2022 befragte das Institut Allensbach über 23.000 Bundesdeutsche, wie sehr sie sich für Politik interessieren. Und fast 76 Prozent meinten „nicht so sehr“, „kaum“ oder „gar nicht“. Das ist eigentlich die wichtigste Zahl, die Bernd Thomsen in diesem Buch anführt. Denn sie erzählt auch, warum Populisten derzeit die wichtigsten Demokratien Europas in Gefahr bringen und Millionen Menschen mit ihrer Stimmabgabe bei der Wahl nur zu gern bereit sind, Leuten zu wählen, die die so schwer erkämpfte Demokratie abwracken wollen.

Die meisten ganz bestimmt mit dem Gefühl der Selbstermächtigung: Endlich mal Wirkung erzeugen, endlich mal zeigen, wie unzufrieden man ist. Da wählt man dann eben den lautesten und radikalsten Politiker, die Partei, die die Wut instrumentalisiert und Wunder verspricht, wenn sie „gegen die da oben“ anwettert. Die Folgen interessieren da nicht. Denn dafür müsste man sich ja für Politik interessieren und dafür, wie sie funktioniert.

Populisten leben von der Ahnungslosigkeit ihrer Wähler.

Und sicher dürfte es noch eine Menge Bücher geben, die untersuchen, warum es den Radikalen von heute so leicht fällt, völlig falsche Geschichten über die Demokratie zu verbreiten, sich selbst als Retter zu verkaufen und mit Sprachmaterial aus der völkischen Mottenkiste zu suggerieren, sie allein würden für „das Volk“ sprechen und es verstehen.

Warum funktioniert die Demokratie nicht richtig?

Dass es um Verstanden- und Gehörtwerden geht, ist eigentlich klar. Aber warum schaffen es demokratische Politiker, Parteien und Institutionen nicht (mehr), dieses Gefühl bei den Wählerinnen und Wählern zu erzeugen? Warum ist das Gefühl so verbreitet, dass demokratische Institutionen abgehoben sind, nicht zuhören, Probleme nicht lösen und die Sorgen der Wähler nicht (mehr) ernst nehmen?

Was stimmt also nicht im Betriebswerk der Demokratie? Eine Frage, die sich der Zukunftsexperte und Managementberater Bernd Thomsen schon länger gestellt hat. Fünf Jahre lang hat er sich damit intensiver beschäftigt – und zwar aus der Perspektive seiner Arbeit als Futurologe. Wobei Futorologie ja ein gewisses Geschmäckle hat. Aber er entwirft keine schönen Zukunftsbilder, die dann in den Köpfen der Leute spuken, ohne dass sie wissen, wie sie da hin kommen sollen.

Und er berät auch Unternehmen nicht so, denn er weiß, dass ein schönes Zukunftsbild nicht ausreicht, um einen schweren Tanker auf neuen Kurs zu bringen. Das gilt für Unternehmen genauso wie für jenes Unternehmen, dessen Präsidentin eines Tages in einer Hamburger Hotellobby auftaucht, um einem gewissen Ben, hinter dem irgendwie auch der Autor selbst steckt, ihre Probleme zu klagen und ihn zu fragen, ob er eine Lösung weiß, wie man aus dem Dilemma herauskommt.

Und zwar möglichst flott, denn die Erscheinungen, die gestandene alte Demokratien gleich im Dutzend ins Wanken bringen, sind unübersehbar und entwickeln sich mit besorgniserregender Geschwindigkeit. Was sie nicht wirklich versteht, zeichnet sich doch gerade ihr Betriebssystem dadurch aus, dass es in allen Wettbewerbsparametern bessere Ergebnisse liefert als alle Autokratien und Diktaturen.

Was einen Grund hat, der sich dann im Lauf des Buches aufdröselt, in dem Thomsen schildert, wie sein Ben ganz professionell Workshops mit den führenden Vertretern der demokratischen Staaten organisiert. Da lässt er durchaus honoriges Personal auffahren – vom US-Präsidenten über den französischen Präsidenten, den Regierungschef Indiens, den von Kanada oder für Deutschland den Vizekanzler Robert Habeck.

