Wie kam es eigentlich zu den sogenannten „Strukturermittlungen wegen des offenbar unbegründeten Verdachts der Bildung einer kriminellen Vereinigung gegen Personen der linken Szene und der Fußballszene in Leipzig“ in den Jahren 2013 und 2014? Die Grünen haben ja auf ihren Beschlussantrag zu diesem dubiosen Vorgang eine recht ausführliche Auskunft der Staatsregierung bekommen. Aber: Was erklärt die eigentlich?

Das Ausmaß der 2013 und 2014 angeordneten Überwachungsmaßnahmen ist inzwischen klar: „lm Rahmen dieser Ermittlungen wurde aufgrund von insgesamt 26 Beschlüssen nach § 100a Strafprozessordnung (StPO) die Telekommunikation von neun Beschuldigten überwacht. Dabei wurden 56.118 Verkehrsdatensätze und 838 Bestandsdatensätze erhoben. Allein zu einem Beschluss fielen 11.900 Datensätze an, die Kommunikationsdaten hierzu umfassten 23.907 Seiten. Betroffen davon waren mindestens ein Rechtsanwalt als Berufsgeheimnisträger und zwei Journalisten. Zudem wurden Funkzellendaten mit 68.925 Verkehrsdaten erhoben, Verkehrsdaten eines Routers abgefragt, Mobilfunk- und Standortdaten ermittelt und mindestens vier Beschuldigte observiert. Nur 177 Personen wurden nach Abschluss der Ermittlungen benachrichtigt.“ So die Grünen mit dem Kenntnisstand vor der Stellungnahme der Staatsregierung.

Alles unter der Mutmaßung, man habe es bei einer Gruppe von immer wieder gewalttätig auffällig werdenden Leipziger Anhängern der eher linken Fußballszene mit einer kriminellen Vereinigung zu tun. Der Tatbestand steht seit 1871 im Strafgesetzbuch. Grundvoraussetzung ist, dass ganz bewusst eine Vereinigung gegründet wird „deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Straftaten zu begehen“. Also eine richtige kriminelle Bande – egal, ob sie nun planmäßig Diebstähle und Einbrüche durchführt oder terroristische Gewaltakte plant.

Aber schon in der wilhelminischen Zeit wurde der Paragraph gedehnt und gestreckt, denn wenn man den möglichen Tätern allerlei Absichten unterstellt, dann wird aus dem Paragraphen ein Gummiparagraph. Deswegen wurde § 129 auch gleich mal gegen die Sozialdemokraten angewendet. Man muss nur staatlicherseits den Verdacht haben, die Sozis wollten das schöne Kaiserreich umstürzen. Deswegen sind die Verurteilungen von Sozialdemokraten nach § 129 unterm Bismarckschen Sozialistengesetz genauso Legion wie die Verurteilungen nach dem Hochverratsparagraphen.

Und dass die deutsche Justiz auch ein paar Generationen später so tickte, zeigen die „über 100.000 Ermittlungsverfahren und etwa 10.000 Verurteilungen wegen Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung“ (Wikipedia) gegen Kommunisten und Wiederaufrüstungsgegner in der frühen Bundesrepublik.

Es darf also schon verblüffen, dass ein solches Verfahren in Leipzig überhaupt angestrengt wurde. Erst recht, nachdem ein erster Versuch, mit einer derart flächendeckenden Datenerhebung eine kriminelle Vereinigung erst einmal zu finden, schon einmal gescheitert ist: „Bereits 2010 wurde ein ähnliches Verfahren gegen eine sog. ,Antifa-Sportgruppe‘ geführt und nach vier Jahren erfolglos eingestellt“, stellen die Grünen fest. „Aufgrund dieser Ermittlungen wurden 25 Beschuldigte und eine Vielzahl unbeteiligter Dritter überwacht, über eine Millionen Verkehrs- und 57.960 Bestandsdaten erhoben und in 7l gerichtlichen Einzelbeschlüssen Telefone abgehört, Beschlagnahmen und Durchsuchungen vorgenommen und Personen observiert. Zudem wurden die Erkenntnisse in fünf weiteren Verfahren verwendet.“

Man hatte einen enormen Überwachungsaufwand betrieben, ohne einen wirklich belastbaren Anfangsverdacht zu haben, dass bestimmte verifizierbare Leute sich zusammengetan haben, um gemeinsam Straftaten zu begehen.

Die Staatsanwaltschaft – bzw. die Staatsregierung – betonen zwar, dass sie einen solchen begründeten Verdacht hatten.

