An bestimmten Tagen, fรผr bestimmte Momente, ist es einfach wichtig zeitig aufzustehen. Frรผh-Stรผck im wahrsten Sinne des Wortes und dann auf zu einem abschlieรŸenden Muss fรผr den europรคischen, insbesondere deutschen Besucher. Die wichtigsten โ€žHotspotsโ€œ in Ostjerusalem sind besucht worden: Das Laufen auf der alten historischen Mauer (der sogenannte โ€žWall-Walkโ€œ), die Klagemauer als westlicher Teil des Heriodianischen Tempels, Felsendom. An dessen AuรŸenmauern sieht man beim genauen Hinschauen die Wunden des Junikriegs von 1967.

All dies und das arabische Flair im muslimischen Viertel, das architektonisch-kรผnstlerische Ambiente im jรผdischen Areal und das Tiefreligiรถse im armenischen Teil โ€“ vermitteln den Eindruck eines Geschichten- und Geschichtskabinetts. Dazu noch der Berg Zion im Sรผden gelegen, mit dem Davidgrab und dem von Oskar Schindler. Von dort erhebt sich die โ€žStadt der Stรคdteโ€œ vor dem Besucherblick wie eine einzigartige Erzรคhlung. โ€žDie groรŸe รœberlebende der Weltโ€œ hat der englische Schriftsteller Graham Greene Jerusalem genannt.

Sie sei โ€žwie ein Stein, der nicht weggehoben werden kannโ€œ berichten bereits alttestamentarische Propheten. Und den kann man nicht zugleich von allen Seiten betrachten. Deshalb bekommt man trotz des intensiven Hinschauens als Besucher nur einen oberflรคchlichen Eindruck von den sichtbaren und unsichtbaren politisch-religiรถsen Grenzen der Stadt.

Von West nach Ost durchquert die seit 2011 in Betrieb genommene Stadtbahn die Metropole. Sie ist die umweltfreundlichere und zeitsparende Alternative zum Stauverkehr der Stadt. Die Bahn. Die Scheiben sind aus Panzerglas, erklรคrt man uns vorher, denn immer wieder seien in der Vergangenheit Anschlรคge innerhalb der knapp 14 Kilometer Gesamtstrecke unternommen worden. Anschlรคge? Von wem? Von den Arabern. Der besondere Hintergrund: Der Ostteil Jerusalems war und ist nach der Eroberung durch israelische Truppen im 1967er Krieg natรผrlich umstritten.

Die Linie der Stadtbahn Jerusalem. Bild: Karte Stadtbahn Jerusalem
Die Linie der Stadtbahn Jerusalem. Bild: Karte Stadtbahn Jerusalem

Hinter Panzerglas

So auch als Strecke fรผr den ร–PNV. Eine protestlose Fahrt โ€“ so riefen arabisch-muslimische Organisationen unmittelbar nach der immer wieder verschobenen Erรถffnung der einzigen Stadtbahn zum Boykott derselben auf โ€“ das wรผrde bedeuten, die nach UN- Resolution widerrechtliche Besetzung des Stadtteils auch verkehrstechnisch zu legitimieren โ€ฆ Wieder stolpert man รผber den heiรŸen Konfliktdraht der nahรถstlichen Spannung. Und versucht ihn vorsichtig zu verstehen.

Wir steigen etwa zur Hรคlfte der Strecke am Jaffa-Center ein und nach der 9. und letzten Haltestelle wieder aus. 2,20 โ‚ฌ umgerechnet sind fรผr einen Leipziger normale Preise bei 20 Minuten Fahrt. Ich scanne das Gelรคnde an jeder Haltestelle, versichere mich immer wieder des entwerteten Fahrscheins in der Hosentasche โ€“ รผberflรผssig in dem Fall, alles lรคuft problemlos. Nur: Hinter Panzerglas bin ich bis jetzt noch nicht transportiert worden.

Am Mount Herzl heiรŸt es aussteigen und den Rest des Weges laufen. An einem Waldfriedhof vorbei nรคhert man sich dem Ziel der vormittรคglichen Tagestour.

Yad Vashem

Die jรผdische Gedenkstรคtte, die zu Ehren und zur Mahnung der Opfer des Holocaust in Europa zwischen 1933 und 1945 errichtet wurde. Eintritt frei. Zur Orientierung hilft ein Faltplan des gigantischen Gelรคndes.

Gleich vorweg: Yad Vashem stellte fรผr mich eine neue Qualitรคt der Erinnerungskultur dar. Und dabei wissen Bekannte von mir, dass ich sie stets genervt habe, wenn es um den Besuch einer bis dato unbekannten KZ-Gedenkstรคtte ging. Ich also einiges gewohnt bin.

โ€žIch will ihnen in meinem Hause und in meinen Mauern ein Denkmal (Yad) und einen Namen (Shem) geben โ€ฆ der nicht vergehen sollโ€œ (Jesaja 56,5)

Man ist beeindruckt von der Atmosphรคre, der Vielschichtigkeit und den komplex verteilten optischen Impulsen, die in die liebevoll bepflanzte Landschaft gesetzt wurden. Dadurch kann man nach-denken, nach-empfinden, noch einmal mit-leiden. In der stockdunklen Halle mit der einen spiegelverstรคrkten Kerze hรถrt man die Namen der zahllosen jรผdischen Kinder, die der barbarisch-rassistische Nationalsozialismus das junge Leben kostete.

