Man mag's kaum glauben (oder nicht wahrhaben wollen), aber ein gepflegtes Schwarz-Weiß-Denken hat auch seine Vorteile. Genau wie das Erheben und Auswerten von „racial data“. Das mag bei einigen zu Schnappatmung führen, und zwar umso mehr, als dass das Wörtchen „Schnappatmung“ inzwischen selbst – wie ich gerade zu meinem nicht unwesentlichen Bedauern festgestellt habe – als neurechter Terminus gilt, aber was macht's.
(Muss ich eigentlich, wenn sich die Rechten alle Begriffe geschnappt haben, als Linker verstummen?) Keine Ahnung. Aber mir auch egal. Sollen die geistigen Schnappfrösche doch im Kopf hyperventilieren und über ihren leergeräumten Wörterbüchern verstummen, ich schreibe in Ruhe weiter mein Tagebuch und schaue – in der tiefsten sächsischen Provinz sitzend – rüber in die USA, wo sich das Coronavirus vor allem die Schwarzen holt.
Zwar ist das Bild aufs Ganze gesehen noch ziemlich löchrig, aber die ersten Daten geben schon mal einen Eindruck davon, wie sich die Einschläge und Kerben verteilen. Ein paar Zahlen mögen genügen. In Chicago sind 30 % der Einwohner Afroamerikaner, aber sie stellen 68 % der Corona-Toten. Im Bundesstaat Louisiana beträgt der Anteil der Afroamerikaner 33 %, aber bei den Corona-Toten schnellt der Prozentsatz auf 70 % hoch. In St. Louis sind es sogar volle 100 %.
Auffällig ist, dass der Überhang bei den Infiziertenzahlen um einiges geringer ausfällt, aber besonders viele Afroamerikaner an einer Coronainfektion sterben. Auch hier reichen ein paar Zahlen zur Illustration. Im Bundesstaat Illinois machen Afroamerikaner 15 % der Bevölkerung aus. Bei der Zahl der Infizierten erhöht sich ihr Anteil auf 28 % und bei den Toten sogar auf 43 %. Das Gleiche gilt für Michigan: 14 % Bevölkerungsanteil stehen 27 % Infizierte und 43 % Tote gegenüber.
Kein Wunder, dass der Ruf nach „racial data“ in den USA mit jedem Tag lauter wird, wobei es nicht nur die politischen Vertreter der Afroamerikaner sind, die ihn vortragen, sondern auch Trumps oberster Epidemie-Berater Anthony Fauci und Trump selbst nach solchen Daten verlangen.
(Als ich vor einigen Tagen zum ersten Mal vom Wunsch nach „racial data“ las, musste ich übrigens an diejenigen denken, die hierzulande laut „Rassismus!“ rufen, wenn die Zeitungen die Nationalität von Tatverdächtigen nennen. Noch so eine Ironie der Geschichte, die Corona ans Tageslicht bringt, wie sich überhaupt die gesamte Coronakrise als eine traurige Ironie von historischem Ausmaß (be-)schreiben lässt. Dieses Tagebuch hier ist inzwischen voll solcher Einträge, und es wäre ein Leichtes, noch mehr Fälle aufzuzählen, in denen sich die Geschichte an der Gegenwart rächt.
Zum Beispiel könnte ich darüber berichten, dass insgesamt drei verschiedene US-Behörden im Juli, September und Oktober 2019 umfangreiche Pandemie-Szenarien erstellt, vor den Gefahren einer massiven Virenausbreitung gewarnt und die aktuellen Entwicklung detailliert vorhergesagt haben. Nur hat leider kaum jemand Notiz von den Berichten genommen, und die paar Leute, die sie gelesen haben, haben sie offenbar als dystopische Fiktionen von Bürohengsten abgetan, mit denen die Fantasie durchgegangen ist.)
Aber gut, das ist eine andere Geschichte, und hier und heute geht es nicht um Vorhersagen, sondern um das erste Zwischenfazit einer Pandemie, die noch in vollem Gange ist und in den USA von einem traurigen Rekord zum nächsten eilt und dabei vor allem in die afroamerikanischen Gemeinschaften Lücken reinschlägt. Aufs gesamte Land gesehen ist der Prozentsatz der Schwarzen an den Corona-Toten jedenfalls zwei bis drei Mal so hoch wie ihr Bevölkerungsanteil.
