Er ist eine der Regisseure, die am Schauspiel Leipzig inszenieren. 2022 waren „Die Leiden des jungen Azzlack“ die erste Arbeit von Marco Damghani am Schauspiel Leipzig. „Anouk & Adofa“ ist sein erstes Auftragswerk für das Schauspiel. Mit „Die Insel Sertralin“ legt der junge Hamburger jetzt auch sein Debüt als Romanautor vor. Ein Roman, der eigentlich eher Tagebuch und Erfahrungsbericht ist aus einer psychiatrischen Klinik.

Wo jeder einmal landen kann, den die Überforderungen des Lebens und einer völlig überdrehten Gesellschaft aus dem Gleis werfen. Und das kann aus heiterem Himmel passieren, mitten im schönsten Lauf, wenn man noch denkt: Alles ist in Ordnung. Aber die eigene Schaltzentrale im Kopf meldet Überforderung. System überlastet. Blackout. Und Aufwachen in der Klinik, „weinen, schluchzen, Stille. Zu den Bildern in meinem Kopf fehlt die Tonspur.“

Der Held in Damghanis Geschichte hat eine Biografie wie der Autor selbst, Wikipedia spricht von „iranischer Herkunft“, was so nicht ganz stimmt. Denn geboren wurde Damghani in Hamburg. Und auch sein Erzähler Nick ist in Deutschland geboren.

Der Vater von Nick ist noch im Iran geboren, aber als Jugendlicher nach Deutschland gekommen, um hier den harten Weg jedes Migranten zu gehen, der den Weg nach oben schaffen will. Und das als 16-Jähriger, der nach dem frühen Tod des Vaters auf einmal die Verantwortung für die ganze Familie hatte. Ein Knochenweg, dessen psychische Folgen Nick erst so langsam begreift. Das Gespräch mit seinem Vater kurz vor der Entlassung aus der Klinik ist eine der anrührendsten Passagen in dieser Geschichte – ein Versuch, Sprachgrenzen zu überwinden, die das Vater-Sohn-Verhältnis sogar doppelt prägen. Denn während für den Vater Persisch die Muttersprache ist und er sich bemüht, ein möglichst exzellentes Deutsch zu sprechen, ist Nicks Muttersprache Deutsch und er tut sich auch bei den Aufenthalten im Iran schwer mit dem Persischen. Aufenthalte beim Vater, der zeitweise zurückgekehrt ist in das Land der Ayatollahs, letztlich aber doch wieder nach Deutschland zurückkommt.

Wofür strengt man sich eigentlich so an?

Denn wofür hat er sich so angestrengt und Nick die Möglichkeit zum Studieren verschafft? Das muss doch alles einen Sinn haben? Eine Anspruchshaltung, die auch viele Kinder aus hiesigen Malocherfamilien kennen. Man rackert sich ab, um auf der Karriereleiter ein Stückchen nach oben zu kommen, und die entpuppt sich dann als Hamster-Laufrad. Und je mehr man sich anstrengt, umso weniger bleibt von dem Gefühl, dass das noch das eigene Leben ist. Oder dass man gar bekommt, was man sich vom Leben eigentlich gewünscht hat.

Wobei es für die tiefen Depressionen, die Nick in dieser Geschichte erlebt und die ihn auch in der Klinik immer wieder herunterreißen, viele mögliche Ursachen geben kann. Sertralin ist dabei das Antidepressivum, mit dem Nick in der Klinik geholfen werden soll, von seinen Panikattacken herunterzukommen, die auch irgendwie mit „ihr“ zu tun haben, der jungen Frau, mit der er die intensivsten Tage vollkommener Liebe erlebt hat, die aber tausende Kilometer entfernt lebt und inzwischen alle Verbindungen zu ihm gekappt hat. Entfreundet, wie man das so schön nennt.

Das kann auch andere völlig von den Füßen reißen. Aber bei Nick trifft es, wie er so langsam begreift, auch auf ein ziemlich kaputtes Selbstbild, das viel mit der Lebensgeschichte des Vaters zu tun hat, der eben auch an den Sohn das prägende Gefühl mitgab, dass man (als Migrant) nie genügen kann, dass man immer 100 Prozent geben muss, möglichst noch mehr.

Obwohl das eigentlich das Mantra der deutschen Kultur ist, das selbst die Jobcenter-Philosophie bestimmt: Wenn du aufhörst zu rennen, bist du ein Versager und gehörst bestraft.

