„Wer mehr will, als er braucht, zwingt das Bestehende, jedes gesunde Maß aufzugeben und wild zu suchen. Dann kommt der Krebs und schließlich das metastasierende Elend.“ Den Satz schreibt Michael Haas fast am Ende seines Buches, im Epilog seines „Parlamentsromans“, der eigentlich kein Roman ist, sondern eine kluge, bittere und ernüchternde Abrechnung aus dem Innenleben einer Landtagsfraktion in einer deutschen Provinzhauptstadt, die auch anders als Sternheim heißen könnte.
Ein Philologe im Ländle
Michael Haas ist eigentlich Philologe, war aber „zuletzt über vier Jahre im Landtag von Baden-Württemberg, davon 14 Monate als Pressesprecher einer Landtagsfraktion“. Monate, die ihn zutiefst verstört haben müssen, ernüchtert und desillusioniert. Und auch wenn er die Stadt, die Fraktion und die Akteure verfremdet, ist diese ganz spezielle deutsche Provinz leicht entzifferbar.
Denn es gibt nur eine deutsche Landeshauptstadt, in der derart die Autoindustrie das Sagen hat, geschwäbelt wird und ein riesiger Bahnhofsneubau seit Jahren für Schlagzeilen sorgt. VDP hat Haas jene Truppe genannt, deren Name „Vermögen durch Produktivität“ alles sagt über den Egoismus und die Klientelpolitik, die deren Vertreter betreiben.
Die deformierte Demokratie
Und auch wenn man anfangs fast geneigt ist, an eine hellblaue Newcomer-Band aus den Abgründen der deutschen Homophobie zu denken, geht es in diesem Buch nicht um diese Partei, sondern eher um das, was solche Radikalisierungen tatsächlich erst möglich und hoffähig macht. Denn sowas kommt immer von sowas.
Unsere Demokratie ist nämlich ziemlich kaputt. Oder sollte man besser formulieren: deformiert? Deformiert als System. Denn sie zieht – wie alle Hierarchien, in denen es Prestige, Macht und Geld zu verteilen gibt – genau den Menschentypus an, der diese Drogen sucht und braucht. Und der sich vor allem wohlfühlt in diesem Biotop, in dem Neid, Missgunst, Konkurrenz und Abstiegsangst ihre duftenden Blüten treiben.
Gerade in den Parteien, die sich schon seit Jahrzehnten als Postensicherungsmaschinen etabliert haben. Wie das funktioniert, zeigt Haas immer wieder im Detail. Sein Held Davidson ist nicht nur Pressesprecher der VDP-Fraktion und deren herrschsüchtiger Vorsitzenden Tamara Troll geworden. Er wird auch zum verstörten Beobachter, geradezu zwangsläufig. Denn als solcher gehört er zwar zu den Mitarbeiter/-innen der Fraktion. Aber als Mensch zählen sie nicht. Schnell merkt er, dass diese blassen Geschöpfe, die den Laden am Laufen halten, nicht mehr zählen als Dienstboten. Oft nicht einmal als das.
Verachtung als politische Phrase
Vielleicht auch, weil diese VDP in ihrer radikalen Haltung besonders extrem ist. Denn ihre plakativen Sprüche von Produktivität sind ernst gemeint. So ernst, wie die bekannten Sprüche über die „Leistungsträger“ in unserer Gesellschaft, mit denen niemals die Leute gemeint sind, die am Fließband stehen, Päckchen ausfahren, Brot backen, alte Menschen pflegen oder den Dreck von der Straße kehren.
Im Grunde landet man mit Haas auch in der Welt der politischen Wortverdrehungen, die Phrasen und Blasen, mit denen auch falsche Bilder geschaffen werden. Bilder von „Leistung“, die eigentlich nur Synonym für Reichtum sind, ererbten oder auf windige und rücksichtslose Weise erworbenen Reichtum. Wir haben schon längst eine Elite in Deutschland, die gar nicht mehr merkt, wie ihre Einkommen und Besitzstände immerfort von diesen kleinen armen Malochern erwirtschaftet werden, die sie so sehr verachten.
