Für FreikäuferLZ/Auszug aus Ausgabe 59Nur noch wenige Tage bis zum 11. November 1918 wird das Schlachthaus Europa geöffnet haben. Ein Tag, den später viele Deutsche nicht als den Tag der Niederlage im Ersten Weltkrieg verstehen wollen. Doch bereits Mitte September 1918 ist die Initiative komplett in den Händen der Alliierten. Die deutsche Öffentlichkeit scheint es akzeptiert zu haben oder gewöhnt sich zumindest daran, dass wie am 14. September 1918 nicht über Pläne der Mittelmächte, sondern über die der Entente geschrieben wird.
Die haben offensichtlich noch einiges vor, so denn die Informationen aus dem Ententelager stimmen. So soll die Offensive im Westen „viel weiter ausgedehnt werden als die bisherigen Operationen.“ Die Alliierten rechneten damit, dass bei günstiger Witterung „die Operationen im Westen in zwei Monaten, spätestens Ende November zu einem großen Abschluss kommen werden“. Offenbar planen sie aber keinen endgültigen Abschluss ein, denn im Frühjahr 1919 wollen sie „die Schlacht erneut beginnen.“
Ferner denkt man, werden Franzosen und nicht Amerikaner im Elsass die deutschen Linien angreifen. Heute ist klar: Die Entscheidung fällt früher im Westen, die deutsche Front ist längst maroder, als es selbst die Alliierten ahnen. In wenigen Wochen wird das Deutsche Reich ein Waffenstillstandsgesuch aussenden. Die Konditionen werden härter sein, als viele im Rausch denken.
Hier hätte Schluss mit dem Krieg sein können
Dabei sind die Bedingungen zu denen Frieden geschlossen werden könnte, bereits im September längst klar. Der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson hatte schon im Januar 1918 seine 14 Punkte veröffentlicht, die Grundlage für die künftige Weltordnung sein sollen. Darin umriss er neben damals aktuellen politischen Fragen, erstmals neue Prinzipien von freier Seefahrt, Freihandel zwischen allen Nationen, sowie offene Friedensverträge ohne Geheimdiplomatie und eine Rüstung, welche der inneren Sicherheit genügen.
Vor allem aber forderte er einen für alle verbindlichen Völkerbund als weltweites Gremium. Die Gründung dieses im Jahr 1920 und die Ablösung durch die UNO nach dem Zweiten Weltkrieg werden bis heute mit Wilson verbunden.
Der britische Sozialist Henderson machte noch einmal öffentlich klar, dass Frieden wollen und nur ein bisschen dafür tun, nicht ausreichen wird, um von der internationalen sozialistischen Bewegung unterstützt zu werden. Seine Worte richten sich an Friedrich Ebert, den Führer der SPD. Der hatte in der Parteizeitung „Vorwärts“ eine Annäherung an Henderson versucht, scheiterte aber krachend.
„Wir verlangen vielmehr als Grundbedingung für eine internationale Konferenz, daß sämtliche vertretenen Parteien in einer feierlichen Erklärung ihre Friedensbedingungen in vollkommener Uebereinstimmung mit den Grundsätzen: Selbstbestimmungsrecht der Völker, keine Einverleibung und kein Schadenersatz als Strafe festlegen.“
Offenbar hatte Friedrich Ebert nicht den Eindruck erweckt, dass es ihm damit ernst sei. „Es ist von großer Wichtigkeit, daß Ebert und seine Kollegen sich vergegenwärtigen, daß diese Fragen mehr als taktische Bedeutung haben“, so Henderson. In knapp acht Wochen ist Ebert Reichskanzler und Vertreter der deutschen Regierung werden in nicht mal einem Jahr den Versailler Vertrag unterzeichnen. Nicht alle Prinzipien, die Wilson und Henderson durchsetzen wollen, wird man dort wiederfinden, der Frieden wird ein harter für die Deutschen.
Blick nach Osten und der Krieg als scheinbar notwendiges Übel
Gebannt schaut die Weltöffentlichkeit – und damit auch die Leipziger – nicht nur in Europas Westen in diesem September. In Russland tobt der bolschewistische Terror. Regelmäßig wird von Hinrichtungen berichtet. Diesmal sind zwei frühere zaristische Minister und ein General erschossen worden. Der Chemnitzer Geschichtsprofessor Lothar Kroll spricht hundert Jahre später von dem Vorhaben, die „perfekte Gesellschaft durch Massenmord“ zu konstruieren. Der Terror wird einen großen Anteil an der Angst vor dem Bolschewismus in Deutschland und in der restlichen, westlichen Welt haben.
