Der Mensch ist abhängig. Von anderen Menschen, von Moden, Kultur und den Vorstellungen vom „Normal“. Er kann nicht anders. Und merkt oft gar nicht, in welchen Zeichensystemen und Abhängigkeiten er agiert. Das geht auch den ach so zornigen Ostdeutschen so, denen die kanadische Soziologin Barbara Thériault in einem ebenso bezaubernden Buch schon auf den Zahn gefühlt hat. Dumm nur, dass die meisten Ostdeutschen das Lesen verlernt haben. So verpassen sie das Wesentliche.

Und natürlich hat das mit ihnen zu tun, ihrer Mentalität, ihren Erwartungen, ihrer Selbstwahrnehmung und ihren Vorstellungen von dem, was gerade die Norm ist, also ihr erwartetes Normal. Über das die meisten Menschen aber nicht nachdenken, weil sie es unbewusst einfach voraussetzen. Normalität entlastet, schafft ein Gefühl der Übereinstimmung.

Niemand tanzt aus der Reihe. Anpassung ist eine der größten Tugenden, die Ostdeutsche erwarten. Und auch leben. So haben sie es gelernt. So haben es Generationen immer wieder an ihre Kinder weitergegeben.

Das Ergebnis ist genau das, was die Soziologin Barbara Thériault in ihrem Buch „Die Bodenständigen“ beschrieben hat. Nicht aus der Warte der Professorin, die ihren Befund vom Pult aus verkündet, sondern aus jener Position, die einst Siegfried Kracauer in jenem Grenzbereich etabliert hat, in dem sich Soziologie und guter Journalismus überschneiden.

Die Bodenständigen und ihre Heimat

Weshalb Thériault Kracauer natürlich anführt, auch sein Buch „Die Angestellten“, in dem der Architekt und Soziologe, der zu einem der markantesten Journalisten der Weimarer Republik geworden war, aufmerksam untersuchte, welche Muster eigentlich das Leben de Menschen bestimmen, die sich bis heute als Mittelklasse empfinden, obwohl sie – als kleine Angestellte – nicht zur Mittelklasse gehören, letztlich proletarische Lebensgewohnheiten haben und ideologisch heimatlos sind.

Weshalb sie so gern von Heimat reden. Das Gefühl, nirgendwo wirklich dazuzugehören, muss ja irgendwo hin. Deswegen sind sie so leicht verführbar und verlockbar, durch Populisten und durch Werbung. Beides funktioniert nach denselben Prinzipien – der Erzeugung von Unbehagen am aktuellen Zustand des eigenen Lebens und dem Versprechen, ein schillerndes Produkt – oder die gefärbten Haare eines Redners – würde sie erlösen und ihnen endlich den Status zukommen lassen, den sie schon immer meinten, verdient zu haben.

Ein weiter Abschweif. Aber wie gesagt: Die Ostdeutschen, die in ihrer Mehrheit nichts anderes sind als mehr oder minder gut bezahlte Angestellte, lesen nicht. Jedenfalls nicht das, was sie klüger machen könnte. Oder was ihnen – mit Barbara Thériault – den Blick von außen auf sich ermöglichen würde. Und darauf, wie eigentlich ihre Muster des Normalseins funktionieren.

Muster, die mit der Frage zusammenhängen, ob einer eigentlich den Mut hat, aufzufallen und damit die Aufmerksamkeit Anderer auf sich zu ziehen. Oder ob das stille Bestreben dominiert, unbedingt so wie alle anderen zu sein.

Die ästhetische Dimension des Sozialen

Und das wieder hat mit der Veränderlichkeit der Welt zu tun, eine Welt, in der es Menschen gibt, die geradezu Erfüllung darin finden, immer Neues auszuprobieren und Trendsetter zu werden. Und in der die Mehrheit im Gegenteil alles tut, den Gang der Veränderung (nicht nur im Politischen, das in diesem Buch nur am Rande eine Rolle spielt) zu verlangsamen.

