Das ist Leipziger Bescheidenheit, so ein Buch ganz einfach „Historische Ornamentschablonen aus Leipziger Wohngebäuden“ zu nennen. Und nicht „Farbrausch in Leipziger Treppenhäusern“ oder „Komm rein und staune!“ Oder: „Leipzigs gerettete Farbenpracht“. Warum stapeln Leipziger/-innen eigentlich immer so tief? Selbst wenn sie so ein Prachtwerk von Buch vorlegen, das weltweit seinesgleichen sucht.
Gerade haben ja Wolfgang Hóquel und Richard Hüttel ihr Buch „Der Traum von einer schönen Stadt“ vorgelegt, in dem sie versuchen zu erklären, warum die alte Gründerzeitstadt Leipzig heute Reisende aus aller Welt derart fasziniert und was das mit dem Gespür begnadeter Architekten für das menschliche Maß und für Schönheit zu tun hat.
Aber es waren nicht nur die Architekten, die diese „schöne Stadt“ schufen. Sie brauchten auch Bauherren, die es sich genauso wünschten. Und Mieter, die diese Schönheit zu würdigen wussten. Verdammt viele Mieter. Die gab es zwar, als Leipzig von rund 60.000 Einwohnern im Jahr 1840 auf über 700.000 anwuchs. Aber natürlich gehörte auch der wachsende Reichtum dazu und das Entstehen eines Bürgertums, das auch im Wohnumfeld Wert auf Schönheit legte.
Doch während die Ausstattung der damaligen Wohnungen fast völlig verschollen ist (nur alte Fotos zeugen von scheinbar viel zu wuchtigen Möbeln und dunklen, schweren Vorhängen vor den Fenstern), haben die Ausmalungen der Eingänge und Treppenhäuser in tausenden Häusern überdauert.
Und während sich die üblichen Architekturbücher zumeist darauf beschränken, die Wiederherstellung der äußeren Pracht der Gründerzeit zu schildern und zu zeigen, wird mit Constanze Arndts Buch erstmals ein Aspekt der denkmalgerechten Sanierung sichtbar, den in dieser Fülle vielleicht noch Post- und Pizzaboten und Möbelträger zu sehen bekommen. Vielleicht sogar staunend. Wenn sie noch Zeit zum kurzen Staunen haben.
Doch wer in den vergangenen Jahren mal zu Wohnungsbesichtigungen war oder Freunde oder Bekannte hat, die in solchen Häusern wohnen (manchmal hat ja auch der eigene Hausarzt oder Rechtsanwalt dort seine Kanzlei), der hat ganz bestimmt ein Stück dieser Schönheit gesehen, die einen schon mit dem Öffnen der Eingangstür empfängt.
Denn die Zeitepoche, die Constanze Arndt hier sichtbar macht, ist eine, in der es für Architekten und Bauherren selbstverständlich war, Hauseingänge einladend und beeindruckend zu gestalten. Man wollte zeigen, dass man sich etwas leisten konnte – und gleichzeitig Wert auf Schönheit und Behaglichkeit legte. Und wer das Pech hat, in einem als „modern“ gedachten Haus der Gegenwart wohnen zu müssen, den wird der Unterschied erschlagen. Der wird merken, welch ein Geiz und welche Lebensunlust im modernen Bauen und Weiße-Wände-Streichen liegt.
Und niemand wäre besser berufen gewesen, so ein opulentes Buch vorzulegen als Constanze Arndt, die an der HGB Leipzig studiert hat und auch als Grafidesignerin ihre Leistungen anbietet. Denn ab 1997 arbeitete sie auch als Restauratorin. Das Jahr ist kein Zufall, denn damals kam die Sanierung der riesigen Leipziger Gründerzeitbestände erst so richtig in Gang und Leipziger Handwerksbetriebe konnten (und mussten) sich oft auf uralte Techniken neu spezialisieren, die in DDR-Zeiten praktisch brachgelegen hatten. Das ging vom Richten uralter, reich verzierter Haustüren über historische Dacheindeckungen bis zum Wiederherstellen stimmungsvoller Holztreppen.
Und in den Treppenhäusern wurden die alten Anstriche wieder freigelegt. Eine zuweilen fast archäologische Arbeit, mit der die Restauratoren tief hineintauchten in das Selbstverständnis jener fast 100 Jahre, in denen Maler(firmen) in Leipzig eben nicht nur langweilige weiße Flächen ausmalten, sondern in hochprofessioneller Ausführung Ornamente in einem schier erschlagenden Reichtum auf die Wände brachten und das Entrée tatsächlich in etwas verwandelten, was man heute wieder als als atmosphärisch, einladend und stilvoll empfindet.
