Das Wetter soll besser werden, die Temperaturen sollen wieder steigen. Was an den kühlen Ostertagen nicht klappte, kann man bald nachholen. Auch einen Spaziergang auf Leipzigs großem Friedhof, dem Südfriedhof. Es ist ein Ort, auf dem Leipziger Geschichte dicht beieinander liegt. Manchmal ohne Hinweispfeil, ohne ein kleines Achtungszeichen. Und es sind oft die eher schmucklosen Gräber, die zu Denken geben.

Denn viele der Leipziger, ohne die die Geschichte der letzten 150 Jahre kein Gesicht hat, haben sich so pompöse Grabmäler nicht leisten können, wie sie sich viele Leipziger Verleger-, Kaufmanns- und Ärztefamilien hier bauen ließen. Andere drängen sich in den Mittelpunkt, obwohl sie da nicht hingehören. Auch an diesem frostigen Frühlingstag ist Roland Mey hörbar sauer. Anfang der 1990er Jahre saß der studierte Physiker für die SPD im Leipziger Stadtrat. Und schon damals ärgerte ihn das, was die Funktionäre in DDR-Zeiten mit der alten Lindenallee auf dem Südfriedhof angestellt hatten.

Sie hatten die Allee zum Appellplatz umfunktioniert, plakative Steinwände aufstellen lassen und die Mittelachse der Allee zur Urnenlege für die Leipziger Funktionäre und ihre Angehörigen gemacht. Mit geharnischten Artikeln in der überregionalen Presse machten Mey und seine Mitstreiter auf diese Beschlagnahme der Lindenallee aufmerksam. Sie brachten auch einen Antrag in den Stadtrat ein. Und die Stadtratsmehrheit beschloss auch den Abriss der Propaganda-Mauern.

Zumindest das ist passiert. “Die Entfernung einzelner Gestaltungselemente aus der Zeit nach 1980 stellt den ersten Abschnitt der Wiederherstellung der Hauptallee auf Grund von Plänen aus dem Jahre 1901 dar”, heißt es auf der Erläuterungstafel am Rand der Allee. Doch noch immer liegen – sauber in Reih und Glied – die Grabplatten der einstigen Nomenklatura nebeneinander. Darunter durchaus bekannte Namen. “Aber die gehören hier nicht hin”, sagt Mey.

Was ihn wirklich ärgert, das liegt sehr versteckt auf dem Südfriedhof. Man muss wissen, wo man es findet.

Der Umbau der Lindenallee ist sichtlich wieder zum Erliegen gekommen. Die steinernen Propagandawände sind weg. Aber noch sehen die roten Grabreihen hier aus, als wäre die Allee trotzdem noch als sozialistische Weihestätte konzipiert. Die Funktionäre, die sich hier begraben ließen, verweisen in ihrer Schnurgeradheit auf die roten Grabplatten dicht vor der Bronzeplastik von Walter Arnold, die an die Opfer des Faschismus erinnert. Und hier liegen tatsächlich Opfer.

Viele Leipziger kennen sie, weil Straßen nach ihnen benannt wurden – Georg Schumann, Otto Engert und Kurt Kresse, Karl Jungbluth, William Zipperer, Arthur Hoffmann, Alfred Frank, Georg Schwarz, Richard Lehmann, Wolfgang Heinze, alle am 11. und 12. Januar 1945 in Dresden hingerichtet, Mitglieder der legendären Schumann-Kresse-Gruppe, die kurz vor dem Hitlerattentat am 20. Juli 1944 in die Fänge der NS-Häscher geraten war. Hier liegen auch die Opfer aus dem KZ Abtnaundorf. Die Allee könnte durchaus ein Leipziger Gedächtnisort sein für die Opfer der Staatsgewalt im 20. Jahrhundert.

Davon lenken die Urnengräber der Funktionäre ab.

Deutlich wird der Bruch, wenn man von dort den Weg rechterhand am Krematorium vorbei nimmt und ihm nach dem Schwenk gen Westen folgt. Bis zum Ende. Noch vor einiger Zeit hätte man dort nicht viel mehr gesehen als Wildwuchs. Doch emsige Hände haben den Wildwuchs beseitigt. Jetzt ist der große Stein wieder sichtbar, auf dem zu lesen steht: “Den Opfern der Gewaltherrschaft 1945 – 1989”. Es sind nicht alle Opfer, die hier liegen. Es sind auch nicht viele Namen, die zu lesen sind. Denn die meisten derer, die zum Beispiel in der zentralen Hinrichtungsstätte der DDR in der Alfred-Kästner-Straße hingerichtet wurden, wurden eingeäschert und anonym verscharrt.