Sich also – in der Regel unbewusst – gegen den Trend zu stemmen. Und kaum eine Einrichtung dient dem so nachhaltig wie der Friseursalon. Wobei Barbara Thériault gar nicht unter die Haarschneider gegangen ist, um ihre These von den Bodenständigen zu bestätigen. Im Gegenteil: „Ein Experiment wollte ich wagen. Die Berufe der Friseurin, Soziologin und Journalistin parallel auszuüben, um die ästhetische Dimension des Sozialen am Beispiel einer Stadt zu erkunden.“

Und dazu eignet sich der Friseursalon ideal. Da kommen die Menschen hin, um ihre Haare nicht nur wieder schön machen zu lassen, sondern um ein Bild von sich wieder in Szene zu setzen. Nämlich da Bild, das sie von sich selbst gern haben möchten oder einfach haben.

Die Friseuse ist nur die Helferin, die dieses Bild wieder sichtbar macht. Oft selbst für sie unbewusst, dass sie gerade ein gängiges Bild von Normalität in lauter Frisuren umsetzt, die auf den Straßen erkennbar machen, welcher Gesellschaft, welcher Zeit und welchem Ort sich die Frisierten zugehörig fühlen. (Die Unfrisierten übrigens auch. Auch sie bekommen ihr Kapitel.)

Was sogar dann passiert, wenn sie glauben, dem Trend der Zeit zu folgen und die modischste Frisur zu verlangen, die gerade gefragt ist. Wobei das Gefragtsein eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, wie man bald mitbekommt.

Erfurt, Halle, Montreal

Um den Besucherinnen und Besuchern der Friseursalons so auf die Schliche zu kommen, hat Barbara Thériault in ihrer Heimatstadt Montreal extra eine Friseurausbildung gemacht und die Grundlagen des Handwerks gelernt und auch einen ordentlichen Abschluss gemacht, der in Deutschland dann natürlich nicht anerkannt wurde. Deutsche Handwerkskammern sind – auch wenn sie immer über die Regierung schimpfen – selbst Teil des deutschen Bürokratiewahns, der eben nicht mit einem Berg auszufüllender Formulare beginnt, sondern mit der Angst, dass unberechtigte Leute dem eigenen Metier ins Gehege pfuschen könnten.

Also werden Normen und Hürden aufgebaut, Prüfungen und Lehrgänge verlangt. Und siehe da: Auf einmal merkt man auch, warum nach Deutschland migrierte Menschen so schwer in den Arbeitsmarkt kommen.

Sie sind nicht faul. Aber sie begegnen – nicht nur auf Ämtern – einer ausgewachsenen Bürokratie des Misstrauens.

Aber Thériault wollte nicht nur die Soziologie eines einzigen Typs Friseursalon in einer einzigen Stadt erkunden und richtig als agierende Friseuse mitbekommen, wie Kunden, Meisterinnen und Kollegen agieren. Deshalb lud sie nicht nur in Erfurt alle möglichen Leute, die sich freiwillig unter ihre Schere begeben wollten, auf ihren Friseurstuhl in einem richtigen Salon mit dem Flair der 1990er Jahre ein.

Ihre Zeit als Stadtschreiberin in Halle nutzte sie dazu, auch dort als Friseurin in existierende Salons zu gehen, und zwar nicht nur alteingesessene, die davon erzählen, wie sehr ein Friseursalon zum Leben eines ganzen Ortsteils gehört. Sondern auch in zwei Barbiershops, in denen junge Leute aus Syrien zeigen, dass es auch völlig andere Kulturen des Barbierens gibt, die das Gewohnte in deutschen Landen aufmischen.

Und obendrauf bot sie auch noch kostenloses Frisiertwerden in einem Hallenser Sozialcafé an, wo die Kundinnen und Kunden schon allein deshalb dankbar sind, weil sie so überhaupt zu einem Haarschnitt kommen, den sie sich sonst überhaupt nicht leisten könnten.