Und Constanze Arndt hat nicht nur mitgeholfen, in tausenden Häusern die alten Ausmalungen freizulegen und zu rekonstruieren. Sie hat auch an all ihren Arbeitsstellen die Muster gesammelt. Über 1.800 Häuser hat sie derart inzwischen dokumentiert. In diesen Band haben Ornamente aus über 1.500 Leipziger Häusern gefunden. Und wenn man vorher noch dachte: „Klar, das muss damals auch serielle Arbeit gewesen sein, man müsste also dieselben Muster immer wieder finden.“ Der wird eines Besseren belehrt.
Der lernt mit Constanze Arndt zuallererst, dass in Leipzigs Bürgerhäusern sogar fünf verschiedene Kunstepochen nachweisbar sind – vom Spätklassizismus (1840–1870) bis zum Art déco (etwa 1920 bis 1935). Mit den Nationalsozialisten brach das ab. Was so ganz sanft den Gedanken weckt, dass diese uniformierten Kraftmeier auch Kunst und Kultur zutiefst verachteten. Stilvoll bauen konnten sie sowieso nicht.
Und so begegnet einem in Leipziger Treppenhäusern das kulturvolle Selbstverständnis eines Bürgertums, das quasi mit Goethe, Schinkel und Winckelmann eine eigene Kultur entwickelte, das anfangs noch in der Antike seine Vorbilder sah (Klassizismus) und sich mit der scheinbar so eklektizistischen Gründerzeit auch zunehmend emanzipierte und am Ende tatsächlich eigene Kunststile hervorbrachte.
Denn spätestens der Jugendstil (1895–1910), der Reformstil (1910–1920) und Art déco gehören dazu. Kunst war eben nicht nur Sache der Künstler und Kunstkritiker. Binnen kürzester Zeit wurden neue Stile auch Bestandteil des Wohnalltags. Was auch dazu führte, dass die Ausmalungen in den Treppenhäusern oft sogar nach 10 Jahren schon wieder übermalt wurden in völlig neuer Gestaltung.
Es muss Malerfirmen gegeben haben, die sich auf solche kunstvollen Arbeiten regelrecht spezialisiert hatten, wie ein Fund zeigte, den Arndt in Gohlis machte, wo praktisch das Haus selbst zur bunt ausgemalten Visitenkarte so eines Malerbetriebes gemacht worden war. Die Malermeister mussten ganze Berge von Entwürfen und Schablonen vorrätig gehabt haben. Während sie in der Frühzeit wahrscheinlich alles noch per Hand auf den Putz auftrugen, muss spätestens mit dem Bauboom der Gründerzeit die Schablone zum Einsatz gekommen sein, mit der auch die nicht so professionellen Gehilfen in der Lage waren, zunehmend komplexere und farbigere Ornamente sauber auf die Wand zu bringen.
Spätestens Jugendstil und Art Déco haben in manche Hausflure geradezu eine überschäumende Blütenpracht gebracht. Eigentlich haben die damaligen Handwerker mit diesen Ausmalungen längst die Schwelle zur Kunst überschritten. Auch wenn mit vorgefertigten Schablonen gearbeitet wurde. Aber die vielen Details, die Constanze Arndt fotografiert hat, zeigen, dass sich kaum ein Muster wiederholt. Manches verrät noch seinen Ursprung in der römischen Antike. Oft wurden klassische Elemente übernommen, immer wieder neu variiert. Ganz bewusst aber wurden die Wände auch strukturiert und farbig gestaltet. Das nackte, leere Weiß kannte diese Zeit schlicht nicht.
Und je weiter man sich durch die Zeit blättert, umso mutiger werden die Entwürfe. Zuweilen sogar übermütig, gerade in der Gründerzeit, die Constanze Arndt auch als eine Zeit der Tricks und Täuschungen bezeichnet. Denn jetzt wurden sogar Marmorierungen, Holzmaserungen und plastischer Schmuck imitiert. Selbst die Farbwahl für Wände, Decken, Sockel und Ornamente ist zeittypisch. Genauso wie einige Motive sehr zeittypisch sind – so wie Girlanden. Kränze, Blumenbouquets oder Vögel.
Da muss die Künstlerin gar nicht viele Worte verlieren – die reine Bilderflut genügt, um den Reichtum sichtbar zu machen, der in tausenden Leipziger Häusern aus dieser Zeit wieder liebevoll zum Vorschein gebracht wurde. Und all diese immer wieder durch ihren Einfallsreichtum bestechenden Ornamente zeigen, dass das 19. Jahrhundert tatsächlich ein farbenreiches war, dass das (neue) Bürgertum sich ganz bewusst mit Schönheit umgab.
