Im August wäre Hans Gustav Bötticher 140 Jahre alt geworden, wäre er nicht schon 1934 im Alter von 51 Jahren an Tuberkulose gestorben. Aber eigentlich ist er unsterblich. Und vielleicht stimmt es ja, dass er seinen Brettl-Kollegen Hans Reimann tatsächlich längst an Ruhm überflügelt hat. Was schade wäre, denn verdient haben ihn beide – der in Leipzig geborene Albert Johannes Reimann und der in Wurzen geborene Knabe, den die Welt nur noch als Joachim Ringelnatz kennt.

Beide stehen für den unverwechselbar sächsischen Humor, wie er auch in den Büchern von Lene Voigt (geboren in Leipzig) und Erich Kästner (geboren in Dresden) lebt. In den Ruhmesblättern ihrer Geburtsstädte werden sie meistens vergessen, weil die Stadtvermarkter den Humor nicht so ernst nehmen. Und auch nicht begreifen, dass die Seele der Menschen, die da wohnen, immer im Humor zu suchen und zu finden ist.

Die kleine, liebenswerte Ausnahme: Wurzen, wo Hans Gustav 1883 im Haus am Crostigall geboren wurde, das im April ganz offiziell als Literaturhaus öffnete. Träger ist der Ringelnatz-Verein. Der hier eigentlich zwei Humoristen würdigen kann.

Denn auch der Vater vom kleinen Hans, Georg Bötticher, war neben seiner erfolgreichen Arbeit als Musterzeichner ebenso ein bekannter und beliebter Humorist, der tapfer in sächsischer Mundart schrieb. Mit seinem Dichter-Kollegen Edwin Bormann ist er am Alten Rathaus in Leipzig mit einer Ehrentafel gewürdigt.

Ein Schulrüpel ersten Ranges

In Leipzig sucht man ein Ringelnatz-Haus vergeblich, auch wenn das Haus noch steht, in das Georg Bötticher 1889 mit seiner Familie zog und von wo aus der kleine Hans zur Schule ging – zuerst in die 4. Bürgerschule am Johannapark, dann ins König-Albert-Gymnasium am Zoo, von dem er 1897 flog, nachdem er sich im Zoo hatte tätowieren lassen. Wer über das Leben von Ringelnatz schreibt, der hat was zu erzählen.

Und zu zitieren, so wie die Einschätzung des Schuldirektors zum geschassten Hans Bötticher: „Ein Schulrüpel ersten Ranges, aus lauter Ungezogenheiten zusammengesetzt.“

Wenn das mal keine treffende Einschätzung ist. So etwas bekommt man wirklich nur, wenn man sich nicht verbiegen lässt. Was trotzdem kein leichtes Leben verheißt. Das vermuten die Schuldirektoren nur, weil sie sich ein Leben außerhalb von Regeln und Disziplin nicht vorstellen können.

Wolfgang Knape hat deshalb zwar sichtlich Freude daran, das Leben des Jungen zu erzählen, der auf der Weißen Elster seine Träume vom Meer auslebte, bevor er 1901 tatsächlich aufbrach und als Schiffsjunge seine Träume verwirklichte.

Aber wie das so ist mit Träumen: Die raue Wirklichkeit holt einen dann doch wieder auf die Erde zurück. Glück für Knape und alle, die sich mit diesem Seemann aus Sachsen beschäftigen: Über das Meiste hat Ringelnatz selbst geschrieben – mit Hintersinn und sächsischer Lust an der Untertreibung. Freunde und Verehrerinnen haben aufbewahrt, was ihnen möglich war.

Denn Typen, mit denen Schuldirektoren meist nichts anfangen können (Reimann war auch so einer), werden dann trotzdem geliebt von all jenen, die merken: Der Kerl hat ein riesiges Herz, eine zarte Seele und eine große Klappe.

Hausdichter in München

Manchmal muss das auch ein Seemann erst mal begreifen und seine Karriere – notgedrungen – an den Nagel hängen, weil ihm schlechte Augen attestiert werden. Und nun? Nun begann wirklich erst das, was aus Bötticher Ringelnatz machte – auch wenn er bis zum Finden seines Alias erst noch einen Weltkrieg erleben musste. In München wurde dieser Bursche in Kathi Kobus’ „Simplicissimus“ zum Kabarettisten und Hausdichter.