Die journalistische Seite der Soziologie

Und noch während ihres Praxistests veröffentlichte Barbara Thérriault die ersten Ergebnisse ihrer Beobachtungen in Zeitungen und Magazinen in Erfurt, Halle und Kanada. Sodass man auch gleichzeitig mitbekommt, wie journalistisch eigentlich praxisnahe Soziologie ist. Und wie soziologisch Journalismus sein kann, wenn Journalistinnen nicht mit Scheuklappen und lauter Vorurteilen durch die Stadt rennen. Denn Vorurteile machen blind, führen fast immer nur zum selben vorgekauten Ergebnis.

Aber die Menschen, wie sie wirklich sind, kommen in den Texten nicht vor. Und es fehlt fast immer das, was Thériaults Texte immer auszeichnet: Die Neugier auf das, was Menschen so agieren lässt, wie sie agieren. Womit man dann immer wieder auch eintaucht in fast intime Situationen mit Friseurin und Kunde – und gleichzeitig nach und nach lernt, dass diese Intimität trügt, dass Friseure ganz und gar keine Therapeuten sind und das Frisiertwerden ganz bestimmten Regeln unterliegt, die erfahrene Friseurinnen und Barbiere auch respektieren.

Der Friseurstuhl ist im Grunde ein Ort, an dem Kundinnen und Kunden distanzierten und freundlichen Respekt erleben. Auch weil sie hier mit ihrer eigenen Verletzlichkeit und Vergänglichkeit konfrontiert werden.

Und ihre eigenen Grenzen dessen erfahren, was sie sich trauen und was sie sich wünschen. Und das ist ein weites Feld, würde Fontane sagen. Ein Feld, dessen sich auch die Frisierten oft nicht bewusst sind. Wem wollen sie eigentlich gefallen?

Ist es das eigene Bild, das durch die richtige Frisur bestätigt werden soll? Sind es die Erwartungen der Freunde und Bekannten, denen man gefallen will und von denen man Bestätigung wünscht? Oder ist es die Menge auf der Straße, also die Allgemeinheit, in die man sich fügen will, ohne anzuecken oder gar Ablehnung zu erfahren?

Auffallen oder Abtauchen?

Ein spannendes Feld, weil es auch viele Menschen gibt, die gleichzeitig den Wunsch verspüren, tatsächlich aufzufallen, von ihrer Mitwelt besonders wahrgenommen zu werden und endlich mal rauszukommen aus dem bedrückenden Bild, nur einer von Vielen zu sein, die mit der gleichen üblichen Frisur herumlaufen. Da halfen die Tage in den Barbiersalons von Halle, wo Thériault nicht nur bei den um sie herumwuselnden männlichen Kollegen sah, mit welch flotter Hand sie ihren Kunden fesche Frisuren zauberten.

Dort lernte sie auch ihre eigenen Kunden ein bisschen mehr Mut und Extravaganz zuzumuten und wunderte sich durchaus darüber, dass das sogar unverhoffte Effekte haben konnte.

„Am Ende war Andreas mit seinem Haarschnitt zufrieden. Ich auch, ästhetisch, aber nicht nur. Es war, als hätte der neue Schnitt etwas in ihm in Einklang gebracht, eine innere Spannung zwischen dem Ideal der Bodenständigkeit (geordnete Familie, gepflegter Wohnort, gemäßigter Lebensstil) und seinen Wünschen (nach Freiheit und Aufbruch) ausbalanciert.“

Ein schönes Bild. Denn eigentlich erzählen ihre Erfahrungen in den Friseursalons immer von Balance, einer Balance, die auch mit dem Bild zu tun hat, das wir alle von uns haben. Das ja nicht nur das Bild im Spiegel ist, sondern auch das Bild, das wir wahrscheinlich in den Augen anderer abgeben.

Denn so, wie wir (bewertend) auf die Anderen schauen, schauen diese auch auf uns. Der Spiegel im Friseursalon macht das nur allzu deutlich sichtbar – genauso wie unser eigenes Unbehagen mit unserem Aussehen und mit unserem (angeknacksten) Selbstbewusstsein.

