Es sind eigentlich immer zwei Reisen, wenn man auf eine Demonstration solchen AusmaรŸes und dieser Vorgeschichte wie in Chemnitz fรคhrt. Eine รคuรŸere, die schnell berichtet wird: Wer und wie viele sind wo, was geschieht gerade, gibt es auรŸergewรถhnliche Vorgรคnge รผber ein normales Demonstrationsgeschehen hinaus? Dies flieรŸt teils in rasendem Tempo in die ร–ffentlichkeit, wird da via social media reflektiert, weitervermittelt. Und kann, sofern es nahezu in Echtzeit wie am Samstag, 1. September, in Chemnitz wieder geschieht, zum Teil des Demonstrationsgeschehens werden. Und es gibt die Gedanken, die sich bei bestimmten Situationen einschleichen, Fragen und Eindrรผcke hinterlassen. Persรถnliche Begegnungen, die nur scheinbar keine Rolle spielen.

Als der erste vollkommen รผberfรผllte Zug den Leipziger Hauptbahnhof gen Chemnitz verlรคsst, bleiben unzรคhlige Menschen auf dem Bahnsteig zurรผck. Etwas konsterniert, die ersten รผberlegen doch noch ins Auto zu hรผpfen, um den Start bei der Chemnitzer Kundgebung โ€žHerz statt Hetzeโ€œ nicht zu verpassen. Fรผr die Allermeisten beginnt das Warten.

Am Serviceschalter steht kurz darauf ein Mann mittleren Alters und schimpft โ€“ die Schlange stetig verlรคngernd โ€“ wรคhrend ihm der Deutsche Bahn-Mitarbeiter beharrlich erlรคutert, dass Regionalzรผge quasi vom Freistaat Sachsen und den kommunalen Zweckverbรคnden bestellt und bezahlt werden mรผssen. Hier gab es keine Order, die Bahn sei unschuldig, dass nur regulรคre Zรผge einmal in der Stunde nach Chemnitz fahren.

GroรŸ-Demonstration und antifaschistischer Widerstand gegen die Braunkรถppe also hin oder her, Geldverdienen hat immer noch Prioritรคt bei der Bahn.

Hier also die berechtigte Frage, warum man letztlich drei volle Zรผge aller einer Stunde veranstaltet, statt sich was einfallen zu lassen. Und da der pflichtgetreue Bahnarbeiter im Abwehrmodus, der einen nicht greifbaren Schuldigen zur Hand hat. Die erste ergebnislose Debatte dieses Tages, man geht beidseitig frustriert auseinander und es werden noch erstaunlich viele รคhnliche Szenen folgen.

โ€žFalschfahrerโ€œ im Zug

15:20 Uhr dann Abfahrt Richtung Chemnitz, ein groรŸer Genuss in vollen Zรผgen, alles steht dicht gedrรคngt, sitzt Po an Po auf altem Mobiliar und Boden oder purzelt in den alten Waggons mit schlieรŸbaren Abteilen umeinander her. Regionalverkehr wie in den 90ern, Chemnitz wirkt schon im Zug irgendwie weit weg in der Zeit, die Strecke harrt noch immer ihrer Elektrifizierung.

Um die Fรผlle noch zu erhรถhen, stehen pro Tรผr etwa drei Polizeibeamte des Bundesgrenzschutzes, bis zum Halt in Bad Lausick sind die zum Gegenprotest Fahrenden ansonsten unter sich, dann beginnt ein Murren.

Insbesondere einen รคlteren Mann mit griffbereiten Krostitzer Bieren in der Schlabberjacke will man hier nicht haben โ€“ ruck-zuck war der Pegida-Anhรคnger wohl erkannt, nun droht ihm von couragierter Manneskraft der Ausstieg an der nรคchsten Station.

Als sich die Polizei (und einige Frauen โ€“ natรผrlich) klรคrend einschaltet, entsteht ein anhaltendes Wortgefecht, wรคhrend sich der nun sehr wortkarge โ€žFalschfahrerโ€œ quasi geschรผtzt von zwei Polizeirรผcken zwischen zwei Waggons stehend wiederfindet. Dafรผr dรผrfen sich nun die Beamten einiges anhรถren. Wo sie denn am Montag gewesen wรคren, als ihre zahlenmรครŸig unterlegenen Kollegen den braunen Mob nicht stoppen konnten. Und รผberhaupt โ€ฆ

Ein Beamter murmelt hรถrbar: โ€žIch mach hier nur meinen Job und fertigโ€œ, anschlieรŸend aber ein freundliches Zwinkern. Am Montag hatte der Freistaat Sachsen es von sich aus unterlassen, um die Unterstรผtzung der Bundespolizei zu bitten, heute sind sie da und machen ihren Job im Zug ohne viel zu tun zu haben.

