VideoMit etwas Glück und Willen könnte die Debatte um die zukünftigen Verkehrswege an der „Inneren Jahnallee“ zu einem Musterbeispiel von Bürgerdebatte und Kompromissen werden. Von denen wiederum weiß man ja, dass sie klug gefunden sind, wenn möglichst wenige ein bisschen Schmerzempfinden dabei haben. Und genau darum wird man angesichts des Event-, Studenten-, Schüler- und Berufsverkehrs am knapp 500 Meter langen Teilstück zwischen Leibnizstraße und Waldplatz nicht umhin kommen. Nun geht es darum, wer zum Gesprächsprozess mit allen Betroffenen einlädt und wer alles kommt. Die Stadtverwaltung wurde dazu am 19. September vom Stadtrat bis Ende Februar 2019 verpflichtet.
Interessant bei aller Bürgerbeteiligung ist immer der Begriff „Betroffene“ und wer sich anschließend wirklich einbringen möchte. Betroffen von den Lösungen an der Inneren Jahnallee sind wohl zuerst die unmittelbaren Anwohner und Gewerbetreibenden auf dem Straßenabschnitt sowie ihre Gäste und Kundschaft. Was den Kreis der Betroffenen schon mal auf einige tausend Menschen bringt.
Weitere Betroffene sind auch die rund 350 Grundschüler der Lessingschule, deren Eltern, die sie oft selbst mit dem Pkw bringen oder holen sowie die Anwohner in den umliegenden Vierteln. Manche Kinder kommen auch aus dem Viertel herangeschlendert und nutzen die beiden Fußgängerampeln an der Inneren Jahnallee.
Und natürlich sind Betroffene im Durchgangsverkehr auf der Magistrale zwischen Zentrum und den Vierteln Schleußig, Lindenau und Plagwitz zu finden. Die Zahlen sind bekannt und dürften durch weitere Wohnungs-Baupläne rings um die Arena noch steigen: täglich durchqueren die Innere Jahnallee rund 15.500 Pkw- und über 4.000 Radfahrer sowie 800 Straßenbahnenfahrten. Dass der Verkehr auch bei den Veranstaltungen und Sportevents in der Arena und im anliegenden Fußballstadion regelmäßig extrem anschwillt, ist längst jedem Leipziger und auswärtigen Fußballfans und Konzertbesuchern bekannt.
Dann nämlich steigt schlagartig die Straßenbahnendichte, welche die Besucher vom Zentrum durch die Straßenenge und wieder zurückbringt. Und die gesamte Innere Jahnallee ist komplett zugeparkt.
Wohnbebauung und Uni-Fakultät lassen Radverkehr weiter steigen
Hinzu kommt ein L-IZ-Leserin-Hinweis zum Alltagsverkehr, welcher heute bereits Realität ist: „Der neu eröffnete Campus der Bildungswissenschaften an der Jahnallee wird zudem zu einem erhöhten Aufkommen von studentischem Radverkehr zwischen Augustusplatz und Jahnallee führen“, so Leserin Elke unter einem Beitrag zur Jahnallee auf der L-IZ.de bereits im September 2018.
Da dürfte sie Recht behalten und die Verkehrsdichte in der Inneren Jahnallee und umliegenden Straßen weiter ansteigen. Denn die seit Ende September durch die bauliche Fertigstellung des Bildungscampus hergestellte Situation steckt in der Äußerung des Prorektors für Bildung und Internationales der Universität Leipzig, Prof. Dr. Thomas Hofsäss, bei der Eröffnung: „Die Universität Leipzig versteht sich als Zentrum der Lehrerbildung in Sachsen. Pro Jahr nehmen 1.300 junge Menschen bei uns ein Lehramtsstudium auf. Das neue Bildungswissenschaftliche Zentrum bietet ihnen auch technisch hochwertige und optimale Studienbedingungen.“.
Im Gebäude an der Marschnerstraße sind seitdem unter anderem ein großer Hörsaal mit 350 Plätzen, die Bibliothek der Erziehungs- und Sportwissenschaften mit 340 modern ausgestatteten Arbeitsplätzen, das Institut für Förderpädagogik sowie eine integrative Forschungs- und Lehrkindertagesstätte mit 83 Betreuungsplätzen untergebracht. Am 19. Oktober 2018 ist da übrigens das große Uni-Campus-Fest.
Noch mehr Radverkehr also, aber auch Kundschaft für die Geschäfte auf der Straße steht an. Auch auf der Inneren Jahnallee, welche die Hauptreiseroute der jungen Menschen dahin aus der Innenstadt oder dem gesamten Leipziger Osten darstellt.
