Den Umschlag des ersten Bandes zur Leipziger Stadtgeschichte schmรผckt ein heiร umstrittenes Bild: die รคlteste Darstellung der Stadt Leipzig. Bis 2001 galt der im Auftrag des Leipziger Rates angefertigte Holzschnitt zu den Zerstรถrungen des Schmalkaldischen Krieges 1547 als รคlteste erhaltene Stadtansicht. "Es kam einer kleinen Sensation nahe, als vor wenigen Jahren in der Universitรคtsbibliothek Wรผrzburg eine Ansicht Leipzigs aus dem Jahre 1537 entdeckt wurde."
Das schreibt Henning Steinfรผhrer in seinem Beitrag zur รคltesten Leipziger Stadtansicht im ersten Band der Leipziger Stadtgeschichte. Natรผrlich war das ein eigenes Kapitel wert, gerade weil die kleine Sensation in den nรคchsten Jahren fรผr heillose Verwirrung sorgte. Die Stadtkulisse wirkte auf die Leipziger Forschergemeinde so befremdlich, dass sie sich jahrelang sogar รผber die Himmelsrichtung stritt. Selbst das Stadtgeschichtliche Museum behauptete 2006 noch steif und fest: โKeine der spรคteren Darstellungen weist z.B. die hier offensichtlich gewรคhlte Blickrichtung von Nordwesten auf.โ
Schon wenige Jahre spรคter gab es dazu eine deutliche Korrektur. Denn einige der gezeigten Gebรคude lassen sich sehr wohl zuordnen. Und von Norden hat der Zeichner, der den Pfalzgrafen Ottheinrich 1537 auf seiner Reise nach Osten begleitet hat, Leipzig auf keinen Fall abgebildet. So brachte Heinz Weithaas die Blickrichtung aus Sรผdosten ins Spiel. Auch das eher ungewรถhnlich fรผr frรผhe Stadtansichten. Auch dort fand man im 16. Jahrhundert nicht unbedingt ein trockenes Plรคtzchen, um die Stadtkulisse zu skizzieren. Und auch wenn es nur mit Feder und Tusche war โ ausgemalt wurde die Stadtansicht ja erst nach der Rรผckkehr des Pfalzgrafen nach Neuburg an der Donau. Aber auch dafรผr brauchte der Maler einen guten Standort mit freier Sicht auf die Stadt.
Henning Steinfรผhrer hat die Perspektive noch einmal gedreht โ und siehe da: Die Stadtansicht kรถnnte โ so meint er โ aus der fรผr Leipzig typischen Perspektive aus Sรผdwest gezeichnet sein. Zehn Gebรคude versucht er direkt zuzuordnen. Auf den ersten Blick sieht es recht logisch aus. Aber nur, wenn man seinen Standpunkt akzeptiert und einen ganzen Teil Ungereimtheiten in Kauf nimmt. Das einfach auf die Flรผchtigkeit des Zeichners zu schieben, ist eher nur eine Ausrede.
Dass die Orientierung nicht leicht ist, liegt an mehreren Grรผnden. Einer ist natรผrlich der, dass 1537 noch alle Vorstรคdte standen. Man hat also keinen freien Blick auf die Stadtmauern, was den Vergleich mit der Ansicht von 1547 schwierig macht, denn da waren die Vorstรคdte aufgrund des Schmalkaldischen Krieges alle niedergerissen worden.
Zweite Schwierigkeit: Leipzig war noch eine sehr niedrig gebaute Fachwerkstatt. Deswegen wirken sรคmtliche Steingebรคude, Kirchen, Schloss, Rathaus, Mauertรผrme und Stadttore wie ein Wald aus Spitzen und Tรผrmen. Und da viele dieser Tรผrme spรคter verschwanden oder sich verรคnderten, hat der Betrachter natรผrlich Probleme, die Tรผrme richtig einzuordnen oder gar zu unterscheiden, was Turm ist und was Tรผrmchen.
Dritte Schwierigkeit: der Weg im Vordergrund, den Hennig Steinfรผhrer als Hohlweg abtut und als kรผnstlerische Zutat, wie sie auch in anderen Stadtansichten aus dem Reisebuch des Pfalzgrafen Ottheinrich auftauchen. Doch der Zweifel taucht spรคtestens auf, wenn Steinfรผhrer die deutlich sichtbare Schieรscheibe links dieses Weges erwรคhnt und richtig einordnet als Hinweis auf den Schieรgraben, der sich seinerzeit sรผdlich der Stadt befand, westlich des verlรคngerten Peterssteinweges.