Auf der Website des Museums in der Runden Ecke ist zu lesen: “Die beiden Gehilfen vernagelten den Sarg und brachten diesen mit einem Barkas B1000 ins Krematorium auf dem Leipziger Südfriedhof. Er wurde nicht noch einmal geöffnet, sondern umgehend und unter Geheimhaltung verbrannt. Im Vorfeld wurde sichergestellt, dass sich kein uneingeweihtes Personal in der Einäscherungshalle befand. Nur die Namen der ersten in Leipzig Hingerichteten sind im Einäscherungsbuch des Krematoriums verzeichnet; später wurden die Leichname nur noch unter den Stichworten ‘Anatomie’ oder ‘Abfall’ registriert.”

“Angeblich soll der spätere Gedenkstein nach 1989 an diese quasi unauffindbare Stelle gesetzt worden sein, weil zwei Opfer der SED-Diktatur schon damals dort ihre Ruhestätte hatten”, sagt Mey. Und betont: “Mein Sohn Thomas hat die Grabstätte gefunden. Ich hätte sie nie im Leben hier vermutet.” So “neben der Kompostierungsanlage”, wie er sagt.

Eine kleine Platte erinnert an die Hingerichteten. Zwei größere Platten erinnern an die Leipziger Toten im Umfeld des 17. Juni 1953. Hier stehen auch Namen. Die Männer sind nicht anonym geblieben. Der Bekannteste unter ihnen ist Dieter Teich, 18 Jahre alt, als er am 17. Juni 1953 gegen 15 Uhr vor der Untersuchungshaftanstalt in der Beethovenstraße erschossen wurde.

Seit 1994 erinnern die Tafeln an die Toten des 17. Juni 1953. Die Urne von Dieter Teich, der am 17. August 1953 auf dem Leipziger Nordfriedhof beigesetzt wurde, wurde beräumt.  Sie liegt hier nicht.

Sieben erschossene Demonstranten und einen getöteten Polizisten listet der Polizeibericht zum 17. Juni 1953 in Leipzig auf. Auf der linken Grabplatte ganz oben findet man Johannes Köhler. Der 44jährige Uhrmacher ist möglicherweise gegen 16 Uhr auf dem Heimweg nach Leutzsch beim Umsteigen am Hauptbahnhof durch einen Warnschuss der russischen Einsatzgruppen getötet worden. Der Polizeibericht lässt ihn an einem Angriff auf die Garage des Gebäudekomplexes von Staatssicherheit und Volkspolizei am Dittrichring zwei Stunden später teilhaben.

Unter Köhlers Name steht der von Erich Kunze. Ist es der von der Polizei erwähnte getötete Polizist? – Erschossen hat ihn kein Aufständischer, sondern augenscheinlich ein sowjetischer Wachposten, als der Volkspolizist am Abend des 18. Juni im Kübelwagens F9 in der Balzacstraße in Gohlis auf Streifenfahrt unterwegs war. Am 19. Juni starb der 29jährige Vater von sieben Kindern im Polizeikrankenhaus Leipzig-Wiederitzsch.

Unter ihm steht der Name des 15jährigen Lehrlings Paul Ochsenbauer, der möglicherweise nach dem Abreißen eines sowjetischen Befehls gleich an Ort und Stelle erschossen wurde.

Nicht belegen lässt sich der Tod des darunter erwähnten 24-jährigen Walter Schädlich, der lediglich im Westberliner “Telegraf” berichtet wurde, bei Recherchen in hiesigen Registern aber nicht nachweisbar war. Dasselbe trifft auf den ebenfalls hier erwähnten  25-jährigen Heinz Sonntag, und den 17-jährigen Peter Heider auf der zweiten Tafel zu, die nur laut “Telegraf” standrechtlich erschossen worden sein sollen. Es gibt also auch gute Gründe, so mancher Gedenktafel mit Skepsis zu begegnen. Zeitungsberichten aus hektischen Zeiten sowieso.

Unter den Namen von Schädlich und Sonntag steht dann der Name des Gießereifacharbeiters Dieter Teich.

