Ein heißer Herbst steht bevor. Nach dem extrem sonnendurchfluteten Sommer fühlte man die Fragen nach der Zukunft. Unseres Planeten, unserer Gesellschaft, unseres Daseins. Unsere Zeit zeigt eine eigenartige Ambivalenz: Noch genießen wir die konformen Annehmlichkeiten, die Angebote der nicht mehr so sozialen Marktwirtschaft und der schwächelnden Demokratie. Zum anderen werden wir fast täglich erschreckte Zeugen von kollektiven und individuellen Verhaltensweisen, die Stellungnahmen und persönlichen Einsatz von uns fordern, uns immer mehr an bevorstehenden Umbruch gesamtgesellschaftlicher Verhältnisse – bestenfalls „Transformation“ genannt - denken lassen.
Ein Rückfall in schlimme Zeiten gäbe es nicht zum ersten Mal in unserer Geschichte. Eines scheint wohl festzustehen: Unser Land wird sich in den nächsten Jahren verändern. Zwar wird es wohl noch das Weihnachtsfest kurz nach den Sommerferien im Supermarkt geben und das schwäbelnde Nivea-Testimonial bleibt Bundestrainer … Spaß beiseite, der „Ernstfall Demokratie“ wird, wenn er es nicht schon ist, zur existentiellen Nagelprobe des „christlichen Abendlandes“.
Ich bin mir bewusst, dass im Aussprechen allgemeiner Wahrheiten die Gefahr der Selbstgerechtigkeit liegt, und dies immer auch von Subjektivität geprägt ist. Deshalb muss es ja auch bei deren Vermittlung auf ein wechselseitiges Inhalt-Form-Korrelieren ankommen, das in unserer medialen Biosphäre entscheidend für eine seriöse Aufnahme des Anglisierens und Bewertens gesellschaftlicher und politischer Vorgänge ist.
Konkret bedeutet das, ich muss bei der Bewertung rechtsradikaler Übergriffe schon genau darauf achten, WIE ich sie verurteile. (Tut mir leid, dass ich an dieser Stelle nicht scheinäquivalent auch das Linksradikale erwähne, es ist im Gegensatz zu rechtem Hass und Menschenjagd eben nicht „konsequent“ in Inhalt und Methode des Fehlverhaltens.) Wann verwende ich das Wort „Faschist“, wann sage ich „Nazi“, wann „Rechtspopulist“? Ein „Shitstorm“ im sozialen Netzwerk ist womöglich die Antwort.
Die – ich nenne sie unwissenschaftlich – „vulgär-aufklärerische“ Korrektheit, das Bei-der-Wahrheit-Bleiben, in Bericht und Kommentar wirkt angeblich als Allheilmittel gegen die rechten Feinde der Demokratie. „Die haben ja keine Antworten, sind völlig inkompetent.“ Oder: „Man muss diese Burschen nur mit der Realpolitik konfrontieren und schon sind sie ganz still und ratlos.“ Erklärte mir vor Jahresfrist ein selbstsicherer CDU-Stadtrat mitten in mein fragendes Gesicht.
Fragen muss man sich nur, warum dann die Antwort vieler Wähler auf die wirtschaftliche und (noch konzeptionslose) Sozialpolitik rechtspopulistischer Kreise nicht der Zustimmungsverlust sondern weiterer Zulauf ist?
Wahl eines neuen Volkes?
Und dass bei vorhandenem (?) Wissen, dass steigende Umfragewerte der AfD in Sachsen 2019 wahrscheinlich eine Regierungsbeteiligung und dann qua Amt das sukzessive Abbauen der Demokratie bedeuten. Schüttelt man da immer noch den Kopf über das „dumme“ und unaufgeklärte Volk vonseiten der demokratischen Parteien? Wählt sich dann gegegebenenfalls ein anderes Wahl-Volk, wie der alte Brecht 1953 sarkastisch in den „Buckower Elegien“ schrieb?
Um keinesfalls falsch verstanden zu werden: Es ist nicht wünschenswert, beispielsweise einen AfD-Bildungsminister zu bekommen. Lesen wir dann mit den Schülerinnen und Schülern der 9. Klasse statt Remarques Antikriegsroman „Im Westen nichts Neues“ Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“? Schauen uns den Schiller-Film von 1940 „Der Triumph des Genies“ mit Horst Caspar-Hitler in der Hauptrolle an?
Mag sein, dass dies tolle Fantasie ist. Aber eine demokratisch-humanistische Konsensatmosphäre ist in unserem Land in ein solch fatales Schwarzgrau geraten, dass man scheinbar nur die richtige „Begründung“ benötigt, um sein gegensätzliches Bewerten, seine Interpretation, seine Konsequenzen zu rechtfertigen.