Reich, rücksichtslos, arrogant
Eigentlich ist die Partei schon richtig, in der Davidson hier gelandet ist. Denn kaum eine andere Partei steht für diese Arroganz des Reichtums und der Rücksichtslosigkeit, predigt permanent Effizienz, Produktivität und Leistungsbereitschaft wie eben diese. Es wäre ein Wunder, wenn sie im Inneren anders wäre.
Aber was Davidson erlebt, ist eine Fraktion von Egomanen, die permanent im Kleinkrieg miteinander stehen, die einander Posten und Vergütungen neiden und einander misstrauen, Intrigen spinnen und permanent zusehen, wie sie einander schaden und ausknocken können auf dem Weg nach oben, zu noch mehr Macht, Geld und Alimentierung.
Nur vor einer haben sie alle Angst: Tamara Troll, die die Menschen um sich herum wie Scheuerlappen behandelt, alt und grausam geworden in einem politischen Betrieb, in dem es für sie keinen Schritt weiter nach oben gibt, denn eigentlich braucht niemand diese Partei, auch nicht im Parlament von Sternheim. Sie wird nicht als Koalitionspartner gebraucht. Und irgendwelche sinnvollen politischen Programme und Ideen hat sie auch nicht.
Die Elite aus der Provinz
Haas geht sogar noch weiter und hält sämtliche Länderparlamente für überflüssig. Sie sind in seinen Augen nur Sammelbecken für Provinzpolitiker/-innen, die sich in endlosen Sitzungen über völlig sinnlose Dinge zerstreiten, Reden halten, die nur für die eigene Gefolgschaft gedacht sind, und ihre Belanglosigkeit damit kaschieren, dass sie sich – wie Troll – in endlosen Ich-bin-wichtig-Fotos ablichten lassen mit irgendwelchen noch wichtigeren Persönlichkeiten, in deren Glanz sie sich baden.
Aber irgendwelche menschlichen Beziehungen kennen sie nicht mehr. Und ihre Wähler/-innen erst recht nicht. Als gar der Jugendnachwuchs der Partei zum Besuch im Landtag auftaucht, hat Davidson regelrecht vor Augen, wie sich diese Partei der arroganten Elite fortpflanzt. Die sich so gern als fortschrittlich verkauft. Aber dieser Davidson ist zu sensibel, um dem Trug zu erliegen.
Mythos von der schwäbischen Hausfrau
Außerdem ist man in Sternheim – und in einer geradezu beschämenden Szene erlebt er mit, wie der Kulturreferent von Sternheim gerade seine Karriere ruiniert, weil er die Honoratioren der Stadt daran erinnert, dass der Reichtum vieler Sternheimer auf dem Raub an den jüdischen Mitbürgern und der rücksichtslosen Bereicherung im NS-Reich basiert. Bis heute.
Im Grunde rechnet Haas auch mit der so viel gepriesenen „schwäbischen Hausfrau“ ab, die nie etwas anderes war als ein schwäbischer Knicker, dem menschliche Großzügigkeit immer fremd war. Provinz eben, eine zu Geld gekommene Provinzstadt: „Die Sternheimer liebten ihr Geld wie die Italiener ihre Kinder. Großmut war ihnen fremd. In Sternheim zahlte kein Mensch alla romana, in Sternheim wurde die Zeche auf Heller und Pfennig für jeden einzeln geschieden und beglichen.“
Architektur gewordene Knickrigkeit
Geld hat kein Herz und keinen Geschmack. Die Seiten über die architektonische Wüste Sternheim gehören wohl zur schönsten und bittersten Kritik am neudeutschen Städtebau, die in letzter Zeit formuliert wurde. Und der Kasten, in dem das Parlament residiert, kommt nicht besser weg. Eigentlich ein sehr schönes Buch, so aus ostdeutscher Provinz betrachtet.
Denn es zeigt, dass die glorreichen Sieger im innerdeutschen Dauerwettbewerb auch nur schäbige Knicker und selbstgefällige Provinzler sind. Als hätte sich seit Wolfgang Koeppens Roman „Das Treibhaus“ von 1953 nicht wirklich viel verändert.