Unweit der Szene diskutiert eine zugestiegene Frau mit sich selbst in Gegenwart ihres vielleicht 13-jรคhrigen mรคnnlichen Begleiters. Ihr Sohn? Man weiรŸ es nicht. Unverantwortlich sei das, was hier geschehe. Was genau mag sie nicht sagen, aber sie zittere am ganzen Kรถrper, betont sie, als sie doch noch einen Sitzplatz freigemacht bekommt. Und irgendwie ist sie doch stolz auf ihren Mut, man habe ihr abgeraten nach Chemnitz zu fahren. Warum, verschweigt sie lieber.

Sie wirkt, verรคngstigt im Sitz kauernd, nicht wie die anderen hier, von denen gleich am Chemnitzer Bahnhof viele โ€žti amo tutti antifascistiโ€œ und โ€žWo wart ihr am Montagโ€œ Richtung Polizei rufen werden. Eher ist sie wohl โ€ždas Volkโ€œ, hier umringt von vorrangig jungen Menschen, die ihr einen Platz angeboten haben. Und nun gerade lieber dabei sind, mit Polizeibeamten รผber Politik zu debattieren oder ihre erste Wegration zu verputzen.

Sie, wohl eher nicht zum Shoppen nach Chemnitz unterwegs (Leipzig lรคge zudem nรคher), und der Bierflaschenmann wirken jedenfalls wenig erpicht darauf, eine Debatte รผber Auslรคnder, deutsche Politik oder den nicht existenten Antifa e.V. zu beginnen.

Und eines ist irgendwie auch klar. Pegida-, AfD- und Hitler-Fans scheinen eher โ€žFreie Fahrt fรผr freie Bรผrgerโ€œ zu sein oder eben schon in Chemnitz lebend vorhanden, auch in den anderen Zรผgen dieses Tages werden sie nur in sehr geringer Dosis eine Fahrt versuchen. Antifaschisten fahren also eher gemeinsam Zug und nach Hรถrensagen sollen auch alle ein Ticket gelรถst haben. Ein Kontrolleur kommt nicht, es ist Ausnahmezustand, doch selbst die Einnahmen stimmen.

Faschisten und die, die es noch werden wollen, nehmen lieber den Volkswagen.

Angespannte Partystimmung

In Chemnitz angekommen, wird eines sofort klar. Der Gegenprotest will unbedingt erreichen, dass hier am 1. September gar nichts lรคuft, die Mitgereisten bleiben erst einmal auf einer Kreuzung stehen und wollen eine spontane Versammlung anmelden. Ein charmanter Gedanke irgendwie, am โ€žJubilรคumsโ€œ-Tag des deutschen Einmarsches in Polen mal die Beinfreiheit fรผr AfD- und โ€žPro Chemnitzโ€œ-Anhรคnger etwas zu begrenzen. An vielen weiteren Kreuzungen geschieht รคhnliches, wie ein Netz zieht sich das Stadtgebiet um Bjรถrn Hรถcke und Lutz Bachmann zusammen.

Am Ende wird im Umfeld eines โ€žSchweigemarschesโ€œ das geschehen, was in solchen Fรคllen immer wieder bei unzรคhligen NPD-Demos in Sachsen geschah, wenn sie am Laufen gehindert waren: wie trotzige Kinder, denen man die Rassel geklaut hat, werden sie versuchen, sich den Weg irgendwie freizukรคmpfen. โ€žMann gegen Mannโ€œ, wie ein verdรคchtig nach einem Rummelboxer aussehender Demoteilnehmer spรคter einen Polizeibeamten anschreien wird. Hรถcke wird da schon lange wieder auf der Autobahn sein, dem nรคchsten Volksaufstand entgegen.