Demokratie unter Feuer

Und Thomsen lässt sich diese Großen der Politik zu einem sehr symbolischen Zeitpunkt treffen – am Vorabend des Überfalls der russischen Armee auf die Ukraine, was ja Bundeskanzler Olaf Scholz wenig später eine Zeitenwende ausrufen ließ.

Nur scheint das eher eine Zeitenwende für eine Autokratie zu sein, die nun wieder glaubt, die Demokratien des Westens mit Erpressung, Propaganda und Kriegsbedrohung einschüchtern und spalten zu können. Denn ein Autokrat kann ja nicht abgwählt werden, der fälscht sich seine Wahlen zurecht. Demokratische Politiker sind aber auf Wahlsiege angewiesen, wenn sie regieren wollen. Und auf eine Wählerschaft, die weiß, wen sie da wählt und warum.

Und ganz so falsch ist ja Thomsens Ansatz nicht, die Demokratie mit einem großen Unternehmen zu vergleichen, dessen Filialen mehr recht und schlecht funktionieren und mit einer Belegschaft (Wählerschaft) zu tun haben, die die Unternehmensziele nicht kennt. Denn das ist das Modell des alten Unternehmertums mit straffen Hierarchien und Befehlsketten aus der Konzernspitze nach unten. Unten wird dann nur noch ausgeführt, was verlangt wird. Mechanisch, ohne Eigeninitiative und ohne sich wirklich gefühlsmäßig gebunden zu fühlen an das Unternehmen.

Und genauso verhalten sich viele, sehr viele Bürger in den westlichen Demokratien. Und das hat – das merkt man dann schnell – mit fehlender Kommunikation zu tun. Thomsen hätte auch beiläufig beschreiben können, wie derzeit ein klassisches Unternehmen nach dem anderen in gefährliches Fahrwasser gerät, weil ein abgehobenes Management Unternehmenspolitik nur noch für Aktionäre macht, die Zukunft des Unternehmens und die Power des eigenen Personals aber völlig aus dem Blick verloren hat, die Belegschaft sogar komplett für austauschbar und ersetzbar hält, was wohl der fatalste Irrtum solcher Unternehmen ist.

Politik in Hinterzimmern/Vernebelte Verantwortung

Und irgendwie stimmt es ja: Etliche Politiker handhaben das Regieren genau so – erklären nichts, reden in Phrasen, verkneifen sich jede Emition oder lügen das Publikum sogar an, um Interessen durchzusetzen, die mit den Interessen der Allgemeinheit nichts zu tun haben.

Und Fehler geben sie nicht mal dann zu, wenn die Presse über ihre Korruption und Unfähigkeit berichtet. Ihre Nahbarkeit ist Fake. Und nirgendwo gibt es ein für die Wähler sichtbares Dashboard, das zeigt, welche Verbesserungen die Regierung für sie erreicht hat und wer für was verantwortlich ist.

Das sind jetzt schon Interpretationen. Thomsen lässt seinen Demokratieberater Ben mit den wechselnden Führungspersönlichkeiten der demokratischen Staaten in mehreren Workshops ausknobeln, was denn nun tatsächlich falsch läuft in ihren Filialen und warum sich ihre Wähler für die Demokratie engagieren – und warum sie es nicht tun.

Oder warum Politik so wenige Leute interessiert. Obwohl doch Politik eigentlich Leute braucht, die sich mit Lust in die Ermöglichung des Möglichen stürzen. Doch sie sind selten. Und wenn sie einmal im Rampenlicht auftauchen – so wie letzter Zeit einige sehr lebendige Regierungschefinnen in Finnland oder Neuseeland, dann lösen sie Begeisterung aus. Dann wird Demokratie auf einmal erlebbar und als gestaltbar empfunden.

Als eine Gesellschaftsform des Möglichen. Als das, was Demokratie immer attraktiv gemacht hat, wenn nicht gerade konservative Verwalter mit grimmiger Miene den status quo zu zementieren versuchten. Und das wird in all den Gesprächen, in denen auch diverse Thesen über die Demokratie falsifiziert und verifiziert werden, immer deutlicher: Demokratie lebt davon, dass Menschen die Freiheit zum Ausprobieren haben, zum Brechen alter Konventionen, zum Ausdiskutieren von Neuem und neu Gedachtem.

