Normalverdiener auch in vielen Vororten nicht mehr leisten kรถnnen. Der Begriff โ€žรœberschwappeffekteโ€œ trifft es besser. Denn in der Mehrheit sind auch Wegzรผge aus den GroรŸstรคdten heute, so paradox das zunรคchst klingen mag, nicht Ausdruck einer Gegenbewegung zur Urbanisierung, sondern gerade ein Zeichen fรผr deren Intensivierung.

Urbane Rรคume enden lรคngst nicht mehr in den AuรŸenbezirken der GroรŸstรคdte, vielmehr haben wir es heute mit Agglomerationen zu tun, in denen sich vielfรคltige infrastrukturelle und kommunikative Verbindungen zu einem komplexen โ€žBeziehungsraumโ€œ verdichten.

Im Zusammenhang mit den Umwรคlzungen der โ€“ im Wortsinne โ€“ โ€žpolitischen Landschaftโ€œ stellt sich folglich die spannende Frage, ob in solchen Metropolregionen gemeinhin als โ€žurbanโ€œ verstandene Lebensweisen zunehmend auch an Orten mรถglich sind, die auf den ersten Blick nicht besonders stรคdtisch daherkommen. Und ob damit โ€“ gerade in Sachsen โ€“ auch auรŸerhalb von Leipzig andere politische Mehrheiten denkbar werden.

Wohnen in Wurzen - 25 Minuten mit der Bahn von Leipzig entfernt. Foto: Michael Freitag
Wohnen in Wurzen โ€“ 25 Minuten mit der Bahn von Leipzig entfernt. Foto: Michael Freitag

Eine solche Entwicklung wรผrde voraussetzen, dass man etwa im GroรŸraum Halle/Leipzig auch in nennenswerter Entfernung von Karl-Heine-Kanal, Feinkostgelรคnde oder EisenbahnstraรŸe mehr von dem vorfรคnde, was eine urbane Umgebung fรผr eine Lebensfรผhrung, die im weitesten Sinne auf einer โ€žWissensรถkonomieโ€œ beruht, attraktiv, wenn nicht unabdingbar macht: Kurze Wege zwischen Wohn- und Arbeitsorten sowie โ€žthird placesโ€œ, an denen man sich austauscht, nicht zuletzt รผber Auftrags- und Jobgelegenheiten, sowie Kinderbetreuungsstrukturen, die es Eltern ermรถglichen, berufstรคtig zu sein, ohne dem klassischen โ€žErnรคhrermodellโ€œ zu folgen. Und schlieรŸlich kulturelle Angebote von einiger Vielfalt.

Verkehrspolitik und Wohnen in Wurzen

Wie stehen die Chancen, dass โ€“ quasi nach der Redewendung โ€žGlรผck im Unglรผckโ€œ โ€“ die steigenden Mieten in Leipzig vermittels Ausweichbewegungen mehr Urbanitรคt im Umland erzeugen? Das kommt natรผrlich darauf an, wo in der Metropolregion man hinblickt. Erste Ansรคtze zur Ausbreitung unkonventioneller Wohn- und Arbeitsformen zeigen sich bisher am ehesten in Klein- und Mittelstรคdten mit direkter (S-) Bahnanbindung (von denen einige jenseits der Lรคndergrenze liegen): So etwa in Zeitz, Altenburg, oder Wurzen. Dies verweist auf die Bedeutung der Verkehrspolitik, รผber die man eine ganze eigene Artikelreihe schreiben kรถnnte.

An weiter in der Peripherie liegenden Kleinstรคdten und Dรถrfern, die eine autozentrierten Lebensweise erzwingen, wird diese Belebung in aller Regel vorbeigehen. Man muss also nicht unbedingt nach Frankreich blicken, um Beispiele dafรผr zu finden, wie das einstige Freiheitsversprechen der Automobilitรคt sich in einen sozioรถkonomischen Klotz am Bein verwandelt.

Auch die fortschreitende Digitalisierung wird entgegen anderslautenden Heilsversprechen vonseiten der diversen Heimatministerien kaum etwas daran รคndern, dass die flexiblen Arbeitsweisen der Wissensรถkonomie Mobilitรคtsbedรผrfnisse mit sich bringen, die Metropolrรคume mit dichten Schienennetzen am besten zu befriedigen vermรถgen.

Die baulichen Ingredienzen fรผr eine lebensweltliche Urbanisierung solcher โ€žZwischenrรคumeโ€œ in pendelbarer Entfernung โ€“ bis ca. 40 Minuten mit dem Zug bis zum Leipziger Hauptbahnhof โ€“ wรคren vielerorts gegeben: Preisgรผnstige Grรผnderzeithรคuser, leerstehende Fabriken, Brachflรคchen, Bauernhรถfe. Gerade jene, die keine Lust auf die geleckte Normalitรคt in reicheren Regionen haben, kรถnnten hier spannende Freirรคume entdecken. Doch die systematische Verachtung jeder echten Liberalitรคt in Sachsen verspielt dieses Potential immer wieder. In welche Richtung sich diese widersprรผchliche Situation entwickelt, ist noch kaum absehbar โ€“ wir befinden uns wohl in einem frรผhen Stadium eines komplexen Prozesses.

Das zeigt sich etwa daran, dass in der Mehrzahl der Gemeinden im Leipziger Umland die Wanderungsgewinne durch โ€žรœberschwappeffekteโ€œ die hohen Sterbeรผberschรผsse noch kaum ausgleichen.

In jedem Fall ist es sinnvoll, den Mietenwahnsinn in den GroรŸstรคdten und die Abwanderungsnรถte vieler lรคndlicher Gebiete als zwei Aspekte derselben Problematik zu betrachten. Stadtpolitische Gruppen mรผssen lernen, das Umland stรคrker mitzudenken, und gerade in den gut angebundenen Klein- und Mittelstรคdten sollte man fรผr eine gelingende Politik des Wachstums aus den Fehlern der GroรŸstรคdte lernen. So etwa dem, dass es nicht die klรผgste Praxis ist, jetzt schnell noch die letzten Grundstรผcke und Hรคuser in stรคdtischem Eigentum an den meistbietenden Investor zu verkaufen.

Zur Reihe: Die Mieten in Leipzig steigen. Darรผber wird โ€“ endlich โ€“ immer mehr diskutiert. Doch oft ist die Debatte noch von Halbwahrheiten und Missverstรคndnissen geprรคgt. Diese Artikelreihe soll dabei helfen, Wohnungsmarkt und Wohnungspolitik besser zu verstehen und auf gewisse Mythen nicht mehr reinfallen zu mรผssen. Alle bislang erschienenen Teile kรถnnen Sie unter dem Tag l-iz.de/tag/mieten nachlesen.

Zur Folge 9 der Reihe Wohnungspolitik: Wie kaufen wir uns die Stadt zurรผck?

Wie kaufen wir uns die Stadt zurรผck?

Das Einmaleins der Wohnungspolitik, Folge 7: Es wird auch persรถnlich

Wer ist schuld an Gentrification?

Ich glaubโ€˜, mich streift das Glรผck โ€ฆ Die Weihnachts-LZ ist da

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Das wรผrde bedeuten, das sich Zeitz, Eilenburg, Leipzig, Bitterfeld und โ€ฆ zusammensetzen, um sinnvoll Politik zu machen. Klar, und morgen flieรŸt das Wasser bergauf.

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