Im Gegensatz zur bisherigen Kriegsinformation findet sich die Information zu deutschen Aktivitäten nicht mehr ganz oben auf der Titelseite des Leipziger Tageblatts. Ganz unten in der Mittelspalte wird auf drei Zeilen berichtet, dass im englischen Sperrgebiet in der Nordsee 9.000 Registertonnen von Deutschen versenkt wurden. Ob das nun gut oder schlecht ist, wird nicht erläutert. Es hat sich eine Art Gewöhnung in die Meldungen eingeschlichen, ganz so, als ob der Krieg irgendwie dazugehöre.
Zeit für eine Schulreform
Doch der Blick richtet sich schon hier verstärkt auf Inneres. So bleibt auch noch Zeit und Platz, Grundsätzliches in einem bis heute gern umkämpften Politikfeld zu diskutieren. „Die Einigung im preußischen höheren Schulwesen“ ist der Leitartikel der Ausgabe überschrieben. Offenbar war es vor einhundert Jahren noch nicht geklärt, wer in der Schule Einfluss haben darf und wer nicht, denn genau darüber stritten sich Staat und Kommunen in den vergangenen Jahren. Konkret waren die Kommunen der Meinung, dass sie, da sie die Bildungseinrichtungen unterhalten, auch mehr Einfluss ausüben sollten.
Der Staat verweigerte sich dem allerdings, man wittert die Gefahr, dass in kleineren Städten Bürgermeister sitzen, die von Schule keine Ahnung haben. „Schulausschuss“ lautet nun der Kompromiss, Bedingung ist allerdings, dass die Mitglieder verschwiegen sein werden, um Dritte nicht durch Schulinterna zu kompromittieren. „Nach den neuen Bestimmungen sollen nun diesem Schulausschuß von seiten des Staates eine Reihe von staatlichen Rechten übergeben werden, wobei zu bemerken ist, daß der Vorsitzende des Schulausschußes der Bürgermeister ist, daß weiter drei Magistratsmitglieder, drei Stadtverordnete und 2-4 stimmfähige Bürger in ihm vertreten sind.“
„Es wird also eine Art Zwischeninstanz zwischen dem Direktor und seiner Behörde geschaffen, und zwar, wie hervorgehoben zu werden verdient, gegebenenfalls auch eine schulunkundige.“ Dieser Minikompromiss scheint schon ein Schritt zu viel zu sein. Der Schulausschuss soll zudem auch an den staatlichen Schulrevisionen, also Besuchen mit Begutachtung, teilnehmen können. Wenig verwunderlich wird auch diese Erneuerung als schändlich im Leipziger Tageblatt gebrandmarkt.
„Es ist höchst bedenklich, wenn an solchen Revisionen ein Nichtfachmann teilnimmt, und es gibt wohl in Preußen in keinem anderen höheren Stande eine Parallele zu einem derartigen Vorgang. […] Eine vertrauliche Aussprache zwischen Fachleuten – Provinzialschulrat und Oberlehrer – soll hier in Gegenwart eines Laien stattfinden, der bei jedem Tadel und jedem Lobe ein schiefes Bild gewinnen muß.“
Man stelle sich nun vor, der neue Gesetzesentwurf sähe nun noch Elternbeteiligung wie heutzutage üblich vor. Unter den Fingern des Journalisten müsste doch die Schreibmaschine Feuer fangen. Weit gefehlt. Der Entwurf will tatsächlich, dass künftig zehnköpfige Elternbeiräte eingerichtet werden und der Autor findet es auch noch gut. „Die Fühlungnahme zwischen Schule und Haus, über deren Fehlen so oft in den letzten Jahren geklagt worden ist, wird enger werden und damit werden zweifellos die unvermeidlichen Reibungen zwischen Schule und Elternhaus immer weiter schwinden.“
Der „Fürsten-Fluch“ beginnt
Derweil tut sich im Lande Anhalt Erstaunliches. Zum einzigen Mal im 20. Jahrhundert wechselt der Thron in Deutschland. Auf den verstorbenen Herzog Eduard folgt sein ältester Sohn Joachim Ernst. Der ist allerdings erst 17 und wird daher vorerst von seinem Onkel Aribert in den Regierungsgeschäften vertreten. Natürlich wissen sie nicht, dass Joachim Ernst, der einzige proklamierte Bundesfürst im 20. Jahrhundert, niemals selbst regieren wird. Als er am 11. Januar 1919 volljährig wird, hat sein Onkel schon für ihn auf den Thron verzichtet. Die „Fürsten-Flucht“ im Deutschen Reich erfasst auch Anhalt.