Die zweite Tafel würdigt zuerst den 20jährigen Maurer Joachim Bauer, der am 17. Juni vor dem Volkspolizeikreisamt in Delitzsch erschossen wurde. Er ist einer der beiden Toten bei diesem Protestzug, bei dem die Polizei zuletzt mit gezielten Schüssen in die Menge feuerte. Der andere ist der 19jährige Schlosser Gerhard Dubielzig. Auch er steht auf diese Tafel.

Unter dem Namen von Joachim Bauer steht der Name der 64jährigen Rentnerin Elisabeth Bröcker, die in der Nähe des HO-Kaufhauses in der Petersstraße zu Tode kam. “Die Bröcker dürfte sich wahrscheinlich aus Neugierde während der Zeit der Ereignisse dort aufgehalten haben”, heißt es in einem Polizeibericht. Ihre Urne ist tatsächlich in der Urnenanlage erhalten.

Darunter der Name des 42jährigen Eberhard von Cancrin, der nicht bei Demonstrationen zu Tode kam, sondern zusammen mit sieben anderen Arbeitern das SAG-Betriebes Espenhain nach einer Gewerkschaftsversammlung verhaftet wurde. Während die sieben anderen bis Anfang Juli 1953  wieder nach Hause zurückkehrten, erfuhr Cancrins Familie erst im August, dass er schon am 18. Juni – wahrscheinlich von sowjetischen Offizieren – erschossen wurde.

Auf der Tafel steht auch ein “BGM Hartmann”, doch auch ein in Delitzsch erschossener Bürgermeister dieses Namens ist nicht nachweisbar.

Dafür ist der 40jährige Straßenbahner Herbert Kaiser nicht erwähnt, der nach einem Angriff am 17. Juni 1953 auf die Transportpolizei auf dem Leipziger Hauptbahnhof verhaftet wurde und am 15. Dezember 1953 in Moskau erschossen wurde.

Eine eigene Platte darunter hat der 40jährige Kurt König, der schon im November 1952 verhaftet wurde und dessen Schicksal es sogar bis ins Fernsehen geschafft hat. Der Besitzer eines Elektrofachhandels in Leipzig wurde von der Stasi verhaftet, weil er tatsächlich für den Westen spionierte und Autonummern von sowjetischen Fahrzeugen bei Militärübungen an den Westen weiterleitete. Am 3. Oktober 1953 wurde König hingerichtet.

Und auch Manfred Smolka, ehemaliger Oberleutnant der DDR-Grenzpolizei, ist mit einer Platte gewürdigt. Er gehört zu den namhaft gewordenen Hingerichteten der Hinrichtungsstätte Leipzig, wo er im Juli 1960 durch das Fallbeil starb. “Nachdem er selbst Ende 1958 in die Bundesrepublik geflüchtet war, kehrte er im Sommer 1959 noch einmal kurz auf DDR-Gebiet zurück, um seine Frau und Tochter nachzuholen”, heißt es in seinem Wikipedia-Eintrag. “Dort geriet er durch Verrat eines früheren Freundes in einen Hinterhalt der DDR-Staatssicherheit. Angeschossen und verhaftet, wurde Smolka im Frühjahr 1960 vom Bezirksgericht Erfurt wegen angeblicher Militärspionage – bei seiner Gefangennahme soll er eine neuentwickelte Gasmaske bei sich gehabt haben – zum Tode verurteilt.”

Für die ebenfalls auf eigenen Tafeln erwähnten Fritz Fehrmann (25. 10. 1923 – 21. 10. 1961) und Dr. Erwin Neumann (24. 2. 1912 – 3. 7. 1967) müssen hier nur die Daten stehen. Aber vielleicht haben ja L-IZ-Leser Informationen über die beiden Männer.

Wer einfach hinspaziert zu dieser nun wenigstens freigelegten Anlage, braucht, wie man sieht, ein paar Informationen mehr, als die Steinplatten selbst hergeben. Dann wird viel besser sichtbar, wie wenig ein paar Zahlen und Namen über ein Ereignis wie den 17. Juni 1953 in Leipzig verraten.

Und ist es nicht so, dass diese Anlage nicht viel eher in die Lindenallee gehört, dorthin, wo Leipziger Geschichte sichtbar werden könnte – nicht als Staats- oder Herrschaftsgeschichte, wie durch die Funktionäre der  DDR gedacht, sondern als Geschichte des Volkes, das immer wieder in die Mühlen der Staatsgewalt gerät, wenn Mächtige um ihre Herrschaft bangen? Das wäre wohl eine Überlegung wert. Oder gar eine richtige Initiative, die der Lindenallee auf dem Südfriedhof eine neue Bedeutung gibt.

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