Genug wird nie genügen

Natürlich macht das Buch auch wütend, gerade an den Stellen, an denen deutlich wird, wie diese deutsche Gedankenmühle, der Mensch sei nicht akzeptabel, wenn er nicht perfekt funktioniert, Nick aufs Bett haut und abstürzen lässt in tiefe Phasen der Verzweiflung. Da dürfte sich so Mancher wiedererkennen, der sich Tag für Tag auf eine Arbeit schleppt, ohne dass auch nur ein Rest von Gefühl dafür da ist, dass das irgendeinen Sinn ergibt oder gar noch das eigene Leben ist. „Der Grundpfeiler meiner letzten Jahre waren das Ertragenmüssen und das Aushalten“, stellt Nick schon auf der Schlusskurve seines Klinikaufenthaltes fest, als er mithilfe des Sertralins tatsächlich sein Gedankenchaos so langsam in Griff bekommen hat und dann und wann ein Schimmer Hoffnung sichtbar wird, dass er aus dem tiefen Loch herauskommt.

Aber nicht nur das Antidepressivum ist eine Insel. Auch die Klinik selbst, in der Nick und seine Leidensgenossen mitten in der Corona-Zeit abgeschottet von der Welt sind, ist ein Ort, an dem sich Nick nach und nach von dem Druck lösen kann, der ihn draußen immerzu begleitet hat – dem Druck, sich beweisen zu müssen, immerfort Leistungen erbringen zu müssen, nie jammern zu dürfen, immerzu gute Laune ausstrahlen zu müssen.

Da wird sich so manche Leserin und mancher Leser sagen: Das kenne ich. Der Druck ist allgegenwärtig. Er gehört zur moralischen Peitsche, mit der gerade in Deutschland die Menschen zum Wettbewerb getrieben werden, zu einer Jagd nach einem Glück, das selbst dann, wenn man es erreicht (den neuen Job, den Studienabschluss, die Beförderung …), einfach im Winde verweht, sich als Fata Morgana erweist.

Nick: „Halt noch ein wenig durch, da, gleich hinter dem Horizont, da ist es so weit, da wartet das Glück, nur noch ein paar Kilometer. – Das Problem war nur, dass sich die Ziellinie immer wieder verschob.“

Wer ist hier eigentlich krank?

Man merkt schon: Das ist nicht nur eine psychische Last für Mitmenschen mit Migrationshintergrund, von denen mehr und immer mehr an Leistungs- und Anpassungsbereitschaft verlangt wird, ohne dass jemals der Punkt kommt, dass sie ankommen dürfen, dass sie akzeptiert werden, so wie sie sind. Und dass es irgendeine wirkliche Anerkennung für ihre Leistungen gibt.

Denn genau so wird auch mit den einheimischen Kindern umgegangen, die nicht mit goldenem Löffel im Mund geboren wurden. Die von unten kommen und sich doppelt anstrengen müssen, um wenigstens die untersten Stufen der Gesellschaftsleiter zu erklimmen. Nur um dort mit allen Mitteln signalisiert zu bekommen: Es reicht nicht. Streng dich noch ein bisschen mehr an.

Und so stellt Nick dann endlich auch die Fragen danach, warum ihn das Ende einer Beziehung derart von den Füßen hauen konnte, warum ihn das im Kern seiner Selbstgewissheit getroffen hat: „Wo hört meine Depression auf und wo fängt die Welt an? Ab welchem Punkt sollte es als Krankheit gelten, nicht depressiv zu sein? Wie kann man nicht depressiv werden bei all dem da draußen, wie kann man so kalt, so egoistisch sein, dass einen das nicht wahnsinnig macht? Und ist es das Ziel, mich genauso abzustumpfen?“

Wäre das das Ziel der Therapie, würde sie schlichtweg nicht funktionieren. Ganz am Ende lässt Nick seine Wut so richtig raus. Die Tage der Lethargie sind vorbei und mit allen Fasern begreift er, dass es um sein eigenes Leben geht. Und seine Vorstellungen davon, was für ein Leben er wirklich führen möchte. Und was er sich von den Menschen um sich herum tatsächlich wünscht.

Denn einen Teil davon hst er ja mit Helen, Calle, Jesper und Eidin in der Klinik erleben können: Wie wichtig es ist, dass einen bisher wildfremde Menschen einfach so akzeptieren, wie man ist. Auch weil sie des selbst erleben und wissen, was in Nick gerade vor sich geht.