Joachim Ernst stirbt 1947 im sowjetischen Lager in Buchenwald und wird 1992 von den russischen Behörden als unschuldig bezeichnet. Das Herrschergeschlecht der Askanier verliert durch den Thronverzicht nach über achthundert Jahren seine Machtposition in Anhalt. Damit ist man nicht allein – das Ende des Ersten Weltkrieges gilt als Zäsur in allen deutschen Herrscherhäusern, es folgt die „Weimarer Republik“.
Letzte Kriegsentwicklungen vor dem Zusammenbruch
In Leipzig wird mal wieder gesammelt, es heißt „Opfertag“. Diesmal wird für die Kolonialkrieger um Unterstützung gebeten. „Junge Mädchen und Schüler boten auf Straßen und in den Häusern vom frühen Morgen Blumen, Postkarten und Medaillen an. Das Publikum gab gern sein Scherflein für unsere tapferen Kolonialkrieger und ließ sich mit derartigen Andenken schmücken.“
Bis auf Deutsch-Ostafrika hat das deutsche Kaiserreich bereits längst alle afrikanischen Kolonien eingebüßt. Nur in Deutsch-Ostafrika gelingt es, den Ersten Weltkrieg ohne Niederlage zu überstehen. Mit Inkrafttreten des Versailler Vertrags ist auch Deutsch-Ostafrika futsch und fällt an Großbritannien. Heute existieren auf diesem Gebiet, was nahezu doppelt so groß wie das Deutsche Kaiserreich ist, die afrikanischen Staaten Burundi, Ruanda und Tansania.
Unter Druck stehen auch die von Engländern internierten Leipziger Millionäre. Wie groß die Gruppe wohl gewesen sein muss, dass sich sogar die Zeitung mit ihnen beschäftigt? Der Artikel nennt die Namen deutscher Millionäre, ohne sie einer Stadt zuzuordnen. Manche sind in Kairo, andere werden in Daresalam festgehalten. Weil das deutsch-britische Gefangenenabkommen kurz vor der Ratifizierung steht, wird ihre Freilassung wahrscheinlicher.
Falls noch jemand nach dem Wortungetüm des Ersten Weltkriegs sucht: Es gibt einen Wechsel bei den Gasthauskartoffelkarten. Die roten werden, sofern sie nicht angerissen wurden, ab morgen gegen grüne eingetauscht. Das erfolgt entsprechend „der Verordnung des Kgl. Ministeriums des Innern vom 7. September d. J.“ Jeder Versorgungsberechtigte erhält gegen Kriegsende eine bestimmte Menge Kartoffeln, die nicht auf die normale Menge Kartoffeln angerechnet wird.
Überhaupt scheint nichts mehr unrationiert oder „unspendbar“ zu sein. Die Zeitung erläutert über 20 Zeilen, welche Vorhänge nun beschlagnahmt werden und welche als zum Privathaushalt gehörig zählen, die Kriegsküchen geben in nur einer Woche 51.500 Mahlzeiten aus – Leipzig hat zu dem Zeitpunkt ungefähr 540.000 Einwohner. Und auch zur Abgabe von Zeitungspapier werden die Leipziger angehalten. „Trennt euch von den angesammelten Zeitungen. Bringt das kleine Opfer zum Wohle unserer Soldaten.“
Bereits erschienene Zeitreisen durch Leipzig auf L-IZ.de
Der Leipziger Osten im Jahr 1886
Der Leipziger Westen im Jahr 1886
Leipzig am Vorabend des I. Weltkrieges 1914
Einblicke in die Jüdische Geschichte Leipzigs 1880 bis 1938
Leipzig in den „Goldenen 20ern“
Alle Zeitreisen auf einen Blick
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