Das hat vor allem historische Gründe, denn der Rassismus hat sich über die Armut in die Körper geschrieben. Der generelle Gesundheitszustand der Schwarzen ist überdurchschnittlich schlecht, zudem sind sie besonders oft von schweren Vorerkrankungen betroffen. Asthma und Diabetes finden sich unter afroamerikanischen Erwachsenen häufiger als unter Weißen – und enden noch öfter fatal.
Und da hilft es auch nichts, wenn man sich aus der Armut befreit und über die Karriereleiter aus der Vergangenheit zu klettern versucht. Selbst Jerome Adams, der als Surgeon General das operative Geschäft des United States Public Health Service führt, hat erklärt, an Bluthochdruck und Asthma zu leiden. Außerdem habe er eine Herzschwäche und sei diabetesgefährdet, weshalb Adams zu dem Schluss kam: „An mir sieht man, wie es ist, in Amerika arm und schwarz aufzuwachsen.“
Die Worte waren nicht nur als Klage, sondern auch als Warnung gedacht, denn Adams hat sich mit ihnen ganz besonders an die Afroamerikaner gewandt und ihnen immer wieder erklärt, dass sie mit ihren Vorerkrankungen mehr als andere gefährdet sind. Und die Statistik der Corona-Toten mit Vorerkrankungen gibt ihm darin recht.
Aber da ist noch mehr, denn bereits vor der Pandemie und das heißt: noch bevor die Arbeitslosenzahlen in die Höhe geschossen sind, waren fast 10 % der Afroamerikaner nicht krankenversichert, während es bei Weißen nur rund 5 % waren.
Diese Zahlen sind inzwischen deutlich gewachsen, und die Lücke ist noch größer geworden. Zudem haben zahlreiche Studien gezeigt, dass Schwarze in den USA seltener zum Arzt gehen als Weiße bzw. sich erst deutlich später ärztliche Hilfe holen, was auch daran liegt, dass ihre Beschwerden vom medizinischen Personal oftmals nicht ernst genug genommen werden, wobei besonders afroamerikanische Frauen davon betroffen sind. Man könnte auch sagen: In ihnen kommen die drei großen Ungleichheitsdeterminanten des amerikanischen Gesundheitssystems – Ethnizität, Geschlecht und Klasse – wie in einem Brennglas zusammen.
Doch zurück zu Corona, wo sich die afroamerikanische Herkunft auch in den prekären Beschäftigungsverhältnissen niederschlägt. Viele Schwarze arbeiten in Berufen, in denen es kein Home Office gibt. Sie sind Kassiererinnen, Verkäuferinnen, Krankenpfleger, Kindermädchen oder arbeiten als Fahrer in Bussen und Bahnen. (Wer genau wissen will, wie sehr die Herkunft die Möglichkeiten des Home Office bestimmt, kann im Bureau of Labor Statistics nachschauen und dazu noch den Tagebucheintrag vom 29. März lesen).
Hier und heute genügt ein Zitat des Bürgermeisters von Brooklyn, der mit Blick auf die Unterschiede vor wenigen Tagen festgestellt hat: „Alles, was man tun muss, ist, am Bahnsteig zu stehen, und schon sieht man die Züge voller Schwarzer und Hispanics, die zur Arbeit kommen, um die Serviceleistungen für jene bereitzustellen, die von zu Hause aus arbeiten können.“
Wobei das Narrativ von den Schwarzen, die durch die gesellschaftlichen Umstände zu Opfern werden, auch nicht über die empirischen Befunde hinweg strapaziert werden darf (wozu leider fast alle Berichte neigen). Das gilt fürs große Ganze wie fürs kleine Konkrete, denn Fakt ist, dass viele Schwarze Corona anfangs als ein Problem der Weißen angesehen haben. Nicht nur, weil die Medien zunächst vor allem weiße Infizierte gezeigt haben, sondern auch, weil die Erkrankten tatsächlich überwiegend weiß waren. Aber das lag vor allem daran, dass sie besonders häufig im Ausland waren und durch ihre Reisen das Virus in die USA mitgebracht haben.