Hat es wohl auch nicht. Die Vergangenheit versteckt man unter selbstgefälliger Maskerade. Wer sie anspricht, wird zum Nestbeschmutzer. Während in einigen der ach so demokratischen Fraktionen diverse Karrieristen sitzen, die sich selbst dann nicht für Antisemiten halten, wenn sie ihre ganzen blasierten Vorurteile zu Israel und den deutschen Juden herauswürgen, so geschichtsvergessen, dass man diesen armen Davidson eigentlich nur noch schreiend davonlaufen sehen möchte.
Aber er hält aus. Nicht bis zum bitteren Ende. Das tut er sich nicht an. Aber der Gedanke, dass er hier völlig in den falschen Film geraten ist und unter Leute, die einen nur erniedrigen, beschämen und krank machen, der ist früh da. Und früh lernt er, lieber die Klappe zu halten und schon gar nicht zu widersprechen.
Macht verdirbt den Charakter
Und sage niemand, dass er dieses Gefühl nicht kennt, wenn er in manche dieser politischen Vereine kommt, die eigentlich nur auf dem Papier noch Vereine sind, in Wirklichkeit aber Machtzentralen, in denen Abweichler, Abtrünnige oder offene, ehrliche Menschen zutiefst suspekt sind. Schnell merkt Davidson, dass er am besten die Klappe hält, gehorcht und sich verstellt.
Denn Troll schreit nicht nur und lässt ihn auch noch am Feiertag antanzen, sondern macht ihn vor allen Leuten herunter. Macht verdirbt den Charakter. Und zwar gründlich. Und unsere Parlamente sind eine Art Luftschiffe, die nicht wirklich viel mit dem Leben der Menschen draußen zu tun haben. Hier gelten andere Regeln und Gesetze. Und dass das so ist, hat mit den Strukturen zu tun, diesen ganz und gar nicht unattraktiven Abgeordnetenposten mit all ihren Vergünstigungen.
Viele gehen nicht mehr zur Wahl
Wir alimentieren sie königlich, unsere Volks-Vertreter, die in einigen Fraktionen nicht mal dran denken, irgendein Volk zu vertreten. Etlichen geht es nur um ihren Posten und den sicheren Sitz im Parlament. Von wo sie ihre Strippen ziehen. Denn darüber, ob sie auch in den nächsten fünf Jahren wieder an die Futterkrippe dürfen, entscheiden nicht die Wähler, sondern ihre Seilschaften in der Partei, all die von ihnen abhängigen Leute in den unteren Hierarchien, die von ihnen ein paar Brotsamen erhalten.
Fast wäre man ja geneigt zu sagen: Klar, das ist so. Deswegen wählt man doch. Das weiß doch jeder. Die Wahrheit aber ist: 40 Prozent von uns gehen deshalb schon lange nicht mehr zur Wahl. Warum soll man wählen gehen, wenn die gewählten Abgeordneten dann doch nur ihre eigene Karriere und Versorgung im Kopf haben und sich der Parteiräson fügen, opportunistisch mitstimmen selbst dann, wenn ihr „eigenes Gewissen“ etwas anderes sagt?
Theater im Landtag
Ist es wirklich so? In einigen Parteien, die sich zu jeder Wahl als Stabilitätsanker und Retter der Wirtschaft verkaufen, auf jeden Fall. Und Haas lässt einige Journalisten auftreten, stellvertretend für einige Kollegen aus der erlebten Wirklichkeit, die das genauso nüchtern sehen, die wissen, dass im Landtag ein riesiges Theater gespielt wird und viel zu viele Abgeordnete nur ihr eigenes Fortkommen und Wohlergehen im Sinn haben.
Parteien als Postenbeschaffungsmaschinen. Die umso begehrter sind, wenn sie tatsächlich an die Regierung kommen. Dann können sie nämlich auch noch Posten als Minister und Staatssekretäre verteilen, lauter gut dotierte Pfründe, die die Belohnten bis zu ihrem Lebensende so luxuriös versorgen, wie es die normalen Erwerbstätigen da unten in der Realität niemals erlangen werden.