Da werden Geflüchtete durch Städte gejagt – haben die alle im Geschichtsunterricht beim Thema „Antisemitische Ausschreitungen“ gepennt? Menschen versuchen andere virtuell und real zu entwürdigen, ja, sie sogar an Leib und Leben zu bedrohen. Nochmal: Die haben alle ihren Besuch in KZ-Gedenkstätten hinter sich, die haben alle von Grausamkeiten und Verbrechen von Menschen an Menschen und dem folgenden Leid in der Geschichte und während des Unterrichtens derselben gehört. (Und deren „Lernleistung“ wurde seinerzeit auch kontrolliert).
Es muss etwas anderes sein, als nur Bildung als Allheilmittel unsozialen Verhaltens – mehr und mehr in kollektiver Form – deren Vorstufen des sozialen Frustes und des folgendes Hasses, endend im menschenfeindlichen Verbrechen liegen, zu sehen. Immer wieder wird mit strafenden exekutiven Argusaugen dabei auf den Osten, auf Sachsen als rechtes Kernland, geschaut. Das Problem sind nicht vorrangig die Hilfe und Schutz suchende Menschen, das wissen die Meisten.
Die sächsisch-ostdeutsch vorhandene „Un-Willkommens-Kultur“ in einer rechten Konsenssphäre deutet vielmehr auf tiefsitzende Verletzungen und unterschwellige aber manifeste Kränkungszustände hin. Auf langjährige Probleme. Und die waren durchaus hausgemacht. (Oder systembedingt?) Und sind nicht „eingewandert“.
Es fehlt an Herkunft.
Der materielle Wohlstand wurde „verschenkt“ zu Beginn nach der zweiten Nachkriegsperiode (nach 1989). Er wurde nicht erworben, es wurde den Menschen der Supermarkt vor die Nase gesetzt, das Auto, die Baufinanzierung, die beitragsdynamische Krankenversicherung. (Übrigens: Auch das Vertrauen in politische Sprache ging dabei schnell verloren. Dem Wort „Reform“ bspw. vonseiten der offiziellen Politik wird mittlerweile vom wählenden Volk vollständig misstraut.) Das Ganze als Geschenk für den Osten, gewissermaßen als Belohnung für die friedliche Abwahl des alten, maroden Systems, des surreal verkommenen Sozialismus. Lohn aber auch für das Beseitigen der Systemkonkurrenz.
Dafür blieb im Osten der emanzipatorische Akt einer selbstgeschaffenen Ordnung nach 1989 aus. Der alte Verlierer sollte der neue Sieger sein. In den „Freistaaten“ des Ostens. Dort wurde Ende des vergangenen Jahrhunderts weiter neoliberal zusammengestrichen, was das Zeug hielt. Am Ende hielt dann nicht mal mehr der Bus im Lößnitztal oder in der Oberlausitz.
„Sozial ist, was Arbeit schafft“ tönte man christdemokratisch Anfang der 2000er Jahre in Hartz IV-Manier. Nicht verstehen wollend, dass Menschen mehr als schmales Einkommen benötigen, wenn sie staatliche, pardon – stattliche demokratische Anhänger werden sollen. Man fühlte und fühlt sich als „Funktionsteilchen“ einer ökonomisch denkenden Gesellschaft, die für die Wirtschaft da zu sein hat. Und nicht umgekehrt.
Den Fragenden wurde das Wort „Freiheit“ an den Kopf geknallt und irgendwann hatte man eben auch das Fragen nach deren praktischer Füllung satt. Immer wieder das Gefühl, eigentlich unwichtig zu sein, wie der Fußballfan, der mittlerweile beim Millionentransfer längst nicht mehr gefragt wird.
Demokratische Herkunft? Fehlanzeige.
Stattdessen zog ein Bratwurstduft an Piefigkeit vom „Tag der Sachsen“ herüber. „In aller Freundschaft“ gibt es in der gespaltenen sächsischen Zivilgesellschaft nur im bunt-sterilen MDR-Fernsehen. Oder bei gemeinsam erlebten Flutkatastrophen. Brauchen wir solche Erlebnisse vielleicht wieder, so zur kathartischen Reinigung? Die bittere Ironie speist sich aus der Erkenntnis, dass eine Mischung von Laissez-faire- und marktradikaler Politik der letzten Jahrzehnte Verantwortung trägt für die Gefahr, die jetzt beim Verblassen historisch bitterer Erfahrungen erneut vor uns steht.
Nämlich das Infragestellen von Grundrechten, Verharmlosen von ideologisch und rassistisch motivierten Vergehen und schlimmstenfalls deren staatliche Sanktionierung. Lassen wir es nicht so weit kommen. Menschen sind wir alle, oder? Lassen wir nichts unversucht, die Zweifler, die Verunsicherten, die Opportunisten hinsichtlich politischer Tendenzen, ja auch die „Herkunftslosen“ zurückzugewinnen. Ein heißer Herbst steht bevor.
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Das kann man ruhig mehrmals lesen, da gibts ja so einiges im Text, worüber man mal nachdenken sollte.