„Du hast deine Sehnsüchte immer in Schweigen gehüllt, hast gedacht, so könnte dich niemand durchschauen, niemand verletzen. Du siehst, nach Jahren versucht dein Sohn, aus deinem Schweigen Literatur zu machen, grübelt, wütet, sucht, verliert …“

Beim Einfangen der Stimme seiner Mutter geraten dem Sohn Dinçer auch immer wieder andere Stimmen ins Netz: die von Millionen türkischen Gastarbeiter*innen, Sexarbeiter*innen, Müttern und vor allem seine eigene Stimme. Denn natürlich ordnet er das Material nicht nur an, er erschreibt es erst in seiner lyrikgeprägten Sprache.

Dinçers Mutter Fatma machte 1966 ihr erstes Passfoto. Vor ihr stehen Jahre der harten Arbeit in Deutschland. Das Geld, das ihr Mann verspielt, verschenkt, aus dem Fenster wirft, holt sie mit mehreren Jobs wieder rein. Sie klopft bei den Schuldnern an die Haustür und hört sich an, dass sie als Frau nach Hause gehen und sich um ihre Familie kümmern soll.

Eine schwere Geburt

„Und wenn dieser ganze Zirkus mir missfällt, ist eine Rückreise möglich?“, fragt Dinçer noch vor seiner Geburt. Dabei wünscht sich Fatma Kinder um alles in der Welt.

Als er noch ganz jung ist, versteckt Dinçer sich im Auto der Mutter, um mit ihr zur Arbeit zu fahren und Geld für die Familie zu verdienen. Die jährlichen Reisen in die Türkei machen seine Mutter zu einem anderen Menschen. Ob er diese Frau mag, weiß er nicht.

Dinçer Güçyeter gehört zur Generation der Kinder, die sich eine Stimme erkämpft und erschrieben haben. Dafür hat er keine klassische Form gewählt, wie Fatma Aydemir mit ihrem Familienroman „Dschinns“. Viele Stimmen aus unterschiedlichen Zeiten versammelt Dinçer in dem Versuch, seiner Mutter eine Stimme zu geben.

Gerade zu Anfang des Buchs scheinen diese Stimmen eher wie Geister. Der*die Leser*in kann verloren gehen, die Richtung verlieren, bis sich der Handlungsfaden von Dinçers Aufwachsen in Deutschland herauskristallisiert. Die Sprache fungiert dann mehr als Träger und stellt sich weniger selbst in den Vordergrund.

Güçyeters lyrische Sprache baut ein Konstrukt aus Stimmen, fragil wie ein Kartenhaus.

Raum für Gefühle

„Geh und wasch dir dein Gesicht, hör auf, wie ein Weib zu flennen, blamiere mich nicht vor dem Volk, hab hier genug zu tun. Wasch dein Gesicht, nimm dir einen Sack und sammle das Besteck zusammen. Hast du mich verstanden, Ende der Rede!“

So tadelt Fatma ihren Sohn. Er weint, weil er die Kuh im Stall nach ihrem Kalb rufen hört, das gerade geschlachtet wurde. Dinçer gibt sich nicht den geforderten Männlichkeitsidealen hin, kann es vielleicht auch gar nicht. Fremd scheint er in jeder Welt.

Stark bleiben diese Szenen in Erinnerung und gleichzeitig immer etwas verschwommen. Wie Erinnerungen, die sich nicht mehr wie in Fotos festhalten lassen. Die sich aus imaginären Gesprächen zwischen Mutter und Sohn zusammensetzen.

Vor allem zum Ende nimmt Dinçers Versuch des Schreibens überhand. Wir schauen dem Ich-Erzähler dabei zu, wie er grübelt, wütet, sucht und verliert. Eher wie ein Tagebuch wirkt das Geschriebene, als wie etwas, das für die Öffentlichkeit gedacht ist.

Menschen, die als Weiße in Deutschland aufgewachsen sind, werden immer wieder mit der eigenen Verständnislosigkeit konfrontiert werden: Warum dieses ewige Suchen nach einer Stimme? Warum schreibst du nicht einfach? Oder: Du schreibst doch schon, was denn noch?

Da sollte man sich dann um Empathie bemühen, denn: Als der Gabelstaplerfahrer, Dichter und Verleger Dinçer Güçyeter bei der Verleihung des Peter-Huchel-Preises seine Gedichte las, weinten die Menschen. Insa Wilke schreibt, dass nun endlich der Raum geöffnet worden sei, um die vielen Jahre zu trauern, in denen man keinen Raum für Gefühle gehabt hätte.

Dinçer Güçyeter „Unser Deutschlandmärchen“, Mikrotext, Berlin 2022, 25 Euro.

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