Es lockt die Falschen in die Politik
Es steckt als kleiner, bohrender Gedanke in diesem Buch, dass eigentlich unser politisches System reif ist für eine Generalreform. Denn am Beispiel der rücksichtslos drauflos wütenden Tamara Troll zeigt Haas ja, wie dieses Milieu gerade die ränke- und herrschsüchtigen Charaktere befördert – in wichtige Funktionen befördert, wo sie richtig Schaden anrichten können.
Und weil sie das Klima der Unterwerfung bestimmen, kommen andere Menschen, die politisch vielleicht wirklich interessiert sind und Dinge ändern wollen, gar nicht erst hoch, erleben schon in den ersten Tagen in der Fraktion das Klima des Misstrauens und der Angst. Denn wer sich nicht fügt und kuscht, der erlebt nicht nur tägliche Erniedrigungen und Ausgrenzungen, nein, dessen politische Karriere ist schon beendet, bevor sie begonnen hat.
Nicht alle sind wie die VDP
Nur ist dieser Davidson viel zu sensibel, als dass er das aushalten würde. Bitter und drastisch geht er mit dieser VDP und ihrer Weltsicht ins Gericht, die auf Arme, Benachteiligte, Frauen und Kinder mit derselben Verachtung herabschaut, mit der die deutschen Eliten schon immer auf all jene herabgeschaut haben, denen sie Leistung gepredigt haben mit der blasierten Haltung von „Leistungsträgern“, die die Armen und Geprellten auch dann noch verächtlich machen, wenn sie ihnen das Recht auf angemessene Bezahlung und Altersversorgung verweigern.
Denn es sind ja nicht die Armen und Ausgebeuteten, die in unseren Parlamenten sitzen. Die haben weder die Zeit noch die Kraft noch die Seilschaften, die ihnen den Weg in die Parlamente ebnen könnten.
Natürlich hat man ja die große Hoffnung, dass nicht alle Parteien so sind wie diese VDP. Und es gibt zum Glück ja auch noch andere.
Des Wählers Liebe zu den Landesvätern
Aber Davidson erinnert mit seiner Schilderung des schwäbischen Landesvaters auch daran, dass in der Politik auch noch andere Mechanismen wirken als die von Vernunft und Klugheit. Die meisten Wähler/-innen wählen weder mit dem Herzen noch mit dem Kopf. Sie wählen Illusionen und Rollen. In Landtagswahlen genauso wie in Bundestagswahlen. Sie möchten eigentlich von Politik nicht behelligt werden und auch nicht als Demokrat gefragt sein.
Sie möchten ihre Ruhe und das schöne Gefühl, wieder jemanden gewählt zu haben, der an ihrer Stelle die Dinge am Laufen hält. Möglichst so, dass sich für sie nichts ändert. Schon gar nicht an den verkrusteten Besitzständen. Und sie sind auch nur zu bereit, der großen Zerstörung beizuwohnen, wenn die Akteure auf der Bühne in den Schmutz gezerrt und demoliert werden sollen. Politik als ein großer Zirkus, in dem die Wähler/-innen nur zu gern so tun, als wären sie daran unschuldig.
Märchen vom Tellerwäscher und der Freiheit
Denn was Haas beobachtet, können auch alle anderen beobachten. Dazu muss man gar nicht die Last auf sich nehmen und vier Jahre in einem Landesparlament arbeiten oder gar in einer derart von ihrer Auserwähltheit überzeugten Partei wie der VDP. Die ganzen hohlen Phrasen, denen die tägliche Praxis dieser Leute regelmäßig widerspricht, sind allgegenwärtig.
Etwa das vielgeschundene Wort Freiheit, das eigentlich längst entkernt ist, weil es im politischen Sprachgebrauch zum Ersatzwort für Rücksichtslosigkeit, Egoismus und Deregulierung geworden ist. Samt der abgelatschten Geschichte vom Tellerwäscher, der ja im Land der schönen Möglichkeiten alles werden kann – wenn er nur endlich die Freiheit ergreift, über Leichen zu gehen und sich mit allen Mitteln zu bereichern.