Auf der Bรผhne rรถhrt an diesem spรคten Nachmittag Sebastian Madsen von der gleichnamigen Band kostenfreie Lieder, es sei ihm โ€žWarm ums Herzโ€œ, angesichts der vielen Gekommenen. Zeitgleich hat sich eine Blockade auf der BahnhofsstraรŸe gebildet, immer mehr Menschen strรถmen hinter ihr ein, sie wรคchst von Stunde zu Stunde. Entgegen jedweder Polizeiansage werden sie stehen- oder sitzenbleiben, mit wachsender Menge wird es unverhรคltnismรครŸiger, hier eine polizeiliche Rรคumung โ€“ so man keine brachiale Gewalt sucht โ€“ zu versuchen.

Ein Senior schrรคg gegenรผber der Gegenproteste beobachtet das Treiben aufmerksam und gibt auf Nachfrage mรผrrisch Auskunft; ja, das hier sei die BahnhofsstraรŸe. Sein Blick sagt: ich will das hier alles nicht und im รœbrigen meine Ruhe.

Die Situation im Moment des Gesprรคches. Video: L-IZ.de

Gedanken zu zwei Begegnungen

Ein aus Chemnitz stammender Redaktionskollege der L-IZ.de hatte vorab eben diesen รคlteren Chemnitzer prototypisch beschrieben und suchen musste man ihn wirklich nicht. Man klage in Chemnitz erfolgreich gegen das nรคchtliche Klackgerรคusch einer Blindenampel wegen zu hoher Lรคrmbelastung. Den Stadtpark habe man auf Druck der Einwohner ebenfalls massiv gesรคubert von herumsitzenden Menschen, danach war alles sauber und der Park leer.

Zwischen einer aktiven Neonaziszene und dem Antifaschistischen Jugendzentrum Chemnitz am Rande der Stadt (von einheimischen Polizisten auch gern mal als โ€žZeckenschuppenโ€œ bezeichnet) wirke praktisch nur eine Hochkulturszenerie rings um die Kunstsammlung Chemnitz und den Kunstsammler Alfred Gunzenhauser.

Jahrelang ging es hier eigentlich nur um den nรคchsten Job, Geld und den nรคchsten Urlaub.

Zwischen dieser, den Studenten an der TU Chemnitz und tรคglicher โ€žMalocheโ€œ angesiedelten Grundstimmung fehle etwas, was Leipzig fรผr den hergezogenen Kollegen ausmacht: eine lebendige Zivilgesellschaft, Partys, selbst eroberte Freirรคume, kleinere Konzerte, Restaurants, Clubs und Anlaufpunkte, die Platz fรผr Begegnung und Miteinander bieten. Und natรผrlich auch die daraus immer wieder neu kreierten Chancen.

Hier steht er also nun, der eine seniore Prototyp Chemnitzer Art, der all das in den letzten Jahrzehnten mitgeprรคgt und so gewollt haben kรถnnte. Kรถnnte. Doch seine ganze Kรถrperhaltung sagt zum Leipziger Journalisten erkennbar deutscher Herkunft: Geh weg und frag mich nichts. Ob aus Enttรคuschung oder รœberzeugung ist in der kurzen Sequenz nicht klรคrbar.

Die sicher subjektive Beschreibung von Chemnitz des L-IZ-Kollegen ist die einer Stadt, die man als junger Mensch besser verlรคsst. Eine Beschreibung aus der Zeit vor 2014 stammend und 2018 explodierend. Jetzt ist hier die โ€žMigrantensorgeโ€œ fรผr alles verantwortlich in der bis 1945 zu 80 Prozent zerstรถrten, plattenbaugeprรคgten und nun ergrauten Arbeiterstadt des Erzgebirgsbeckens. Eigentlich war vorher klar, was mit Chemnitz nicht stimmt.

Eine Stadt ohne zivilgesellschaftliches Immunsystem, รผber 40-Prozent-Ergebnissen fรผr die CDU bis 2017 (da dann 24 Prozent AfD) bei jeder Landtags- und Bundestagswahl und genau einer Tageszeitung fรผr 247.000 Einwohner. So sieht wohl mangelnde Integrationsfรคhigkeit aus, die Menschen sind stark mit sich und ihrem Ruhebedรผrfnis beschรคftigt.