Und auch an der Friedrich-Ebert-Straße wird bereits seit Monaten munter gebaut, neue Wohnungen im innenstadtnahen Bereich entstehen – das ganze Viertel verdichtet sich mehr und mehr. Sicher auch zur Freude von anliegenden Geschäften und Märkten, der Umsatz als Nahversorger dürfte so auf Jahre gesichert sein. Auch wenns mancher nicht glauben will.
Das Problem des Vorschlages „Radler in die Gustav-Adolf-Straße“
Wenn also seit gestern Stadtrat Sven Morlok (FDP) zu Recht seitens der Freibeuter-Fraktion die Federführung des Tiefbauamtes Leipzig und „Alle Beteiligten an einen Tisch!“ fordert und gleichzeitig auch deren längst erklärte Gesprächsbereitschaft lobt, dann könnte der Platz an diesem schnell eng werden. Als Betroffene benennt der ehemalige sächsische Verkehrsminister die, welche im Beschluss des Stadtrates vom 19. September 2018 stehen: „Vertreter der Gewerbetreibenden der Jahnallee, Vertreter des Bürgervereins Waldstraßenviertel e.V., Vertreter der Initiative autofrei leben! e.V., Vertreter verschiedener Verkehrsmittel, Vertreter der Stadtverwaltung, Stadträte und ggf. weitere Beteiligte.“
Während sich das Tiefbauamt also tatsächlich bald nach einem geeigneten Ort für so einen Dialogprozess umschauen sollte, benennt Morlok das eigentliche Hauptthema, welches hinter der Debatte lauert: „Langfristig wird ein Umdenken bei der Gestaltung von Verkehrsraum stattfinden müssen. Eine anhaltende Vermischung aller Verkehrsteilnehmer auf einer Straße kann langfristig nicht die Schwächsten schützen.“, so die Haltung Morloks bezüglich einer FDP-CDU-Lösung, welche auch die Anwohner in der Gustav-Adolf-Straße einbezieht.
Das hat auch der Stadtrat so am 19. September 2018 mehrheitlich beschlossen, obwohl bei manchen anschließend schon zu hören war: soll man es doch noch einmal prüfen, ob der Radverkehr durch die Gustav-Adolf-Sraße geführt werden kann – es geht eh nicht. Andere, darunter auch ein paar Gewerbetreibende auf der Jahnallee, setzen hingegen ihre ganze Hoffnung in diese Lösung. Ihr Hauptargument: man muss vor ihren Läden parken können, sonst verlören sie Kundschaft.
Dass die Händler auf der „Inneren Jahnallee” bei einem praktisch als Radverbot zu verstehenden Weg in der „Inneren Jahnallee” auch Kundschaft verlieren würden, sollte man am „Runden Tisch” durchaus mal ansprechen.
Stattdessen soll die Lösung sein, den Radverkehr komplett aus der Jahnallee zu nehmen
Zudem dürfte diese Idee gravierende Baumaßnahmen an den beiden Kreuzungsbereichen Waldplatz, Waldstraße, Ecke Gustav-Adolf-Straße und an der Leibnizstraße in den Kreuzungsbereichen Gustav-Adolf und bei der Rückführung auf die Jahnallee nach sich ziehen. Die im Weiteren den Verkehrsfluss durch die Innere Jahnallee stören dürfte. In jedem Fall würden die Radler gezwungen werden, mehrere Umwege inkauf zu nehmen, nebst weiterer Kreuzungen, die teils umgestaltet werden müssten.
Sofern diese Umerziehungsmaßnahme bei Menschen auf Rädern überhaupt gelingt und diese wirklich den entstehenden Umweg inkauf nehmen würden, sollen so perspektivisch täglich 5.000 Radfahrer, Tendenz steigend, durch eine derzeit komplett zugeparkte Gustav-Adolf-Straße geführt werden. Dann werden dort wohl die Parkplätze, welche teils mitten auf der verkehrsberuhigten Straße bestehen, weichen müssen und es entstehen in stadteinwärtiger Richtung weitere Problempunkte.
Denn an der Kreuzung Leibnizstraße, Ecke Gustav-Adolf-Straße würden sicherlich auch viele Radfahrer versuchen, einfach geradeaus, dann also durch die Humboldtstraße zu fahren. Derzeit im letzten Teilabschnitt vor der Pfaffendorferstraße (an welcher ein weiterer Kreuzungsschwerpunkt entstehen würde, an welchem die Radler anlanden), eher eine Huckelpiste und natürlich ist auch hier alles bereits von parkenden Autos verengt.