Die sechsarmige Menora erinnert โ€“ abweichend von der โ€žNormโ€œ des siebenarmigen Leuchters โ€“ an 6 Millionen jรผdische Opfer in den Vernichtungslagern. Am Denkmal fรผr Janusz Korczak, dem polnischen Pรคdagogen der โ€“ obwohl er sich hรคtte retten kรถnnen โ€“ mit seinen Kindern 1942 nach Treblinka und ins Gas ging, verneige ich mich. Im โ€žGarten der Gerechten unter den Vรถlkernโ€œ entdeckt man den Baum, der fรผr Oskar und Emilie Schindler gepflanzt wurde. Ich bin erstaunt und bleibe sprachlos: darรผber, wie viele unbekannte Menschen sich fรผr ihre ausgestoรŸenen, verfolgten und gedemรผtigten Mitmenschen einsetzten, die sich von ihnen zufรคllig durch Herkunft und Glauben unterschieden.

Yad Vashem lรคsst einen nur in Scham und Trauer zurรผck. Ich bin der Trรคnen schon vor dem โ€žHighlightโ€œ nahe. Das โ€žHolocaust Memorial Museumโ€œ stellt einen langen Gang, einen Weg, der am Ende ins Licht fรผhrt, dar. Rechts und links gehen โ€žZimmerโ€œ ab, Rรคume, die das Unfassbare historisch erklรคren. Da hรถrt man den โ€žFรผhrerโ€œ brรผllen von der โ€žรœberlegenheit der arischen Rasseโ€œ, liest den Text der โ€žNรผrnberger Rassengesetzeโ€œ von 1935, sieht die furchtbaren Pogrome Ende der 30er Jahre โ€“ lรคuft ein Stรผck รผber das Pflaster des Warschauer Ghettos.

Man sieht in unzรคhligen, erschรผtternden Zeugnissen die verbrecherischen Konsequenzen, welche gesรคter Hass und Vernichtungsphantasien hatten. Und haben.

Denn welche allgemeinen Schlรผsse sollte man sonst in Yad Vashem ziehen?

Etwas nachdenklich โ€“ ich gebe zu, erst als ich mit nassem Gesicht den Ausgang verlasse und sitzend innehalte โ€“ bleibe ich dennoch beim Nachdenken รผber das letzte โ€žZimmerโ€œ des Holocaust- Museums zurรผck. Da sah ich ganz zum Schluss andere Bilder, auf denen es wieder um Kampf, Krieg und Leid ging. Dieses Mal aber โ€žgerechtโ€œ. Um den Kampf fรผr โ€žErez Israelโ€œ, um das Bekรคmpfen der britischen Kolonialmacht. Und der arabischen Einwohner, welche dann nach dem 2. Weltkrieg dem Entstehen des lange ersehnten jรผdischen Staates im โ€žGelobten Landโ€œ entgegenstanden. Das Jahr 1948.

Darf man zur Sรผhne und Wiedergutmachung von Verbrechen ungeahnten AusmaรŸes neues โ€“ diesmal arabisches โ€“ Leid verursachen? Ist im Namen der Gerechtigkeit alles erlaubt? Darf man das an und von diesem Ort aus in Israel beurteilen? Yad Vashem steht doch fรผr โ€žGegen das Vergessenโ€œ, oder?

Die Stadtbahn nรคhert sich. 9 Stationen zurรผck bis nach โ€žHauseโ€œ.

Zu Teil 7 von Irael intensiv: Shukran und Toda oder โ€žCome backโ€œ

Weitere Informationen zu Yad Vashem auf Wiki

Zur Reihe โ€žIsrael intensivโ€œ: Jens-Uwe Jopp war 14 Tage auf einer ungewรถhnlichen Reise in Israel, welche ihn in viele verschiedene Teile des Landes fรผhrte. Ziel und ein Hรถhepunkt der Reise war dabei auch Ismail Khatib zu treffen. Sein Sohn Ahmed Khatib war 2005 irrtรผmlicherweise von israelischen Soldaten erschossen worden, sein Vater gab daraufhin die Organe zur Transplantation an jรผdische Kinder frei. Diese Geste erregte ein weltweites Interesse, die Dokumentation โ€žDas Herz von Jeninโ€œ (Trailer im Video) zeigt die Geschichte. Ismail Khatib ist heute weltweit bekannt und hat eine Organspendeplattform โ€žSearch of Lifeโ€œ ins Leben gerufen.

Hier ist der mehrteilige Bericht von Jens-Uwe Jopp รผber Erlebnisse und Stationen unter anderem in Tel Aviv (Jaffa), Haifa, Qalanzawe (20 km รถstlich von Netanja), See Genezareth und Tabgha, Jenin im Westjordanland, Bethlehem (Westjordanland), Totes Meer, Jerusalem, Akko (eine alte Kreuzfahrerhauptstadt am Mittelmeer), Kapernaum (die โ€žPetrusstadtโ€œ), Nazareth, Massada und Caesarea.

Zum Autor: Jens-Uwe Jopp ist Lehrer am Schiller Gymnasium. Ein ungewรถhnlicher Leipziger Pรคdagoge fรผr Deutsch und Geschichte, denn viele Leser kennen ihn auch als Autor der LEIPZIGER ZEITUNG oder Organisator der โ€žSchiller Akademieโ€œ, wo er und seine Schรผler unter anderem bereits mit Friedrich Schorlemmer รผber aktuelle Zeitfragen diskutierten.

Am 13. November 2018, ab 16 Uhr, findet diese รผbrigens erneut statt, dann mit einer Diskussionsrunde mit Dr. Gregor Gysi und einem Livestream auf L-IZ.de.

Israel intensiv: โ€žDa ist der Mensch!โ€œ

Israel intensiv (5): โ€žDa ist der Mensch!โ€œ

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