Den im Dezember vorgelegten Quartalsbericht nutzten die Autor/-innen des Amtes für Statistik und Wahlen, um einmal intensiv zu beschreiben, wie verzwickt es in Leipzig doch ist, belastbare Bevölkerungsvorausschätzungen zu erstellen. Aber die Verwaltung braucht die, um einigermaßen realistisch ihre Investitionen zu planen. Nun liegen die neuen Schätzungen vor. Aber die zunehmende Unsicherheit in der Welt kalkulieren sie nicht ein.

Auch wenn ein recht großes Expertenteam die Leipziger Statistiker jedes Mal berät und seine Einschätzung abgibt, wie belastbar die errechneten Varianten sind. Es bleibt trotzdem ein Rätselraten, das von vielen Faktoren abhängt.

Etwa der Frage, ob in Leipzig in den nächsten zehn Jahren tatsächlich 32.000 neue Wohnungen gebaut werden oder nur 24.000. Oder noch weniger, weil Baupreise und Nachfrage einfach nicht mehr zusammenpassen.

Großes Fragezeichen: Klimakrise

Hat Leipzig in den nächsten Jahren 30.200 Zuzüge pro Jahr oder nur 27.100 Zuzüge? Und wie entwickelt sich die Geburtenzahl? Oder bleibt sie so niedrig, dass jedes Jahr mehr Menschen sterben, als geboren werden?
Und das sind wenigstens Zahlen, mit denen gerechnet werden kann.

Überhaupt nicht berechenbar ist, wie viele Menschen aufgrund von Klimakrise und Heimatverlust nach Deutschland kommen werden. Oder ob die neuen europäischen Regelungen dafür sorgen, dass sie alle in Tunesien festhängen oder im Mittelmeer ertrinken.

Denn Fakt ist: Leipzig wächst nicht aus eigener Kraft. Dazu werden viel zu wenige Kinder geboren. Der Zuwachs der Bevölkerungszahl resultiert ganz allein aus Zuwanderung.

Dabei haben Leipzigs Statistiker nicht nur das Jahr 2030 im Blick, sondern inzwischen auch das Jahr 2040. Und da ist tatsächlich die Frage, ob die Messestadt dann schon wieder schrumpft, weil alle Grenzen dichtgemacht werden und junge Frauen erst recht das Kinderkriegen verweigern, weil die Klimakatastrophe immer spürbarer zuschlägt.

Entwicklung der Leipziger Geburtenzahlen. Grafik: Stadt Leipzig, Bevölkerungsvorausschätzung 2023
Entwicklung der Leipziger Geburtenzahlen. Grafik: Stadt Leipzig, Bevölkerungsvorausschätzung 2023

So ein Grundgefühl müssen die Beteiligten an der neuen Hochrechnung jedenfalls gehabt haben. Denn die noch vor wenigen Jahren für möglich gehaltenen 720.000 Einwohner tauchen in der Prognose nicht mehr auf.

„Die Bevölkerungsvorausschätzung 2019 erwartete für das Jahr 2040 circa 665.000 Einwohner/-innen. Am aktuellen Rand wurden für 2020 rund 610.000, für 2021 rund 615.000 und für 2022 rund 620.000 Einwohner/-innen erwartet. Die reale Bevölkerungsentwicklung dieser ersten Prognosejahre blieb jedoch hinter diesen Erwartungen zurück, sogar die Werte der unteren Prognosevariante wurden verfehlt“, geht die Vorlage für den Stadtrat auf die Entwicklung der letzten drei Jahre ein.

„Hierbei spielte der allgemeine Rückgang des Wanderungsgeschehens aufgrund der COVID-19-Pandemie eine entscheidende Rolle. Insbesondere die internationale Fachkräftemigration kam in Folge der Lockdowns weit­gehend zum Erliegen. Das prägende Ereignis für die Bevölkerungsentwicklung in Leipzig des Jahres 2022 war der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf den Nachbarstaat Ukraine am 24. Februar 2022. Bereits wenige Tage nach Ausbruch des Krieges erreichten die ersten Geflüchteten Leipzig. Zum Jahresende 2022 betrug der Wanderungsgewinn durch aus der Ukraine geflohene Menschen rund 9.800 Personen, sodass das Niveau des oberen Szenarios nur knapp unterschritten wurde.“

Die Vorlage für den Stadtrat zur Bevölkerungsvorausschätzung 2023.