Gesetz den Fall, es gelingt wider Erwarten durch großzügige Kreuzungs-Lösungen, die der Steuerzahler finanzieren müsste, an der Kreuzung Gustav-Adolf-Straße Ecke Leibniz alle Radler wieder auf die Jahnallee zurückzuführen, würden diese zum Erreichen ihres eigentlichen Radweges stadteinwärts die Jahnallee (erneut nach dem Waldplatz) wieder überqueren.
Man kreuzt also so zweimal den Radverkehr mit dem Auto- und Bahnverkehr und hofft auf eine flüssige Durchleitung des Verkehrs auf der Inneren Jahnallee. Klingt paradox, ist aber so. Ob man so den „Schutz der schwächsten Verkehrsteilnehmer“, gemeint Radler und Fußgänger, besser gewährleistet, darf mindestens bezweifelt werden. Zumal der Mensch – ganz gleich ob per Pedes oder Kraftfahrzeug – ein Gewohnheitstier ist. Viele würden sich auf das Spiel auch nicht einlassen und die Innere Jahnallee einfach weiter direkt durchfahren – Nervenkitzel bei also weiterhin drohenden Unfällen inklusive.
Die Bewohner des Waldstraßenviertels wären also bei der Durchführung des Radverkehrs durch die Gustav-Adolf-Straße so oder so in diese Debatte stärker involviert, ihre geschätzt rund 80 Anwohnerparkplätze von etwa 600 im Waldstraßenviertel gesamt direkt vor der Tür wären in akuter Gefahr. Mal sehen, was diese also zu ihren Interessen am „Runden Tisch“ zu sagen haben werden.
In einer gestern zu eben diesem „Runden Tisch“ versandten Mitteilung erneuert Sven Morlok abermals den Hinweis, dass die einzige andere Lösung – hier also der ersatzlose Wegfall der zirka 50 Pkw-Stellplätze auf beiden Seiten der Inneren Jahnallee – für die anliegenden Einzelhändler keine Option sei. Diese wurden durch einen Testlauf überrascht, welcher für vier Tage ab dem 17. August 2018 eine Parkspur stadtauswärts wegnahm und den Radfahrern zur Verfügung stellte.
Drei Erfahrungen konnte man im August 2018 vor Ort machen
Die Verkehrslage entspannte sich durch die Entmischung der Verkehrsarten umgehend, die Bahnen und Autos durchquerten die Straße auf ihrer Fahrspur rascher, da keine Radler mehr im Weg waren. Für diese stieg die Sicherheit, da sie nicht mehr regelwidrig auf den Fußweg auswichen oder sich unter Missachtung des minimalen Überholabstandes zwischen stehenden und fahrenden Bahnen und Autos wiederfanden.
Einige Gewerbetreibende liefen Sturm und die BILD-Zeitung assistierte inkompetent und fleißig. Ohne einen anderen Vorschlag zu machen, entstand eine der typischen „Ich bin empört“- und „bald werden wir schließen müssen“-Geschichten ua. eines Fleischers an der Straße. Übrigens auf der Seite der Jahnallee, wo an dem Tag gar kein Radweg war, aber sei es drum. Mancher ist auch ohne Erfahrung schon schlau.
Die machte der Pizzaria-Betreiber auf der anderen Seite trotz Radweges bis 22 Uhr. Sein Freisitz war bis in die Abendstunden sommerlich gut gefüllt und jede Menge Räder parkten davor. Übrig blieb letztlich das objektive Problem, wie der Lieferverkehr für einige Geschäfte neu sortiert werden müsste, kämen tatsächlich beidseitige Radwege und die Parkplätze fielen weg. Auf einigen von diesen stehen derzeit auch die Wagen der Geschäftstreibenden selbst, ab ca. 19 Uhr parken Anwohner auf der Inneren Jahnallee die Nacht über. Aber dies nur am Rande. Wo man dann wieder bei den Schmerzen wäre, die am Ende bei Kompromissen in der Demokratie zugunsten von Mehrheiten immer jemand haben wird.
Die Debatte zur “Inneren Jahnallee” am 19. September im Stadtrat Leipzig. Vidoquelle: Livestream Stadt Leipzig
Symptom-Schmerzen und Spiegelfechterei
Stadträtin Sabine Heymann (CDU) führte hingegen bereits am 19. September in ihrem Redebeitrag zu den anstehenden Veränderungen an der Jahnallee eine ausführliche Spiegelfechterei auf (siehe Video). Ihr Argument gegen die Freiräumung der zugeparkten Fahrspuren an der Bundesstraße „Innere Jahnallee“ zugunsten des fließenden Verkehrs: Händler und „Spezialgeschäfte“ am Waldplatz hätten sich bis heute nicht erholen können.