Ein Märchen, das uns ja nun seit 40 Jahren als „Freiheit“ verkauft wird. Dass aber den Kern unserer Gesellschaft längst zerfressen hat. Wer dem widerspricht, muss sich Gefühlsduseligkeit und Gutmenschentum vorwerfen lassen. Wer eine solidarischere Gesellschaft will, wird schnurstracks als Kommunist an die Plakatwand genagelt.
Uralte Rollenbilder als neue Fassade
Und dabei findet dieser Davidson in dieser so von „Freiheit“ besoffenen Partei nichts davon. Nur lauter Unterwürfigkeit und Opportunismus. „Die Männer der VDP karikierten nicht nur die Freiheit, sondern sie inszenierten gemeinsam mit ihrem Idol ein chauvinistisches Kammerspiel“, stellt dieser Davidson fest.
Der ja auch mitkriegt, welches Privatleben die ihn so schäbig behandelnden Abgeordneten tatsächlich haben. „Wer antiquierte Geschlechter- und Rollenbilder offiziell verwirft, doch beruflich wie familiär mit Hingabe praktiziert, ist immer willkommen in der VDP.“
Und selbst beim Ausflug zum großen Kiebich nach Berlin oder bei der „gemeinsamen“ Weihnachtsfeier merkt er, wie sich alle gegenseitig belauern – und diesen seltsamen Davidson erst recht. Wer nicht mitjubelt und mitfeiert, macht sich verdächtig. Ist schon verdächtig und muss sich selbst auf dem Gang zur Toilette bohrende Fragen gefallen lassen: Ist einer nicht schon Verräter, wenn er kein Opportunist ist?
Kollegalität und Menschlichkeit sucht man vergebens
Eine ganz böse Frage. Aber wenn ein Parteiensystem wie das unsrige gerade so funktioniert, ist sie sehr aktuell. Denn – das stellt Haas sehr explizit fest – das sorgt dafür, dass nachdenkliche, kritische und sensible Menschen diesem politischen System lieber fernbleiben. Denn Davidson spürt es ja selbst, wie ihn dieses Gehorchenmüssen krank macht. Er sieht, wie auch andere Mitarbeiter/-innen der Fraktion gemobbt und getriezt werden, bis sie zusammenbrechen oder ausrasten.
Was man nicht findet – jedenfalls nicht in dieser VDP – ist ein Klima der Kollegialität, des Vertrauens und der kritischen Diskussion. Das, was wir eigentlich brauchen in der Politik. Denn sie soll ja unsere großen und kleinen politischen Probleme lösen, echte Vorschläge machen und auch selbstkritisch sein.
Streit, der keiner ist
Aber dafür ist zumindest in dieser fiktiven Partei im Sternheimer Landtag kein Platz. Jeder ist nur mit der eigenen Profilierung beschäftigt, mit Intrigen und der permanenten Produktion von Meldungen, die die politischen Gegner niedermachen, verächtlich machen, geradezu zum Zerrbild machen für eine fiktive Öffentlichkeit, vor der man so tut, als stritte man ehrlich und mit offenem Visier.
Aber der Streit ist eigentlich kein Streit, schon gar kein kundiger über die Sache. Es ist, als sammelten sich hier lauter Leute, die den Frust über ihre eigene Unvollkommenheit an Anderen auslassen, und die das „Volk“ eigentlich nur zum Zeugen einer einzigen Schlammschlacht machen wollen. Zumindest einige Kandidat/-innen in diesem Roman ziehen daraus, wie es aussieht, vollkommenste Befriedigung. Sie genießen es regelrecht, wenn sie über andere triumphieren und sie niedermachen können.