Ungefragt hingegen und locker kommt kurz darauf ein Gesprรคch mit einem Pรคrchen mittleren Alters inmitten des Blockadehinterlandes zustande; sie ihr Rad schiebend, er nicht aus Chemnitz. Was hier sichtbar wird, ist der zweite Chemnitzer Typus, freundlich und bei der Gegendemo: Sie freut sich, endlich auch mal demonstrieren zu kรถnnen, dass Chemnitz eben so nicht ist, wie es รผberall in der Zeitung steht. Und dass sie viele Bekannte hier auf dem Platz vor der Johanniskirche getroffen hat. Und dann kommt prompt der Hinweis auf die Hochkultur in Chemnitz.

Da war doch was? Die meisten Gegendemonstranten am 1. September jedenfalls waren eindeutig nicht aus Chemnitz. Allein die Leipziger kamen in einer Zahl von sicher 1.500 bis 2.000 Menschen per Bahn, Bus und ja, ein paar auch hier mit dem Auto angereist, um sich dem braunen Belzebub entgegenzustellen.

Das junge Leipzig steht also in Chemnitz und versucht emotional zu retten, was derzeit noch in Sachsen zu retten ist. Leipzig will das andere Sachsen sein und wird noch immer im Stich gelassen.

Mal nach den Rechten sehn

Eigentlich wollte die L-IZ.de am 1. September 2018 nach den vielen Bildern rechter Schlรคger aus Chemnitz vorrangig von den Gegenprotesten berichten. Aber als letztlich alter StraรŸenhaudegen kommt man โ€“ ist die Situation auf der Gegendemo wie gewohnt ruhig und friedlich โ€“ nicht umhin, mal nach den Rechten zu sehen. Thomas Knaup, Polizeisprecher der Polizeidirektion Gรถrlitz, schmunzelt etwas, als er auf die Route des vorgesehenen AfD/Pegida/Pro Chemnitz-Trauermarsches angesprochen wird: โ€žDerzeit wird geschaut, wo die Demonstrationsroute verlaufen kรถnnte.โ€œ

Zudem seien die Anmelder langsam spรคt dran mit ihrem Anliegen, die vereinbarte Demonstrationszeit lรคuft allmรคhlich ab. Danach muss eigentlich neu angemeldet werden. Es ist also klar: Die Uhr lรคuft runter fรผr den neuerlichen Marsch durch Chemnitz an diesem Tag.

Ein Moment gegen 18:30 Uhr, wo alle in beide Richtungen der BahnhofsstraรŸe schauen: so richtig weiรŸ keiner, woher denn nun das Gemisch aus NPD-Anhรคngern, Hitler-Fans und besorgten Chemnitzern kommen soll. Auf dem Platz an der BahnhofsstraรŸe spielen weitere Bands. Doch alles wartet auf eine Entscheidung der Polizeifรผhrung, welche sich mit den bis dato friedlichen โ€žHeim ins Reichโ€œ-Demonstranten (sorry) an der Kreuzung der โ€žStraรŸe der Nationenโ€œ und โ€žBrรผckenstraรŸeโ€œ รผber den weiteren Verlauf besprechen.

Ob allein diese Kreuzungskonstellation eine Doppelkonfusion in Zeiten von neuem Nationalismus contra Seebrรผcke am Mittelmeer fรผr die hier agierenden Personen darstellt, kann man sie kurz darauf nicht fragen. Aber ein Schild fotografieren kann man schon, was das Paradoxon festhรคlt. Ein Zustand, der zu rasanten Szenen fรผhrt, denn nun versuchen sie sich ihren Weg hin auf ihre Route durch Chemnitz und damit zu den rund 500 Meter entfernten Gegendemonstranten zu bahnen

Just in dem Moment, als man sich also hier gegen 19:20 Uhr hinbewegt, rennt auf einmal ein Polizeipulk auf einen zu. Dahinter irgendwas aus schreiendem Mรคnnergemisch, Deutschland- und Sachsenfahnen, kommt zirka 30 Meter vor der Kameralinse zum Stehen. Wรคhrend man zurรผckweicht.

Nun heiรŸt es Abstand gewinnen und dennoch wirdโ€™s bei den Rechten rasch persรถnlich. Und wir klรคren noch schnell, warum Geithain stabil bleibt und eine alte Angst zurรผckkehrt. In Teil 3 von โ€žReise, Reiseโ€œ nach Chemnitz.

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