Herrn Rudi geht es gar nicht gut. Herr Rudi klingt ein bisschen niedlich. Man kennt diese Liebe der Salzburger Autorin Anna Herzig zu ihren literarischen Gestalten. Dabei sind es gar keine niedlichen Gestalten, sondern Menschen wie du und ich und die anderen alle. Menschen, die sich fürchten, sich Sorgen machen, ein bisschen geliebt werden wollen und doch wissen, dass sie eines Tages sterben werden. Und Herr Rudi wird bald sterben.
Sehr bald sogar. Und dabei hat er doch gerade erst seinen Abschied vom Arbeitsleben gefeiert. Den Tag, auf den sich andere Leute ein Leben lang freuen: Noch ein letztes Mal mit den Kollegen feiern und dann ab in eine Zeit, in der man all das nachholen kann, was man im Arbeitsleben nie geschafft hat. Denn wofür stürzt man sich 30, 40 Jahre lang in einen Beruf, der manchmal an die Substanz geht?
Gerichtsvollzieher zum Beispiel. Einer wie Herr Rudi weiß, wie man damit lebt, dass einen die Leute, die man besucht, nicht mögen, dass sie regelrecht schreckerstarrt und total verängstigt sind. Denn wenn der Gerichtsvollzieher klingelt, bricht meist ein Kartenhaus zusammen. Dann gibt es keine Ausreden mehr.
Obwohl die meisten Menschen, die das erleben, keine Ausreden brauchen. Denn die meisten landen in so einer Situation nicht, weil sie geprasst und alles verjuchtelt haben, sondern weil ihnen irgendwelche Behörden, Kassen oder Unternehmen einfach den Hahn zudrehen und die Vollstreckung beantragen. Obwohl sie wissen, dass sie den eh schon Ausgequetschten dabei auch noch das Letzte nehmen.
Das ist in Deutschland nicht anders als in Österreich.
Nur dass Herr Rudi gelernt hat, seine Gefühle dabei außen vor zu lassen. Auch dann, wenn er Mitleid hat. Denn das Gericht will von ihm nur eindeutige Belege haben: Ist da was zu holen? Haben sich die Vollstreckten an die Gesetze gehalten? Können sie überhaupt irgendetwas zahlen?
Wir lernen nicht alle seine Fälle kennen, nur zwei. Weil sie wichtig wurden für sein doch ziemlich einsames Leben. Denn seine einzige und wahre Liebe Olivia ist schon vor langer Zeit gestorben. Solche Geschichten erzählen nicht viele Autor/-innen. Auch weil sie sich in die meisten Vorfälle von Liebe nicht einfühlen können. Sie malen dann meistens süßliche Hollywood-Szenen, bei denen man merkt: Sie haben entweder nie wirklich Liebe kennengelernt. Oder sie können es einfach nicht – über Liebe schreiben, so, wie sie ist.
Und ein bisschen fühlt man sich – wenn Anna Herzig ihren Helden eintauchen lässt in die Erinnerung an seine große Liebe – an Tucholskys zwei Liebes-Reise-Romane erinnert, „Rheinsberg“ zuallererst. Da ist auch so eine fröhliche Flapsigkeit, bei der man merkt, dass die beiden ohne einander eigentlich nicht mehr sein können.
Jedenfalls nichts Ganzes und nichts Gescheites. So war das wohl auch mit Herrn Rudi und seiner Jugendliebe Livia, die ihm am Krebs einfach weggestorben ist. So gründlich, dass er selbst auf der Trauerfeier nur noch verzweifelt sein konnte. Und hernach nie wieder eine Frau so nah an seine Gefühle heranlassen konnte.
Das gibt es. Das ist tragisch. Und doch – zumindest für Herrn Rudi – ist es auch tröstlich, weil er sich seine Livi doch bewahrt hat: Als quirligen, unruhigen Geist, der ihn immer begleitet hat, sodass er nie wirklich richtig einsam war. Und auch nie völlig verzweifelt. Was nicht heißt, dass man als Leser nicht auch traurig ist an dieser Stelle. Und an anderen auch.