Spiegel einer elitären Gesellschaft
Und eigentlich lässt Haas auch anklingen, dass das nicht nur im Politikbetrieb die Erfahrung vieler Berufseinsteiger ist. Das kann einem auch in anderen deutschen Hierarchien begegnen. Denn wir haben ein Land der Privilegien geschaffen, in dem die Hierarchien mit lauter Leuten besetzt sind, die nicht nur staatlich bestens alimentiert sind, sondern auch den größten Einfluss auf die Verteilung von Einfluss und Geld haben.
„Die Schule des Berufslebens war für mich beendet“, formuliert dieser Davidson seine Gedanken zum Abschied. „Nie wieder würde ich etwas tun, das mir widerstrebte, nie wieder Lebenszeit opfern, um zu erfahren, was ich ohnedies wusste.“
Im Grunde legt er den Finger in die Wunde einer von „Leistung“ besessenen Gesellschaft, die hinter der Lüge von der Leistungsgerechtigkeit nichts anderes versteckt als die alte Arroganz der alten Eliten, die das Land als einen Selbstbedienungsladen betrachten, sich immerfort Posten und Vorteile sichern und ihre ganze Verachtung auf die Leute da unten auskübeln, die sich einfach nicht genug anstrengen, um genauso rotzfrech reich zu werden wie sie.
Parallelen zu Deutschland sind kein Zufall
„Wer sich als Zukunftspartei verstand und Vermögen durch Produktivität propagierte, war bereits fossiliert und damit Vergangenheit. Wer wie die VDP Herzens- und Geisteskrüppel produzierte, war nichts, das einem Salonbolschewisten wie mir gefallen konnte“, sinniert Davidson. Und verlässt den Ort seiner fortwährenden Erniedrigung.
Aber genau dieses elitäre Denken hat nun einmal auch dazu geführt, dass unser Land zutiefst gespalten ist, politische Wahlen sich in schäbige Schlammschlachten verwandelt haben und sich Leute als Heilsbringer verkaufen, denen die meisten Wähler völlig egal sind, wenn nicht gar unangenehm und störend. So wie die verachteten Mitarbeiter/-innen in der VDP-Fraktion.
Wie man sich da fühlt, beschreibt dieser Davidson an einer Stelle so: „Nach vollzogener Nutzung geben sie uns noch das unangenehme Gefühl, ein Kleenex zu sein, an dem jeder Schmutz haften bleibt. Es ist nahezu unmöglich, sich der klebrigen Freundlichkeit dieser Menschen zu erwehren.“
Kein Platz für Leute mit Skrupeln
Und dem geht eine sehr schöne Stelle voraus: „Hinter ihren Manieren verbirgt sich weder Anstand noch Skrupel, nur unerbittlicher Pragmatismus. Was und wer ihnen dient, wird genutzt, was und wer ihnen nicht dient, wird ausgeschlossen und unter Paragraphen, offiziellen Dekreten und Dienstvorschriften begraben. Vertreter dieser Beamtenkaste definieren Menschen über ihren Nutzen und benutzen sie ausnahmslos in ihrem Interesse.“
Hinter der beißenden und ernüchternden Analyse eines von Intrigen und Dünkel geprägten Provinzparlaments scheint die Kritik an einem gesellschaftlichen Zustand auf, in dem die Inhaber von Pfründen und Privilegien sich für „das Volk“ halten und mit einer uralten, nur zu gut bekannten Verachtung auf all jene herabschauen, die nicht dazugehören.
Und die – wie dieser Davidson – auch nicht dazugehören möchten. Nur ist eigentlich kein Platz vorgesehen für diese Anständigen und Skrupelbehafteten. Nicht in diesem Selbstbild einer Leistungsgesellschaft, die eigentlich nur eine Privilegiengesellschaft ist, die so tut, als hätte sie all die Vergünstigungen durch ihre bloße schöne Schäbigkeit verdient.
Kein Buch für Leute, die gern ihre Illusionen bewahren möchten. Aber eines für all jene, die wissen, wie man sich fühlt, wenn man unter Schnorrern und Aufschneidern gern anständig bleiben möchte.
Michael Haas: Kritische Masse, Edition Outbird, Gera 2021, 14,90 Euro.
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