Und natürlich kommt man ins Grübeln: Wann und warum ist das eigentlich verschwunden? Waren nur die Totalitarismen mit ihrer exerzierten Kunstfeindlichkeit und ihrem heroischen Kraftmeierstil schuld daran? Denn das Schönheitsempfinden ist ja nicht wirklich verschwunden. Wer eine Wohnung in einem dieser Häuser bekommt, lebt gern darin und genießt diese Schönheit bei jedem Gang nach draußen.
Und daran, dass so eine gemalte Sinnenfreude nicht auch heute machbar wäre, kann es auch nicht liegen. Die Ornamente sind alle reproduzierbar und Constanze Arndt hat seither tausende Schablonen angefertigt, die jederzeit bei ihr auch bestellt werden können. Niemand muss auf Schönheit verzichten.
Und selbst an die wilden Graffiti der Gegenwart denkt man dabei, die ja vor allem auch ein chaotischer Protest gegen leere weiße Wände sind. Kann es sein, dass der Mensch in einer nüchtern weißen Welt gar nicht leben will? Diese als eisig und abweisend empfindet? Dass er gestaltete Schönheit dringend braucht zum Sich-heimisch-Fühlen?
Jede einzelne Seite mit all den völlig verschiedenen Ornamenten in diesem Buch sagt eigentlich: „Ja. Der Mensch hält ungestaltete Räume schlichtweg nicht aus.“
Und selbst wer gerade kein Haus ausmalen möchte, kann durch diese Seiten spazieren und wird staunen und sich freuen, wie viel Schönheit mit farbig gestalteten Ornamenten in die Welt kommt. Jede Seite macht darauf aufmerksam, dass man künftig beim Besuch solcher Häuser gut daran tut, ganz langsam durch die Toreinfahrt zu gehen, den Kopf im Nacken, um die gemalte Fülle zu bewundern.
Und dasselbe im Treppenhaus, wo man auf Sockel und Wände, aber auch auf die oft farbig gestalteten Fenster, auf die filigranen Aus- und Ummalungen aller Flächen achten kann. Und natürlich auf die Motive, die oft einfach die Freude am Blühen und Wachsen der Natur zeigen. Manchmal aber zeigen sie auch die Professionalität der Maler, die die Formensprache von Jugendstil und Art Déco in immer neue Welten ausweiteten. Welten, in denen heute schon lange keiner mehr unterwegs ist, als wäre uns die ganze Phantasie abhanden gekommen. Oder weggereinigt mit Meister Propper und einem irren Beharren darauf, dass weiß geschrubbte Wände für eine Art Reinheit stehen, die schon im Auge wehtut.
Und weil Leipzig auch mit dieser ornamentalen Fülle deutschlandweit einzig dasteht, ist das Buch selbst für Menschen ein Geschenk, die nicht in solchen Häusern wohnen können. Können wir uns Schönheit einfach nicht mehr leisten? Eigentlich ist das ganze Buch ein einziges Plädoyer für die Wiederentdeckung der gestalteten Schönheit, die eben in ihrer Motivwahl immer auch signalisiert: Hier wohnen Menschen, denen man Gefühle und Geschmack zutraut. Und denen man sie auch freigiebig schenkt. Man bekommt gleich eine ganz andere Stimmung und steigt mit guten Gefühlen die Treppen hinauf.
Ich schreibe jetzt nicht, wie man sich in anderen Treppenhäusern fühlt.
Das Buch ist genau das, was man mit dem Begriff Augenweide bezeichnet. Ein Lustgewinn sowieso. Eine praktisch fast nur aus Bildern bestehende Wiederentdeckung, dass Baukultur einmal etwas mit Schönheit zu tun hatte. Und wer auf die Straßennamen achtet, merkt bald, dass es diese Fülle eben nicht nur im Waldstraßenviertel gibt, sondern auch in alle anderen damals gebauten Quartieren – in der Südvorstadt genauso wie in Eutritzsch, Gohlis und Reudnitz.
Überall kann es einem passieren, wenn man dort mal zu Besuch ist, dass man mit offenem Mund im Treppenhaus steht und sich freut wie ein Schneider oder Zaunkönig. Man möchte zwitschern vor Wohlbehagen. Wohnen kann so schön sein. Und Nach-Hause-Kommen auch.
Constanze Arndt „Historische Ornamentschablonen aus Leipziger Wohngebäuden“, Pro Leipzig, Leipzig 2020, 76 Euro.
Die neue „Leipziger Zeitung“ Nr. 83: Zwischen Ich und Wir
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