Was übrigens einer der Gründe dafür ist, warum Demokratie und Marktwirtschaft miteinander besser funktionieren als Marktwirtschaft und Autokratie. Denn auch wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit lebt vom freien Spiel der Kräfte, vom Durchbrechen von Gewohnheiten, dem Freiraum für Erfindungen und neue Lösungsmodelle.

Lebensform und Neugier auf das Mögliche

Man merkt bald, dass Thomsen eigentlich von zwei Dingen erzählt, die man mit Demokratie fast nie in Verbindung bringt, die aber ihren Wesenskern ausmachen. Das eine benennt er ganz deutlich, weil es zwingend gesehen werden muss, wenn Politiker die Menschen wirklich wieder zu Mitmachen animieren wollen. Das ist die Tatsache, dass Demokratie auch eine Lebensform ist, in der Freiheit in vielen Facetten eine elementare Rolle spielt.

Und das Andere ist ihre Fähigkeit, die elementare Freude der Menschen am Erfinden, Ausprobieren, Gestalten und Erneuern zu befördern. Eine Freiheit, die vom Vertrauen darauf lebt, dass Menschen Neugier auf Neues haben, wissen wollen, was alles noch möglich ist, und dass sie dabei keinen Unfug anstellen. Und hoppla – da wird’s spannend.

Denn dass Demokratien wie in Deutschland derart die Liebe der Wähler verloren haben, hat genau damit zu tun: Das Land versinkt in Bürokratie, Verboten und Einschränkungen. Die Regulierungswut nimmt an den falschen Stellen überhand, während sie an anderen Stellen Freiräume für Selbstbedienung und Korruption schafft.

Was dann wieder mit der fehlenden Transparenz zu tun hat. Viele Vertreter der Politik benehmen sich nun einmal nicht so, als wären sie ihrem Unternehmen (der Demokratie) und der Belegschaft (den Wählern) gegenüber verantwortlich, sondern lassen egoistische und Parteiinteressen die Oberhand, kümmern sich nicht ums Ganze. Und sorgen so dafür, dass die Bürger in der Demokratie immer wieder Gefühle der Ohnmacht, der Wirkungslosigkleit, des Nichtgehörtwerdens und Ausgegrenztseins erleben.

Und dabei eine Politik erleben, in der alles bierernst ist, die Witze unterirdisch sind, der Spaß am Leben geradezu verboten und die Lust am Ausprobieren regelrecht ausgestorben. Bürgerbeteiligung wird eher als Alibi zelebriert, Entscheidungen fallen intransparent auf Ebenen, auf die der Wähler keinen Zugriff hat, und die Handlungsmöglichkeiten als Bürger sind praktisch auf Null geschrumpft.

Mit Wertschätzung fängt es an

Das kann so nicht funktionieren. Das begreifen auch die Staatsmänner, die Thomsen auftreten lässt (die sich der Diskussion viel offener stellen, als es ihre realen Vorbilder wohl je getan hätten). Der Leser ist dabei, wie aus dem Ideensammeln nach und nach ein Bild entsteht, was eigentlich getan werden müsste, die Demokratie für ihre Bürger wieder attraktiv zu machen. Das gerinnt am Ende in ein richtiges POP-Modell. Wobei POP für Partizipation, Ovation und Prosperität steht. Wobei Ovation vor allem Wertschätzung meint: Wertschätzung für die Menschen, die man gern als Wähler hätte. Aber auch Wertschätzung in allen gesellschaftlichen Bereichen.

Man merkt schon: Die Analyse geht eigentlich viel weiter, als es so ein Buch möglich macht. Denn dummerweise tendieren alle Hierarchien dazu, diese Wertschätzung in Regelungswut und Verachtung für „die da unten“ zu verwandeln. Menschen, die sich nicht wertgeschätzt fühlen, werden wütend, traurig, depressiv, mutlos und einsam.

Punkt.

Und da in so einer Gesellschaft alles mit allem zu tun hat, merkt man auch die enge Verwandtschaft von Wertschätzung und Prosperität. Denn es ist ganz einfach eine Sauerei und völlig fehlplatzierte Verachtung, wenn die Reichen und Gewinner eines rücksichtslosen Wettbewerbs nicht nur auf die Verlierer herunterschauen und (meist verbal und bürokratisch) auf ihnen herumtrampeln.