Aber gerade weil die Regierung nun auch die ganze Liste der Straftaten, von denen die wenigsten miteinander zusammenhängen, herausgegeben hat, wird im Grunde deutlich, dass man eigentlich derart umfassend Daten gesammelt und Telefongespräche mitgehört hat, um die Vermutung, es könnte sich um eine kriminelle Vereinigung handeln, überhaupt erst einmal zu bestätigen. Der Wunsch, derartige Hinweise überhaupt erst einmal zu finden, war so groß, dass man auch nicht davor zurückschreckte, Telefongespräche mit Journalisten, Ärzten, Rechtsanwälten und einem Sozialarbeiter mitzuschneiden und zu protokollieren. Und auch noch teilweise zwei Jahre aufzuheben – bis zum Dezember 2016, als man nach Auswertung der gigantischen Datenberge zu der Erkenntnis kam, dass es das, was man suchte, nicht gab.

Zwei Jahre Auswertungsarbeit für einen vagen Verdacht?

Da ist man geneigt, Asterix zu zitieren.

Es gibt eine Gruppe von Einzeltätern, einige nicht mehr als Mitläufer, nur ganz wenige immer wieder auffällig mit gewalttätigen Übergriffen in einem Leipziger Fußballmilieu, in denen eine Club-Anhängerschaft gern mit einer politischen Gesinnung verknüpft wird.

Um irgendwie einen Grund zu haben, 26 Überwachungsmaßnahmen anzuordnen, brauchte man ein Konstrukt. Das klingt in der Stellungnahme der Staatsregierung so: „Die jeweilige professionelle Vorbereitung und Tatdurchführung sowie die aufgewendete erhebliche kriminelle Energie lassen den Schluss zu, dass die Straftaten durch Vereinigungen von organisierten kriminellen Gewalttätern begangen wurden. Die nachdrückliche Verfolgung solcher gemeingefährlicher Straftaten ist zur Verteidigung der Rechtsordnung zwingend geboten.“

Man hat sich also selbst mit Worten regelrecht angestachelt, einen solchen Vorgang auszulösen, der eigentlich eher dazu geeignet ist, einer echten terroristischen Vereinigung oder einer wirklich Organisierten Kriminalität auf die Schliche zu kommen.

Man hat Framing betrieben. Ganz unübersehbar: Man hat einfach Worte wie „professionell“, „erhebliche kriminelle Energie“, „organisierte kriminelle Gewalttäter“ und „gemeingefährlich“ benutzt, die eine regelrechte Mafia-Struktur suggerieren und vor allem Täter, denen alles zuzutrauen ist. Man hat die Fußballkrawallos, die ihr Mütchen an fußball-politisch Andersdenkenden ausließen, zu kriminellen Profis aufgeblasen. Augenscheinlich reicht das völlig, um dieselben Fehler wie 2010 noch einmal zu machen und vier Jahre und jede Menge Arbeitsaufwand darauf zu verwenden, einer kleinen Gruppe gewaltaffiner Fußballanhänger den Verdacht nachweisen zu wollen, sie wären eine gesellschaftsgefährdende kriminelle Organisation – so etwas wie die RAF oder so. Statt die Ermittlungen zu den einzelnen Straftaten einfach individuell zu Ende zu führen.

Das Ergebnis beim Vorgang „Antifa-Sportgruppe“ sieht nämlich so aus, wie die Staatsregierung nun mitteilen muss: „Die mitgeteilten Zahlen sind zwar zutreffend. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass das betreffende Verfahren lediglich gegen fünf Beschuldigte mangels hinreichenden Tatverdachts gemäß S 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden ist. Demgegenüber erfolgte hinsichtlich 18 Beschuldigter eine Einstellung gemäß § 153 Abs. 1 StPO wegen geringer Schuld und hinsichtlich zweier weiterer Beschuldigter nach § 154 Abs. 1 StPO, da die zu erwartenden Strafen aufgrund der wegen anderer begangener schwerer Straftaten zu erwartenden oder verhängten Strafen nicht beträchtlich ins Gewicht fielen.“

Dass man daraus nichts gelernt hat, belegt die Aussage, mit der jetzt die neuerliche groß angelegte Datenerhebung begründet wird: „Im Zeitraum zwischen 2012 und 2014 häuften sich in Leipzig Überfälle und Angriffe auf Personen, die augenscheinlich allein wegen einer bekannten oder vermuteten rechten politischen Orientierung Opfer von teils schwerwiegenden Straftaten wurden. Die Aufnahme von Ermittlungen wegen dieser Straftaten auch hinsichtlich eines möglichen Organisationsdeliktes war daher geboten.“

Da darf man natürlich fragen: Deutet eine Häufung von Straftaten schon auf eine kriminelle Vereinigung hin? Man merkt schon, wie hier am Gummi gezogen wird. Denn dann reicht es schon, bestimmte Straftaten nach einem Muster auszuwählen und zusammenzustellen – und schon hat man sich quasi selbst den Verdacht auf eine Kriminelle Vereinigung gegeben. Man hat ihn quasi selbst geschaffen.