Bleib hier

Denn Bodenständigkeit ist auch ein Schutz, ein Versteckspiel. Da müssen wir nicht den Mut aufbringen, das zu suchen, was wir eigentlich gern wären und was wir immer als etwas Fehlendes empfinden. Das Ungelebte in unserem Leben. Und zur Wahrheit gehört eben, dass der ganze grollende Unmut im Osten genau damit zu tun hat: Wer mit den eigenen Erwartungen ans Leben nicht im Reinen ist, der mosert über andere, der versucht, sie mit Normen und Vorwürfen klein zu halten. Natürlich sind das schon lange nicht mehr Thériaults Worte. Sie sind nur die Folge ihrer Beobachtungen.

Zu denen auch die (Beinah-)Begegnungen mit Clueso in Erfurt gehören, der längst einer der beliebtesten Stars aus dem Osten ist. Und das nicht nur, weil er bodenständig geblieben ist und wieder nach Erfurt zurückgekommen ist. Sondern weil er auch Lieder singt wie „Bleib hier“, die letztlich davon erzählen, dass man seine Lebenswünsche nicht erfüllt, wenn man einfach irgendwohin abhaut und dann glaubt, den ganzen Ärger einfach hinter sich gelassen zu haben.

Man nimmt sich ja selber mit. Mitsamt allen Vorstellungen vom Normalsein, seinen Erwartungen und Selbstzweifeln. Warum dann nicht gerade deshalb da bleiben und den Mut haben, wenigstens einen Teil davon mit Leben zu erfüllen? Hier und jetzt? Mit den Leuten, die gern so tun, als würden sie sich gar nichts anderes wünschen als Normalsein und Bodenständigkeit.

Die Bühnen des Lebens

Und diejenigen, die doch alle mit lauter heimlichen Wünschen herumlaufen, sich vielleicht doch mal was zu trauen von dem, was sie schon immer gereizt hat. Und sei es nur eine neue Frisur und ein Outfit, das auch nach außen zeigt, dass man keine Lust mehr hat, immer nur Mauerblümchen, Mitläufer und Angestellter zu sein.

Wohl wissend, dass für das ganze normale Leben mit all seinen Bühnen genau dasselbe gilt wie für jeden Friseursalon: „Wenn ich darüber nachdenke, eigentlich haben wir uns alle gegenseitig beobachtet.“ Die Beobachterin im Friseursalon wurde selbst beobachtet. Aber genau so beobachten wir uns auch alle gegenseitig im täglichen Leben, immer auch darauf gefasst, dass uns die anderen spiegeln und uns – oft durch unscheinbare Gesten oder beiläufige Worte – zu verstehen geben, ob wir akzeptiert werden oder irgendein Detail an uns das Vertraute stört.

Es ist scheinbar nur ein sehr geschützter Ort, den Barbara Thériault hier in vielen kurzen Texten ins Bild rückt. Aber es ist ein Ort, der eine Menge über die Welt außerhalb dieser Orte erzählt, auch über die Städte, in denen Kundinnen und Friseure leben. Und eine Normalität schaffen, die so normal nicht ist.

Die aber gerade in ostdeutschen Städten wie Erfurt und Halle auch damit zu tun hat, Bodenständigkeit zu erzeugen, ein gegenseitiges Vergewissern über das als normal Verstandene. Was manche Leute mit Heimat verwechseln und dann zürnen und wüten, wenn andere Leute das Raster des Normativen ignorieren oder durchbrechen. Und damit Dinge in Bewegung bringen.

Da hat dann jeder selbst die Wahl, im Stuhl der Friseuse seines Vertrauens zu sagen: Probieren Sie doch mal was Neues. Oder vor sich hinzubrummeln: Wie immer.

Na ja, dann ändert sich die Welt trotzdem. Aber man ist dann nicht selbst derjenige, der die Dinge in Bewegung setzt.

Barbara Thériault „Abenteuer einer linkshändigen Friseurin“ Edition Überland, Leipzig 2024, 16 Euro

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