Und damit ist eigentlich seine Theorie, hier sei Leipzig โwie รผblichโ von Sรผdosten dargestellt, hinfรคllig.
Und einige seiner Gebรคudezuweisungen sind wohl grรผndlich falsch.
Es wird wohl doch so รคhnlich sein, wie es Heinz Weithaas 2010 sah: Der Zeichner des Pfalzgrafen hat den kurzen Aufenthalt im Januar 1537 genutzt, um sich sรผdlich der Stadt ein trockenes Plรคtzchen zu suchen und von dort zu zeichnen, was er sah. Schnell hinskizziert, aber wohl doch sehr detailgenau.
Aber Weithaas hatte den โHohlwegโ seinerzeit als Klostergรคsschen identifiziert.
Aber was wรคre, wenn der Zeichner sich gar nicht โ wie Weithaas meint โ in die unwirtliche Gegend der Lehmgruben begeben hat, sondern brav รถstlich des Pleiรemรผhlgrabens geblieben wรคre und einfach den Steinweg vom Peterstor bis zum Schlagbaum auf der Straรe nach Zeitz gegangen wรคre, der ungefรคhr da stand, wo heue die LVZ ihren Sitz hat? Oder er wรคre vorher noch in den Abzweig der heutigen Mรผnzgase gegangen. Dann hรคtte er den Schieรgraben ganz zwangslรคufig mit aufs Bild bekommen. Und dann haben wir eine Stadtansicht direkt von Sรผden.
Dann entpuppt sich das, was Henning Steinfรผhrer als Thomaskirche und Kornhaus identifiziert haben will, als nichts anderes als das Schloss der Kurfรผrsten, so, wie es auch Weithaas sah. Das Tรผrmchen, das Steinfรผhrer einfach mal als Burg bezeichnet hat, wรคre die Wasserkunst am Pleiรemรผhlgraben โ die auch 1547 in der Stadtansicht zu sehen ist. Daneben wรคre dann die gar nicht so bescheidene Klosteranlage St. Georg zu sehen, รผber die im 1. Band der Stadtgeschichte alle Nase lang gerรคtselt wird und die in den dortigen Karten als gestaltloses Rechteck auftaucht. Tatsรคchlich war es eine weitlรคufige Anlage mit vielen Gebรคuden โ u.a. Klosterkirche und Konvent.
Den viereckigen Turm rechts davon ordnet Weithaas noch dem Schloss zu โ er wรคre damit die รถstliche Begrenzung des Schlossgelรคndes und damit in nรคchster Nรคhe zum Peterstor zu suchen.
Auch das macht die alte Ansicht ja so komplex: Sie zeigt noch alle intakten Bauteile der alten Stadtbefestigung, die dann 1547 so grรผndlich zerschossen wurden.
Die Ansicht von 1537 zeigt dann in der Bildmitte einen dicken runden Turm, der aber ziemlich genau da steht, wo in der Ansicht von 1547 die achteckige Landskrone am Ende des Neumarktes steht. Da hat der Zeichner des Pfalzgrafen vielleicht wirklich etwas flรผchtig gearbeitet. Und dann wรคren die hohe Gebรคude, die man rechts daneben sieht, eben nicht St. Nikolai und St. Pauli, sondern man sรคhe hier eindeutig den Giebel des Rathauses, mรถglicherweise perspektivisch รผberlappt mit dem Gewandhaus.
Man mรถchte ja gern versuchen, das Rathaus in der Nr. 6 von Henning Steinfรผhrer zu erkennen. Aber es kรถnnte sein, dass man hier tatsรคchlich die Thomaskirche vor sich hat, wรคhrend man die Peterskirche eher klein davor vermuten darf.
Die markante Kirche mit den zwei Tรผrmen รถstlich des Rathauses hat Steinfรผhrer gar nicht zugeordnet. Aber das kรถnnte durchaus die Nikolaikirche sein. Rechts davon sรคhe man dann den Henkersturm, der ungefรคhr da stand, wo spรคter die Moritzbastei gebaut wurde. Und dann steht auch St. Pauli an der richtigen Stelle und rechts daneben das Grimmaische Tor mit dem Schuldturm.
Bieten wir das einfach mal als These Nr. 4. Aber sie hat eindeutig den gewรคhlten Standort des Zeichners fรผr sich.
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