Was übrigens der Verweis auf die ellenlange Straftatenliste etwa der rechtsradikalen Terrorgruppe Freital bekräftigt. Kern der Gruppe waren ein paar junge Männer mit einer rechten Gesinnung mit einer Latte von kleinen Straftaten vom Betrug bis zur Schlägerei. Aber diese Latte von Straftaten brachte keinen einzigen Staatsanwalt auf den Gedanken, es hier mit einer kriminellen Vereinigung zu tun zu haben. Das kam erst, als sich herausstellte, dass sich diese Männer gezielt zu Anschlägen auf Ausländer und Asylunterkünfte verabredet haben.

Unübersehbar messen sächsische Staatsanwaltschaften hier mit zweierlei Maß.

Deswegen bekommt man ein ziemlich flaues Gefühl, wenn die Staatsregierung weiter erklärt: „Die hinreichend sichere Ermittlung krimineller Vereinigungen, insbesondere die Zuordnung konkreter Taten zu der Vereinigung, erfordert einen erheblichen zeitlichen und kriminalistischen Aufwand. Es handelt sich regelmäßig um äußerst komplexe Verfahren. Sobald sich ein Anfangsverdacht ergibt, ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, die entsprechenden Ermittlungen durchzuführen.“

Wo aber ist in der Latte der aufgezählten Straftaten dieser Anfangsverdacht?

Er ist schlicht nicht da. Man hat viele einzelne Straftaten vor sich, bei denen die Täter mal einzeln, mal in der Gruppe gegen den mutmaßlichen politischen Gegner vorgingen – Vorkommnisse übrigens, von denen die sächsische Polizei jedes Jahr hunderte registriert. Sie machen den Kern der Berichterstattung zur „Politisch motivierten Kriminalität“ rechts bzw. links aus.

Aber nirgendwo findet sich ein Ansatz, der für eine Organisation hinter all den Taten steht.

Und das wirft natürlich jede Menge Fragezeichen auf, wenn die Regierung gleich in der Stellungnahme ankündigt, dass man solche sinnfreien Datenabfischungen auch künftig organisieren will: „Auch bei zukünftigen Ermittlungsverfahren, deren Gegenstand der Verdacht der Bildung einer kriminellen Vereinigung ist, wird zu Beginn der Ermittlungen regelmäßig nicht abzuschätzen sein, ob die am Ende des Ermittlungsverfahrens gewonnenen Erkenntnisse ausreichen, um einen hinreichenden Verdacht zu begründen und Anklage zu erheben. Dieser Umstand darf aber unter Geltung des Legalitätsprinzips bei einem gegebenen Anfangstatverdacht nicht zu einem Unterlassen von Ermittlungen führen. Dies gilt umso mehr im Bereich möglicher extremistischer Straftaten.“

Aber die Verhältnismäßigkeit muss gewahrt bleiben. Wer so weitreichende Überwachungsmaßnahmen anordnet, muss einen begründeten Verdacht haben, es tatsächlich mit einer kriminellen Vereinigung zu tun zu haben. Aber alles reduziert sich auf die schwammige Aussage, dass die „Staatsanwaltschaft infolge des durch bestimmte Tatsachen und eine Vielzahl von teils schweren Einzelstraftaten begründeten Anfangsverdachts aufgrund des Legalitätsprinzips verpflichtet war, entsprechende Ermittlungen zu führen.“

Die „bestimmten Tatsachen“ aber werden nicht mitgeteilt. Worin bestehen die? – Und damit tun sich erst recht jede Menge Fragen auf, warum über zwei Jahre derart viel Personal (man denke nur an die monatelange Observation von vier Verdächtigen), Material und Zeit darauf verwendet wurden, die Indizien für eine kriminelle Vereinigung zu suchen, die dann nach weiteren zwei Jahren Auswertung einfach nicht zu finden waren.

Die Stellungnahme der Staatsregierung wirft noch viel mehr Fragen zur Verhältnismäßigkeit des Verfahrens auf, als vorher schon bestanden. Und die Vorwürfe der Grünen werden durch die Stellungnahme im Grunde nur bestätigt.

Das Ergebnis dieser aufwendigen Aktion, die eigentlich eher für richtige Organisierte Kriminalität angebracht wäre: „Im vorliegenden Fall haben die Ermittlungen zwar letztlich keinen hinreichenden Tatverdacht einer Straftat nach § 129 StGB ergeben. Dieser Umstand allein besagt jedoch nichts darüber, dass die Annahme des zur Anordnung nach §§ 100a, 163f StPO erforderlichen Tatverdachts von vornherein unzutreffend gewesen sei.“

100a ist der Paragraph zur Telekommunikationsüberwachung, 163 f der zur längerfristigen Observation.

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