Sie sehen ja: Der Stil färbt ab. Aber er ist auch zu schön zum Lesen. Denn so erzählt Anna Herzig ja auch: in lauter kleinen Szenen. So, wie das Leben wirklich ist. Man erlebt nie alles am Stück, sondern hübsch in Portionen. Szene für Szene. Eins nach dem anderen und kunterbunt durcheinander, wenn sich die Erinnerung dazwischenschaltet. Oder ein Dialog mit der Livi im Kopf oder im Zimmer. Schon das tröstet: Dass einer den Menschen, den er wirklich ganz geliebt hat, nicht vergisst.
Der andere, den er an sich herangelassen hat – wenigstens als Freund – das ist Fritz, Vater von drei Kindern und immer mal wieder mit neuen Frauen zusammen. Eigentlich einer, den Herr Rudi mal vor 30 Jahren aus Berufsgründen besucht hat. In einer dieser scheußlichen Situationen, in denen auch alleinerziehende Väter mal landen, wenn sie die 100 Bälle, die sie jeden Tag balancieren müssen, nicht mehr im Griff haben und alle runterplauzen. Auch der mit den Zahlungsaufforderungen. Da hat Herr Rudi einmal geholfen, obwohl er das als Gerichtsvollzieher eigentlich nicht darf. Und einen Freund fürs Leben bekommen.
Einen, den er auch am letzten Tag noch anrufen kann aus seinem Hotelzimmer, wo er mit Hexenschuss, Blaubeeren und einer schlechten Nachricht gelandet ist. Die schlechte Nachricht hat ihm sein Arzt gegeben. Mit der dringenden Aufforderung, eine Therapie zu beginnen. Aber vor der fürchtet sich Herr Rudi noch viel mehr als vor der Entscheidung, einfach Schluss zu machen.
Eine hätte ihn vielleicht davor bewahren können, wenn sie seine schüchterne Annäherung nicht falsch ausgelegt hätte. Manche Frauen merken es nicht mal, wenn es einer ehrlich meint, aber schüchtern ist. Und vorsichtig. Weil man ja in einer Welt lebt, in der andere Männer schon zu viele schlechte Beispiele gegeben haben.
Deswegen kommt sie auch nicht zu seiner Abschiedsfeier.
Und deswegen ist nur Fritz am Telefon, als Herr Rudi ihm sagt, dass er krank ist. Und das, was man auch Freunden nur sagt, wenn man es hinterher nicht mehr zurücknehmen muss.
Am Ende muss Fritz – der doch so eine Höhenangst hat – mit der Asche von Herrn Rudi auf den Berg. Da ist dann der Leser schon ganz weichgekocht, weiß mehr über Herrn Rudi und seine so menschlichen Gedanken, als über sich selbst. Und findet natürlich, dass das nach den Blaubeeren und der einfühlsamen Frau, die Herr Rudi sich für 900 Euro in die Badewanne eingeladen hat, ein bisschen schnell zu Ende ist. Dass dieser Herr Rudi eigentlich noch ein paar mehr Seiten verdient hätte, so freundlich über das Da-Sein nachzudenken.
Aber wir wussten es ja von Anfang an, dass ihn das nicht gereizt hätte. Dass ihn das da draußen nicht mehr aufregt und er eigentlich lieber bei Livi wäre. Auch wenn sie – er ist ja nicht dumm – nicht mehr da ist. Und weil sonst nicht viel passiert und das eigentlich eine sehr leise Geschichte ohne Verwicklungen, Drama und Happy End ist, ist es eine der intensivsten Geschichten, die in letzter Zeit als Buch veröffentlicht wurden. Auftritt: Herr Rudi – bitteschön. Abgang: Herr Rudi.
Das Leben kann so kurz sein.
Den letzten Satz übernehme ich vom Verlag, weil man es knapper kaum sagen kann: „Anna Herzig entfaltet die brutale Wucht der Trauer nach dem Verlust eines geliebten Menschen, ohne dabei den hartnäckigen Charme des Lebens zu missachten. Die Geschichte eines lebenslangen Requiems auf die große Liebe und die Bedeutung von besten Freunden, erzählt in einer derben wie herzerwärmenden Manier.“
Obwohl: derb fand ich das nicht. Eher so nüchtern, wie man mit Gefühlen meist umgeht, wenn sie einem zu heftig werden. Wie im richtigen Leben eben.
Leipzig bekommt doch noch ein kleines Lesefest
Anna Herzig Herr Rudi, Voland & Quist, Berlin, Dresden und Leipzig 2020, 18 Euro.
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