Die falschen Disney-Erwartungen

Und alles schreit danach, genau so auch „da draußen“ angenommen zu werden, sich nicht mehr verstellen und eine falsche Rolle spielen zu müssen. Und ständig versuchen zu müssen, den Erwartungen anderer Leute zu genügen. Und fast ist Nick froh, dass es ihn schon mit 27 erwischt hat und nicht erst 30 Jahre später, wenn er dann hätte feststellen müssen, das völlig falsche Leben gelebt zu haben und nichts mehr daran ändern zu können.

Und dabei werden wir sogar von falschen Vorstellungen von Liebe getrieben, was Nick erstmals in Worte fasst, als er nächtlicherweise von einer Freundin angerufen und geradezu als Therapeut für ihre eigene Not gefragt wird. „Victoria, Calle, Eidin, Helen und ich. Wir sind alle auf der Suche nach dem rettenden Gefühl, das wir diffus ‚Liebe‘ nennen. Wir wollen den Disney-Moment, in dem das Puzzlestück, nach dem wir unser Leben lang auf der Jagd sind, endlich in Form unseres Partners oder unserer Partnerin vor uns steht und uns vollständig macht.“

Das geht nicht nur Nick so, dass er immerfort auf der Suche war nach der einen „Richtigen“, die ihm endlich das Gefühl geben kann, dass er so, wie er ist, liebenswürdig ist. Würdig, geliebt zu werden.

„But love is not the answer. Nicht so.“

Auch wenn es niemand sagt

Andere Menschen können uns das Gefühl nicht geben, dass wir etwas wert sind. Dass wir ganz selbstverständlich wert sind, geliebt zu werden. Die Bruchstelle in uns müssen wir selbst heilen. Oder wenigstens dran arbeiten. „Ich bin auch ohne Partnerin etwas wert. Ich bin auch dann etwas wert, wenn es mir niemand sagt.“

Die Tage auf der Insel der Klinik lassen Nick nicht nur zunehmend Abstand gewinnen zum Jagen und Treiben draußen. Es sind Tage der Schonung, wie sie die meisten Menschen in ihrem stressigen Alltag nicht finden. Und deshalb auch den verstörenden Gedanken verdrängen, das Leben, wie sie es auf sich nehmen, könnte das falsche sein, die Gefühle des Ungenügens könnten davon erzählen, dass sie immer nur anderer Leute Ansprüchen nachjagen – aber nicht das ausleben, was sie selbst glücklich macht.

Am Ende stolpert Nick geradezu über das Wort Geborgenheit. Ein kaum in andere Sprachen übersetzbares Wort, das aber einen Zustand ausdrückt, den sich die Deutschen immerzu herbeisehnen. Aber statt ihn zuzulassen, versuchen sie ihn selbst zu Weihnachten noch zu inszenieren – nur um dann regelmäßig in ein tiefes schwarzes Loch zu fallen, weil sich Geborgenheit nicht inszenieren lässt.

Genauso wenig wie Liebe, Nähe und Vertrauen. Nick weiß, dass es draußen wieder hart werden wird, erst recht, wenn er sein altes Leben völlig entrümpelt und nur noch Dinge in sein Zimmer stellt, die er wirklich darin haben möchte.

Und Nick spricht ganz bestimmt vielen Leserinnen und Lesern aus dem Herzen, wenn er am Ende feststellt: „Ich habe mir mein neues Leben selbst erkämpft und weigere mich, mein Glück auf eine ungreifbare, ferne Zukunft zu vertrösten. Ich habe es verdient, glücklich zu sein.“

Aber das lernt man wohl wirklich nur auf die harte Tour, beim Blick in den Abgrund, der einen verschlingt, wenn man sich nicht mit Händen und Füßen wehrt. Und merkt, dass man eigentlich Teil einer riesengroßen „Armee der Unzufriedenen“ ist, wie Nick feststellt. „Was für ein Mensch möchte ich sein? Was für ein Leben möchte ich leben?“

Das sind die Fragen, die einen beschäftigen (sollten), wenn man merkt, dass man in den Routinen anderer Leute feststeckt und das Allerwichtigste im Leben einfach nicht da ist.

Marco Damghani „Die Insel Sertralin“ Jaron Verlag, Berlin 2024, 24 Euro.

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