Und fand Anschluss an die große literarische Welt dieser Zeit, deren Namen heute noch faszinieren: Mühsam, Wedekind, Zuckmayer, Asta Nielsen.

Was noch lange nicht hieß, dass er viel Geld zum Leben hatte. Das dauerte lange. Und als er es geschafft hatte, holte ihn die Tuberkulose ein. Und die Nazis kamen, die auch seine Bücher auf den Scheiterhaufen warfen. Nazis haben keinen Humor, auch wenn sie denken, sie hätten einen. Denn dazu braucht man Köpfchen und die Fähigkeit, über sich selbst zu lachen. Das können diese Leute nicht.

Sie wissen nicht mal, wie das gehen könnte. Was vielleicht gar nicht extra erwähnt werden müsste, wenn diese Leute nicht heute immer noch da wären, voller Bärbeißigkeit, Selbstgerechtigkeit und einen Rochus auf alles, was sie nicht verstehen. Und das ist eine Menge.

Dabei ist Knapes Buch gar nicht schwermütig, auch wenn man merkt, dass er sich auch noch 100 Jahre später sorgt um diesen kleinen, schmächtigen Mann mit der großen Nase und den leuchtenden Augen, um sein Auskommen und auch ein bisschen um seine Liebe, die dieser seefahrende Sachse ausgerechnet in Eisenach fand. Und die ihm treu war weit über seinen Tod hinaus, Muschelkalk, wie er seine Lona liebevoll nannte.

Ein unvergesslicher Besucher

Und dabei war er da noch ein Habenichts, wie er selbst vermeldete: „Ohne Geld, ohne Wohnung und ohne Verstand“ habe er gerade Lona Pieper geheiratet, schrieb er am 7. August 1920. Da begann seine Karriere auf den Bühnen der Weimarer Republik und mit Kuddeldaddeldu im Gepäck erst so richtig. Aber eben auch richtig. Denn er hatte seinen Ton gefunden und war unverwechselbar geworden.

Auch in Leipzig feierte er Triumphe. Obgleich München für ihn die eigentliche Heimat war – zumindest, bis dort die Nazis die Stimmung verdarben und er mit Muschelkalk ins noch nicht braunifizierte Berlin umziehen musste.

Wolfgang Knape schafft es tatsächlich in diesem handlichen Büchlein, das Leben dieses einzigartigen Originals aus Wurzen nachzuzeichnen, da und dort mit lustvollen Seitenblicken – etwa auf das liebreizende Dienstmädchen Klara Pleßke, aus der einmal die schöne Löwenbändigerin Claire Heliot werden sollte. Feine alte Fotos sind eingestreut, so dass man wie durch ein Guckloch ins Leben dieses Eigensinnigen schauen kann, der Eigensinn zur lyrischen Form entwickelt hat – und Waldidyllen für erzkonservativen Krimskrams hielt.

Und der in Wurzen geliebt wird und verehrt – außer von den Humorlosen, versteht sich. Und von dem es sogar einzigartige Fotos gibt, wie er mit Asta Nielsen seine Späße treibt im „Karusel“ in Vitte auf Hiddensee. Wo man ihn genauso wenig vergessen hat wie die Nielsen. Obwohl er nur einen Sommer da war. Aber manche Leute kommen nur einmal – und sorgen für Eindrücke, welche die Leute auf Generationen nicht vergessen.

So einer war dieser Hans Bötticher. Und vielleicht ist es auch deshalb so wichtig, mit so einem Büchlein daran zu erinnern, dass er aus Sachsen kam und seine „Ungezogenheiten“ der eigentliche Spaß an der Sache waren. Nur lernt man das halt nicht in der Schule, sondern draußen, wo das Leben tobt und Samoanerinnen mit Christbaumschmuck im Haar tanzen.

Wolfgang Knape „Ringelnatz aus Sachsen“, Tauchaer Verlag, Leipzig 2023, 13 Euro.

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