Es ist der sicherste Weg, der Demokratie ihre Basis zu entziehen und ihr das tödliche Gefühl einzupflanzen, dass man in ihr für Fleiß und Mühsal keine Wertschätzung und Anerkennung bekommt. Und nicht mal die geringe Sicherheit im Leben, dass man sich nicht jeden Tag um das Überleben der nächsten Tage sorgen muss.

Auch hier Punkt.

Frag doch die Leute

Es gibt gerade im letzten Teil, in dem das POP-Konzept zusammenfließt, viele Punkte, über die es sich lohnt nachzudenken. Einerseits, warum sie nicht einfach umgesetzt werden, obwohl sie die Seele der Demokratie ausmachen. Und wie man andererseits die fehlgeleiteten Entwicklungen wieder einholen und die Menschen auch mit ihren Emotionen zurückholen kann in die Demokratie.

Denn sie hat allen Autokratien gegenüber auch den Vorteil, dass sie eigentlich begeistern kann, wenn sie den Menschen das Gefühl gibt, dass sie mitgestalten können, dass sie nicht einfach von irgendwem „da oben“ regiert werden, sondern bei allen Belangen, die sie direkt betreffen, auch gefragt werden. Direkt befragt werden, was die Digitalisierung eigentlich möglich machen könnte, wenn sie weniger stümperhaft und bürokratisch umgesetzt werden würde, als das derzeit in Deutschland der Fall ist.

Thomsen macht am Ende keinen Katalog auf, der einfach abgearbeitet werden müsste, um den Laden zu reparieren. Er zeichnet eher eine Strategie mit einigen konkreten Vorschlägen, die skizzieren, wie es gehen könnte. Was die alte Dame Agora, die hier für die 2.500 Jahre lange Geschichte der Demokratie steht, durchaus begeistert und sie am Ende regelrecht verjüngt.

Aber man merkt schon, dass diese Radikalkur für die Demokratie andere Politiker/-innen braucht, als sie heute auf dem Markt der Verknöcherungen meist zur Verfügung stehen, Männlein und Weiblein, die wieder lernen, verständlich zu kommunizieren, die den Mut zu Ausprobieren haben und auch den Mut, Fehler zuzugeben.

Schluss mit falscher Glorifizierung

Auch das ist so eine Untugend alter Politik: So zu tun, als wäre der Regierungschef im Besitz aller Weisheit und hätte das Geheimnis der einzig richtigen Politik implantiert. Eine Erwartungshaltung, aus der wild gewordene Medien ganze Dramen basteln, ohne sich hinterher für ihren inszenierten Blödsinn zu entschuldigen. Aber auch ganze Talkshows leben von dieser arroganten Besserwisserei.

Und dann sieht man die Kotzbrocken auch noch auf den Wahlplakaten. So kann das nicht funktionieren. So entsteht auch kein Vertrauen. Denn zum Vertrauen gehört die echte Fähigkeit zum Gespräch, zum Zuhören, zum Aufeinandereingehen und der Respekt vor dem Anderen.

Und am Ende wird Ben alias Thomsen noch einmal sehr deutlich und kommt auf die 75 Prozent zurück, die sich nicht für Politik interessieren, die aber sehr wohl ihre Lebensform wertschätzen, die es ohne eine funktionierende Demokratie nicht gäbe.

Die Demokratie selbst ist diese Lebensform. Und man merkt bei all diesen Suchen nach dem, was falsch läuft und was gut funktioniert, dass die Demokratie überall dort unter Beschuss gerät, wo die Menschen das oft nur zu berechtigte Gefühl haben, nur noch verwaltet zu werden und selbst überhaupt nicht gefragt zu werden.

Da hat man sofort Bilder im Kopf. Das muss hier nicht ausgeführt werden.

Aber man ahnt, was sich tatsächlich gründlich ändern muss, damit all die Menschen, die jetzt lärmenden Populisten hinterherlaufen, im Bewahren der Demokratie doch wieder eine Aufgabe sehen, die alle angeht. Und die man nicht mit der Stimmabgabe bei der Wahl einfach irgendwohin delegiert, nur um sich dann fünf Jahre lang zu ärgern, dass man trotzdem wieder übergangen, ignoriert und vergessen wird.

Prof. Bernd Thomsen„Retten wir unsere Demokratie!“ Plassen Verlag, Kulmbach 2024, 24,90 Euro.

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