Richtig ist: in den letzten Jahren gingen am Waldplatz ein Sonnenstudio und ein Beate Uhse-Sex-Store vom Platz. Ob den Sonnenliegenanbieter noch mehr Parkplätze gerettet hätten, ist völlig unklar. Die gesamte Branche befindet sich im Wandel, allgemein gilt es als weniger schick als früher, auch im Winter braun zu sein.
Noch klarer jedoch ist die Pleite des Sexladens: die Menschen kaufen die kleinen und großen Spaßbringer längst schön anonym im Internet. Diesen Trend hat man beim Sexanbieter „Beate Uhse” wohl etwas spät umgesetzt, am 05.04.2018 veröffentlichte das Unternehmen Beate Uhse AG einen Insolvenzplan, heißt heute „Be You“ GmbH. Und setzt seither stark auf Onlinehandel im Rahmen des Neustarts.
Der Rest der Probleme entstand wohl eher aufgrund der deutlich gewachsenen Bäckereidichte (zwei Stück in der Inneren Jahnallee) und der naturgemäßen Laufkundschaft in eben diesen als klassische Nahversorger. Zudem verfügt natürlich auch der Konsum, wenige Schritte entfernt ebenfalls auf der „Inneren Jahnallee“, über ein Bäckereiwarenangebot. Der Trend bei Bäckereien geht seit Jahren hin zu Ketten, was nicht schön sein mag, aber Realität ist.
Kurz: die Argumente von Sabine Heymann waren keine, sondern eher Augenwischerei, als sie die Situation am Waldplatz mit dem Einzelhandel in der Jahnallee und die Parksituation zusammenrührte.
Was sie zudem übersah …
Auch mit den seit 2006 bestehenden Parkplätzen haben an der Jahnallee Läden geschlossen, neue kamen hinzu und bestanden. Andere verschwanden wieder (wie zuletzt ein Bekleidungsgeschäft), jetzt ist da ein Fahrradladen angesiedelt und die beiden Bäckereien machen offenkundig glänzende Geschäfte. Die neu hinzugekommenen Gastronomien hingegen haben belegbar Laufkundschaft aus einem dicht bewohnten Viertel und bei Fußball- und Konzertevents – einen nachvollziehbaren Gegenbeweis hat noch keiner der Ladenbetreiber erbracht. Auch hierbei gab es Pleiten und Pannen, das Angebot veränderte sich im Laufe der Jahre trotz der Parkmöglichkeiten.
Klingt alles in allem nach Angebot und Nachfrage und Marktwirtschaft, bei der die Standortentscheidung für Händler eine große Rolle spielt. Bleiben am Schluss vielleicht ein paar kurze Fragen übrig: Würde tatsächlich ein Händler an der Inneren Jahnallee nur und explizit wegen der fehlenden 2-4 Parkplätze direkt vor der Tür pleite gehen? Ist der Lieferverkehr trotz Radwegen zu lösen? Wie denken die Berufspendler, Studenten, Straßenbahnfahrer, Schüler und Eltern sowie die Anwohner der umliegenden Viertel über dieses Thema? Und hat bislang auch nur ein Händler mal eine Erhebung gemacht, wie die eigene Kundschaft zum Laden kommt?
Bis Ende Februar 2019 muss die Stadtverwaltung alle Interessierten zum ersten „Runden Tisch“ laden. Es dürfte voll werden, wenn sich alle einbringen, die von der Frage Verkehr auf der „Inneren Jahnallee“ betroffen sind. Bis zum zweiten Quartal bereits muss die Stadtverwaltung eine erste, tragfähige Lösung vorlegen, bis 2021 sind weitere Überlegungen zur besseren Verkehrsführung zwischen Lindenau und Zentrum geplant und eine „unter die Erde”-Verlegung der Stra0enbahnen wird es auf absehbare Zeit (wenn überhaupt) nicht geben.
Und irgendwo im Hinterkopf dröhnt weiteres Ungemach. Stark befahrene Straßen geraten in Deutschland zunehmend unter den Verdacht, gesundheitsschädlich vor allem für Kinder aber auch Erwachsene zu sein.
Entweder kommt es also zur „Abtrennung einer Radverkehrsanlage (protected bike lane)“ an der „Inneren Jahnallee” oder es geht an die „Umgestaltung der Gustav-Adolf-Straße zu einer Fahrradstraße“. Inklusive aller noch nicht besprochenen Folgen für diese. So sagt es der Stadtratsbeschluss vom 19. September 2018.
Der Stadtrat tagt: Innere Jahnallee – eine Prüfung von Bikelane bis Radstraße in der Gustav-Adolf beginnt
Aktionswoche „Besser Rad fahren in der Inneren Jahnallee“ + Bildergalerie
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