Die Armut, so könnte man sagen, hat den Blick auf die Möglichkeiten des Reichtums verstellt. Und dann auch zu spät erkannt, dass das „weiße“ Virus innerhalb der USA aus sozialen, ökonomischen und kulturellen Gründen binnen weniger Tage zu einem „schwarzen“ mutiert ist. Wobei der Irrglaube, Schwarze seien immun gegen Corona, die Ausbreitung weiter befeuert hat. Dass dieser Irrglaube wiederum selbst auf sozialen Gründen, Verschwörungstheorien und historischen Fehleinschätzungen beruht (die Schwarzen waren angeblich 1918 gegen die Spanische Grippe immun, was nicht stimmt) ist dabei eine andere Geschichte.
Eine, die auf die Historizität der Historie selber verweist, wobei auch hier die Ironie eine Rolle spielt, denn ursprünglich scheint ein guter Teil dieses „Die Schwarzen sind immun gegen Corona“-Quatschs tatsächlich als Witz gemeint gewesen zu sein, nur wurde er eben anders wahrgenommen und von vielen als ausgleichende Gerechtigkeit Gottes gedeutet.
„Es ist das mindeste, was Gott nach den Leiden der Sklaverei tun kann.“ So lautete der Tweet einer jungen Afroamerikanerin, der allein auf ihrem Twitter-Account mehr als 50.000 Mal geteilt worden ist. Corona ist eben auch die erste Pandemie, die den globalen Norden im Zeitalter von Social Media erreicht. Die Auswirkungen merken wir jetzt schon – und werden sie wohl auch noch lange nach dem Ende der Pandemie zu spüren bekommen. Und das, obwohl die aktuell rund 100.000 Toten nur 0,2 % derjenigen ausmachen, die vor hundert Jahren an der Spanische Grippe starben.
Aber die sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Auswirkungen werden, so steht zu vermuten, ungleich größer als damals sein. Aufs Ganze gesehen wird die Pandemie die bestehenden Ungleichheiten wohl weiter verstärken, und in den USA dürften besonders die Afroamerikaner davon betroffen sein.
Wobei auch in diesem Fall der Glaube bzw. die Kirche eine nicht unwesentliche Rolle spielt oder zumindest gespielt hat. Denn während die weißen evangelikalen Führer politisch noch näher an Trump rangerückt sind und ihre Predigten schon seit Wochen im Netz übertragen, sind viele schwarze Prediger weiter raus auf die Straßen gegangen, um zu ihren Leuten zu sprechen. Manche von ihnen haben das mit dem Leben bezahlt.
Und dann ist da noch der Umstand, dass sich eine ganze Reihe afroamerikanischer und hispanischer Prediger über die Ausgeh- und Versammlungsverbote hinweggesetzt und noch Ende März Gottesdienste abgehalten haben.
Ein übersteigertes amerikanisches Freiheitsideal, „schwarzer“ Protest gegen „weiße“ Anordnungen, die Vermutung, von den als rassistisch empfundenen Behörden erneut verfolgt zu werden, eine spezifische Form der Religiosität und der Glaube, dass die Kirchen der einzig sichere Platz seien, haben hier einen perfekten Nährboden für das Virus gebildet.
Diese Pandemie wirkt wie ein Brennglas.
Während die Virologen unter ihren Mikroskopen die Erreger betrachten, müssen alle anderen eigentlich nur die Augen aufmachen. In Corona-Zeiten ist alles ins Riesenhafte gesteigert. Die Abhängigkeiten werden klar, die Linien entwirren sich, die Gesellschaft splittert sich von innen her auf. Pandemien sind nicht nur medizinische Notzeiten und historische Forschungsobjekte, sie sind – im schlimmsten Falle – auch eine Art Bruchstellenverstärker, die die Natur und der Mensch dem Leben eingebaut haben.
Weil die Natur aber nicht demokratisch ist, ist es am Menschen, etwas gegen die immer größer werdenden Risse zu tun.
Alle Auszüge aus dem „Tagebuch eines Hilflosen“.
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Auszüge aus Francis Neniks „Tagebuch eines Hilflosen“ #26
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