Eigentlich ein deutlicher Hinweis darauf, wie schnell eine einzelne Katastrophe dafür sorgen kann, dass Leipzig sprunghaft mehr Menschen aufnehmen muss. Und die Folgen des Klimawandels werden dafür sorgen, dass es solche Krisen und Konflikte künftig noch mehr geben wird.

Das kommende Geburtendrama

Und gleichzeitig geht die eigene Jugend verloren, nicht nur, weil sie gegen die Klimazerstörung der Alten mit Klebeaktionen auf den Straßen protestiert.

Viele junge Frauen wollen im Angesicht dessen, was an Klimaextremen auf die Kinder und Enkel zukommt, jetzt keine Kinder mehr.

Das steckt dann in der Geburtenziffer, die in Teilen auch einen letztlich familienunfreundlichen Arbeitsmarkt spiegelt, um es einmal freundlich auszudrücken.

„Das Fertilitätsniveau – beschrieben über zusammengefasste Geburtenziffer – lag 2016 noch bei 1,47 Kindern je Frau und 2017 bei 1,45 Kindern je Frau. Bis zum Jahr 2022 sank das Fertilitätsniveau sehr stark ab, und zwar auf 1,19 Kinder je Frau. In der Bevölkerungs­vorausschätzung 2019 wurde jedoch das Niveau der Jahre bis 2017 fortgeschrieben“, heißt es in der Vorlage.

Was zumindest sehr zuversichtlich klingt im Angesicht der Tatsache, dass niemand sich wirklich mit den Ursachen der zunehmenden Geburtenzurückhaltung beschäftigt. Als wolle man das gar nicht wissen, weil die jungen Frauen möglicherweise Dinge sagen würden, die in die Vorstellungen heutiger Sozialpolitik nicht passen.

„Aufgrund der dargelegten Sondereffekte und der Fehlannahmen zur Fertilität war eine Neuerstellung der Bevölkerungsvorausschätzung für eine valide und evidenzbasierte Planung dringend empfohlen“, heißt es in der Vorlage. Aber was nutzt das, wenn man nicht weiß, warum Frauen immer weniger Kinder bekommen wollen?

Kein Wachstum mehr aus eigener Kraft

Aber einen Effekt hat es schon einmal: Denn die weiter wegschmelzenden jüngeren Jahrgänge bedeuten nun einmal, dass es auch künftig immer weniger Kinder gibt und Leipzigs Bevölkerung irgendwann sogar trotz Zuwanderung stagnieren dürfte.

„Das Ergebnis dieses Annahmensets führt zu einer erwarteten Gesamtbevölkerung im Jahr 2040 von 623.200 Einwohner/-innen in der unteren Variante und 697.700 Einwohner/-innen in der oberen Variante“, fasst das Amt für Statistik und Wahlen die neue Hochrechnung zusammen.

„Dieser Korridor der erwarteten Entwicklung wird im Wesentlichen durch die Experten­annahmen zum zukünftigen Wanderungsgeschehen bestimmt. In einem verwaltungsinternen Workshop am 10.02.2023 haben die beteiligten Ämter der Verwaltung eine für sie am wahrscheinlichsten erachtete Hauptvariante festgelegt. Diese Festlegung folgte entlang der quantitativen und qualitativen Zukunftserwartungen der Expertinnen und Experten. Im Ergebnis des Workshops konnte ein Konsens erzielt werden, der die Hauptvariante der Bevölkerungsvorausschätzung 2023 im Jahr 2040 bei circa 664.000 Einwohner/-innen positioniert.“

Für 2030 nimmt die Hauptvariante eine Einwohnerzahl von 639.100 Leipziger/-innen an. Leipzig würde also deutlich langsamer wachsen als bislang angenommen – im Schnitt um 2.500 Einwohner pro Jahr.

„Für das Jahr 2040 wird in der Hauptvariante eine um rund 1.000 Personen niedrigere Einwohnerzahl erwartet als in der Bevölkerungsvorausschätzung 2019 prognostiziert“, heißt es weiter in der Vorlage der Stadt.

„Aufgrund der an die Entwicklung der vergangenen vier Jahre angepassten Annahmen wird sich die demografische Struktur dieser Bevölkerung jedoch deutlich von den Erwartungen der Bevölkerungsvorausschätzung unterscheiden. Die Erwartungen für die obere Variante liegen im Jahr 2040 um rund 15.000 Personen niedriger als im entsprechenden Szenario der Bevölkerungsvorausschätzung 2019, in der unteren Variante liegt die Differenz bei rund 23.000 Personen.“

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